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Oma Lenchens Besuch
Die Haare waren akkurat zu einem Dutt geknotet, den Hals zierte eine Perlenkette, während die flinken Augen im faltigen Gesicht hellwach zwischen den Töpfen und Pfannen hin und her huschten.
Oma Lenchen war in ihrem Element. Sie liebte es, ihrer Familie ein Festmahl zu bereiten. Und noch aufregender wurden die Vorbereitungen, wenn sich Besuch angekündigt hatte. Omas Bruder, Onkel Willem und Tante Guste wurden erwartet, begleitet von der unverheirateten Schwester. Zusammen mit der eigenen großen Familie, dem Bauern, seiner Frau sowie den sechs Kindern ergab das eine große Gesellschaft, die nicht nur mit nahrhaften, sondern auch mit wohlschmeckenden Speisen versorgt sein wollte. Die großen Krüge mit Bier und der für den Abschluss des Mahls unerlässliche Aquavit waren im Kühlkeller unter den Fliesen der Küche kalt gestellt.
Lenchen wischte sich die Hände an der großen Schürze ab, die ihr gutes Kleid vor Spritzern schützte und sah aus dem kleinen Fenster über die weiten saftigen Wiesen.
„Mein Gott, sie kommen schon“, entfuhr es erschrocken ihrem Mund, als sie am Horizont den Zweispänner ihres Bruders gewahrte, der am kleinen Knick die Brücke über den Siel querte.
Es war einer der großen Vorteile in den Kögen dieser Dithmarscher Landschaft, dass man schon von weitem sah, welcher Besuch sich dem Haus näherte. Waren die Gäste zum Kaffee geladen, wurde das Gebräu genau zu jenem Zeitpunkt aufgesetzt, zu dem der Besuch die Brücke überquerte, um dann frisch gebrüht auf dem Tisch zu stehen, wenn die Eingeladenen den Hof erreicht hatten.
Oma Lenchen nahm den großen Holzlöffel zur Hand, rührte noch einmal im großen Topf, in dem das Kirschkompott für die Nachspeise vor sich hin blubberte und schleckte dann das Holz ab. Sie nickte sich selbst anerkennend zu. Konsistenz und Süße stimmten.
Mit knappen Worten dirigierte sie ihre zwei in der Küche helfenden Enkelinnen, um noch einen schnellen Blick über die Marsch zu werfen.
Sie erstarrte, schloss kurz die Augen, um mit dem zweiten Blick festzustellen, dass sie keiner Täuschung erlegen war. In gebührendem Abstand folgte dem verwandtschaftlichen Zweispänner jetzt ein Einspänner mit zwei Personen. Unzweifelhaft handelte es sich um den Doktor und seine Frau.
Wie erstarrt verharrte Lenchen. Niemand hatte ihr berichtet, dass weitere Besucher erwartet wurden.
Sicher, Fisch, Fleisch, Gemüse und Kartoffeln waren reichlich zubereitet, ebenso litt es am Kuchen nach dem Essen kein Mangel. Aber Suppe und Nachtisch würden nicht ausreichen.
„Schnell“, wies sie ihre große Enkeltochter an, „schütte noch flink ein Maß warmes Wasser in den Topf mit der Hochzeitssuppe. Wir werden mehr Gäste als erwartet bekommen.“
Aber was sollte mit der Nachspeise geschehen? Es war unmöglich, in der knappen Zeit mehr Kirschen zu pflücken.
Da fiel Omas Blick auf einen Korb mit Himbeeren, der jungfräulich in einer Küchenecke auf die weitere Verwendung wartete. Rasch griff sie zu den Früchten, wusch sie und warf diese zum Kirschkompott hinzu.
Aus dem Hintergrund vernahm sie einen Entsetzensschrei: „Oma!!! Was machst du mit den Kirschen?“
Lenchen füllte Zucker nach und rührte mit Leibeskräften im großen Topf herum. Himbeeren und Kirschen – diese Kombination hatte noch keiner zusammen gekocht.
Obwohl sie bemüht war, den angstvoll dreinblickenden Mädchen gegenüber Ruhe auszustrahlen, war sie innerlich mehr als aufgeregt. Bisher hatte noch kein Gast Klage über die gute Küche des Hauses geführt. Ganz im Gegenteil war ein jeder voll des Lobes über Lenchens bodenständige Küche. Und Experimente mit neuen Speisen schätzte niemand.
Rasch warf Oma einen Blick zum Fenster hinaus um festzustellen, wie weit sich die beiden Gespanne bereits dem Hof genährt hatten, als ihr Herz stockte.
Oh Gott! Jetzt war ein drittes Fuhrwerk zu erkennen. Es handelte sich zweifelsohne um die Kutsche des Pastors, der von seiner Frau begleitet wurde und hinter den anderen zwei Fahrzeugen hinterher eilte.
Ausgerechnet Frau Pastor, die für ihre kritische Prüfung im ganzen Kirchspiel bekannt war. Von der Schande, als Besuch auf dem Hof bei Oma Lenchen nicht satt geworden zu sein, würden noch spätere Generationen zu erzählen wissen.
„Rasch, Marie, noch ein Maß Wasser in die Suppe“, gab sie ihrer Enkelin Anweisung, um sogleich anzufügen: „Und tu noch eine Handvoll Salz hinzu sowie eine gehörige Portion Pfeffer, damit die Suppe nicht zu dünn wird.“ Im Umdrehen warf sie noch über die Schulter zurück: „Außerdem kannst du noch schnell ein halbes Dutzend Eier in die Bouillon werfen. Wenn die in der heißen Brühe flocken, fällt es nicht auf, dass die Suppe sonst zu dünn wäre.“
Aber was sollte nun mit der Nachspeise geschehen? Omas Blick fiel auf die Schüssel mit geputzten Johannisbeeren, die Marie gestern im Garten gepflückt hatte. Kurz entschlossen schüttete sie den Inhalt in ihren großen Topf, in dem bereits Kirschen und Himbeeren friedlich vereint vor sich hin brodelten. Noch etwas Zucker – und nun sollte die Menge auch für hungrige Pastorenmägen ausreichend sein.
Lenchen nahm einen weiteren Ring vom Herd, damit der Topf mit den kochenden Früchten mehr Hitze abbekam. Ihr Gesicht war vor Eifer fast genauso rot wie der Inhalt des Pottes. Sie rührte, schmeckte ab, rührte erneut, murmelte sich selbst eine leise Anerkennung zu, und naschte noch ein Mal.
Wenn jetzt bloß nicht noch.... Aber nicht immer werden Stoßgebete erhört.
Sie wagte kaum aus ihrem kleinen Fenster in Richtung Brücke zu sehen. Es war keine Sinnestäuschung... soeben bog ein viertes Fahrzeug um den kleinen Knick, rollte über die Brücke und schwenkte auf den Weg Richtung Hof ein.
Nun war Oma alles egal. Mit einem Stoßseufzer nahm sie die große Schüssel mit Erdbeeren, die für den Kuchen am Sonntag gedacht waren und fügte die Früchte ihrem großen Topf hinzu.
Kirschen, Himbeeren, Johannisbeeren und Erdbeeren in einem Kompott. Das konnte nicht gut gehen.
Lenchen warf die Hände in die Luft als wollte sie ein Gebet sprechen. Nun war es ohnehin aus. Bitte, wenn der Herrgott es so wollte, dann würden die Gäste zu diesem Kompott auch noch frische Sahne essen müssen. Genau. Sie würden den Mischkompott in süßer Sahne ertränken. Davon sollte auch Frau Pastor satt werden.
„Na, Mutter, wie weit sind deine Leckereien gediehen?“
Oma Lenchen fuhr erschrocken zusammen, als sie die tiefe Bassstimme des Bauern hinter ihrem Rücken vernahm. Ihr Sohn, ein bei den Frauen in der Küche gefürchteter Pottkieker, sah ihr über die Schulter.
Er sah schmuck aus, der Herr auf dem Hof. Sein rundes rotes Gesicht, die rotblonden schon etwas dünner werdenden Haare, der festliche schwarze Anzug mit der Weste, die sich über seinen wohlgenährten Wanst spannte. Die silberne Uhrenkette vor seinem Bauch verlieh ihm die für den Hausherrn unerlässliche Würde.
„Warum hat mir niemand erzählt, dass wir so viel Besuch bekommen?“, klagte sie ihren Sohn an. „Sieh dir einmal unsere Nachspeise an. Das sollte Kirschkompott werden. Nun ist alles in Grütze...“
„Aber, Mutter“, vernahm sie das dröhnende Lachen des Bauern, „wenn es alles rot ist, dann gibt es eben Rote Grütze zum Nachtisch.“
Dann nahm er seine Mutter in den Arm und gab ihr zur Geburt der Roten Grütze einen zarten Kuss auf die Stirn.