Oma ist da
Als ich an diesem wundervoll sonnigen Tag die Haustüre aufmachte, sah ich sie zum ersten Mal. Sie sah nicht besonders schick oder modern gekleidet aus. Aber auch nicht hässlich. Dennoch hatte sie etwas Besonderes an sich. Und das Besondere sorgte dafür, dass ich ihr mit den Augen hinterher schaute, auch als sie schon längst um die nächste Straßenecke gebogen war. Vorerst schenkte ich ihr keine Bemerkung, denn vor mir lag ein gewohnt langweiliger Tag in der Schule. Nach zwei Stunden Mathe, Deutsch, Englisch, Geschichte und Physik hatte ich es jedoch endlich geschafft und schlenderte langsam nach Hause. Als ich die Haustür aufschloss, sah ich sie schon wieder. Sie sah immer noch so aus, wie am Morgen. Wieder beobachtete ich sie. Sie stieg die Treppe hinauf. Ganz normal, wie alte Leute das nun mal tun. Langsam schlich ich ihr hinterher und beobachtete wie sie zu einer Wohnung wackelte. Wahrscheinlich wohnte sie dort. Ich hatte sie aber noch nie zuvor in unserem Haus gesehen und ich wohnte schon seit 15 Jahren hier. Ich wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann ging ich zu hin, um das Klingelschild zu lesen. Winkler, stand in großen, alten aber dennoch gut lesbaren Buchstaben darauf. Mir fiel niemand ein, der so hieß. Zuerst wollte ich klingeln, ließ es aber doch wieder, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Als ich unsere kleine Wohnung betrat, wartete Mama schon mit dem Essen. Ich erwähnte die alte Dame lieber nicht, sonst macht sich Mama nur wieder Sorgen. Der mütterliche Teil meiner Familie machte sich grundsätzlich immer Sorgen. Den väterlichen Teil meiner Familie kannte ich nicht. Mein Papa war kurz nach meiner Geburt zu seiner neuen Freundin gezogen und über seine Familie wurde auch nicht geredet. Ich versuchte die Frau aus meinen Gedanken zu verdrängen, das gelang mir jedoch nicht, also brauchte nun einen Plan, um in ihre Wohnung zu kommen. Einbruch? Niemals! Wenn schon, dann auf ehrliche Weiße, aber unbedingt mit einem Geschenk. Alte Leute freuen sich immer über Geschenke. Vielleicht Blumen? Oder Pralinen? Am besten beides. Nach dem Essen ging ich gleich los um etwas Passendes zu finden. Gleich im ersten Laden wurde ich fündig. Es war eine alte Vase. Sie war blau angemalt und hatte rote Punkte. Sie sah so hässlich aus, dass sie der alten Frau einfach gefallen musste. Für 8,50 Euro kaufte ich sie und ließ sie mir auch gleich noch in einem lila Geschenkpapier einpacken. Vorsichtig trug ich sie nach Hause und wollte sie der neuen Besitzerin gleich vorbeibringen. Allerdings begegnete ich im Treppenhaus meiner Mama. Sie fragte mich, wo ich solange gewesen sei. Natürlich log ich, denn sie hätte es sicher nicht gern gehabt, wenn ich einer alten Frau eine hässliche Vase schenken würde. Also sagte ich, ich war bei Tante Frieda. Mama mochte ihre Schwester nicht besonders, deshalb würde sie sie auch nicht anrufen, um zu fragen, ob ich wirklich dort war. Sie gab sich also damit zufrieden und ging einkaufen, während ich zu Frau Winklers Tür ging und klingelte. Zuerst kurz. Niemand öffnete. Dann nochmal, diesmal länger. Wieder öffnete niemand. Ich ging in meine Wohnung, um es später noch einmal zu versuchen.
Nachdem ich mir zwei Stunden irgendwelche Sendungen im Fernsehen angeschaut hatte, verließ ich meine Wohnung wieder um zu Frau Winkler zu gehen. Diesmal reagierte sie auf mein klingeln und öffnete die Tür. „Guten Tag! Mein Name ist …“, weiter konnte ich gar nicht sprechen, denn sie hielt mir schon die Tür auf und sagte „Komm herein“ Ich war noch nie mit einem fremden Menschen in eine fremde Wohnung gegangen, doch was sollte eine alte Frau mit mir vorhaben. Andererseits hatte ich nun das Märchen von Hänsel und Gretel im Kopf, verdrängte es jedoch. Ich überreichte ihr mein Geschenk. Sie packte es noch vor der Wohnung aus und bekam ganz große Augen. Sie schien sich zu freuen. Endlich trat ich in die Wohnung ein. Es roch gut. Nach Marzipan. Sie bot mir Tee und Plätzchen an. Den Tee nahm ich nicht an, dafür aber die Plätzchen. Zuerst saß ich einfach nur still da, doch dann begann sie langsam ein Gespräch. Und schließlich redeten wir über allerhand Dinge. Das Wetter, Regenbogen und ihren Katzen. Sie erzählte mir den ganzen Nachmittag Geschichten, von früher, von heute und von ihrem Sohn. Als es schließlich schon zu dämmern begann, ging ich wieder nach Hause, wahrscheinlich machte Mama sich schon wieder Sorgen. Trotzdem war es ein wunderbarer Nachmittag.
Von diesem Tag an ging ich jeden Tag zu ihr. Ich vertraute ihr, erzählte ihr von meinen Problemen und sie erzählte mir von ihren. Doch als ich am heutigen Tag zu ihr ging und klingelte, öffnete nicht sie die Tür, sondern ein Mann in Uniform, ein Polizist. Ich fragte ihn, was los sei. Zuerst sagte er, er dürfe darüber keine Auskunft geben, da ich nicht zur Familie gehöre. Schließlich erzählte er mir doch, dass die alte Frau vor drei Stunden im Krankenhaus verstarb. Diese Nachricht traf mich wie ein Fels, der auf meinen Kopf fiel. Wem sollte ich denn nun vertrauen. Gestern ging es ihr noch gut, wir hatten geredet und ganz normal gesprochen, wie immer. Der Polizist meinte, sie wäre an Herzversagen gestorben. Ihre Putzfrau hätte sie gefunden. Er informierte mich auch darüber, dass drei Tage später die Beerdigung stattfinden sollte. Ich ging natürlich hin. Mama auch. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, ehe der etwas rundliche Pfarrer vor den Sarg trat und einen Text vorlas. Eine Träne kullerte mir über das Gesicht. Der Mann vor uns wischte sich ebenfalls über das Gesicht und drehte sich um. Mamas Gesicht sah entsetzt aus. „Marcus?! Was machst du denn hier?“ fragte sie ihn leise. „Cordula? Ich war ihr Sohn. Aber du? Woher kennst du sie denn“, antwortete er. „Ich persönlich kannte sie gar nicht. Er hat sie gekannt“, sagte sie und zeigte unauffällig auf mich. Das war also ihr Sohn. Sie hatte so viel von ihm erzählt, dennoch hatte ich ihn mir ganz anders vorgestellt. Und das Mama ihn auch kannte, verwundete mich ein wenig. „Mama wer ist das?“, fragte ich sie. Sie zögerte, dann deutete sie mit dem Finger auf mich, auf den Mann und auf sich selbst. Sie wollte mir sagen, dass wir hinausgehen sollten. Ich nickte. Mama tippte den Mann und meinte, er solle mitkommen. Zu dritt gingen wir nun also nach draußen. „Das ist dein Vater“, sagte Mama draußen mit einem verächtlichen zittern in der Stimme. Mein Vater? Das heißt ja, Frau Winkler war meine Oma? Deshalb hatte ich ihr also so sehr vertraut. Ob sie es wusste?