Oma Frieda zu Besuch in Erfurt?
Unsere Oma Frieda ist sehr speziell. Niemand würde ihr wahres Alter erraten- sie sieht mindestens 10 Jahre jünger aus und sie ist richtig fit- was sie aber nicht zugibt. Wenn man ihren Erzählungen Glauben schenken kann, dann wäre sie eigentlich schon vor sechzig Jahren an Herzversagen oder vor vierzig Jahren an Krebs gestorben. Wenn man allerdings weiß wie alt sie ist und dann erlebt, wie sie den Haushalt schmeißt und wie sie geschmeidig durch die Stadt fegt, dann könnte man glauben, dass sie nie sterben wird- jedenfalls nicht eines natürlichen Todes.
Die Oma hat immer etwas zu erzählen- von vor vierzig Jahren oder früher- und wenn sie einmal angefangen hat, dann hört sie auch nicht so schnell wieder auf. Das war für uns, vom Tagesgeschäft gestresste und vom Lärm der Großstadt genervte Erfurter, nicht die Form von Freizeitbeschäftigung die wir uns vorstellten. Natürlich besuchten wir unsere Oma trotzdem regelmäßig und sie freute sich immer riesig darüber. Gelegentlich kam bei diesen Besuchen auch das Thema Gegenbesuch zur Sprache- ob die Oma uns mal besuchen könnte- was sie jedoch stets mit den verschiedensten Begründungen abwehrte.
Bei unserem letzten Besuch war die Oma anders drauf als sonst. Sie beklagte sich wie immer, dass wir nicht oft zu ihr kommen würden und dass sie unsere neue Wohnung noch nicht gesehen hatte. Zu unserer Überraschung verkündete sie dann beim Kaffeetrinken: „Ich muss euch doch endlich mal in Erfurt besuchen!“ Es wurde ganz still am Tisch. Niemand antwortete. Meine Schwiegereltern malten sich wahrscheinlich gerade die Konsequenzen aus. Mir war sofort klar, das meint sie dieses Mal ernst und ich wusste, hier musst du schnell eingreifen. Wenn die den Dreh wirklich rauskriegt wie sie zu uns kommt, dann steht sie jede Woche bei uns auf der Matte und erzählt von Krieg und Hungersnot. Prinzipiell ist ja nichts gegen einen Ausflug in die deutsche Geschichte und authentische Berichte von Zeitzeugen einzuwenden- aber bitte nicht in der Form des Vortrages unserer Oma.
Also sagte ich: „Das ist ja toll Oma- ich erkläre dir am besten gleich mal, wie du das machen kannst.“ Alle Anwesenden- außer Oma- blickten mich erstaunt und oder entsetzt an. Ich bekam einen Stoß in die Seite und unter dem Tisch einen Tritt vors Schienbein- Oma strahlte.
Ich begann: „Also Oma, du fährst mit dem Zug. Das ist am einfachsten. Zuerst kaufst du am Fahrkartenautomaten eine Fahrkarte. Dabei musst du darauf achten, dass du den richtigen Zugtyp eingibst. Es gibt RB, RE, IC, und ICE- für manche Züge muss man Zuschläge zahlen- sonst wird im Zug eine Strafe fällig. Die Menüführung ist selbsterklärend.“ „Aha, Führung, selbsterklärend“, murmelte Oma hoffnungsvoll.
Ich fuhr fort: „Dann gehst du auf den Bahnsteig, natürlich auf den richtigen, da du sonst in die falsche Richtung fährst. Falls du aus Versehen in die falsche Richtung fahren solltest, dann ist das kein Problem- du steigst beim nächsten Halt des Zuges aus und fährst mit dem nächsten entgegenkommenden Zug wieder in die richtige Richtung.“ „Ach so, hmm“, sagte die Oma.
Ich fuhr fort: „Wenn du am Samstag oder Sonntag fährst, dann solltest du die Wagons meiden, in denen sich Fußballfans befinden. Deren Gesänge und Gegröle hörst du schon von weitem. Am schlimmsten sind die Hooligans, die sind meistens besoffen und randalieren- Bierflaschen werfen, Sitze aufschlitzen und solche Sachen.“ „Oh je die Hulligäns- das kenne ich aus dem Fernsehen“, sagte die Oma und sah nachdenklich aus.
Ich fuhr fort: „Wenn du dann in einem ruhigen Abteil sitzt, so schau dich bitte um, wer sich sonst noch in dem Abteil befindet. Sind Ausländer da, dann lass dein Gepäck nicht aus den Augen und achte auf Armbanduhr und Portemonnaie.“ „Ja ja“, sagte die Oma, „das weiß ich doch, wir haben hier ein Asylheim- das werden immer mehr Ausländer und die klauen doch so viel in den Läden- besonders die Kinder- das geht doch nicht“. „Ach Oma, so schlimm ist das nicht“, sagte ich. „Richtig interessant wird es erst, wenn zu den Ausländern noch Neonazis in’ s Abteil kommen. Dann musst du sofort verschwinden- eine Konfrontation zwischen den Ausländern und den Neonazis ist vorprogrammiert.“ Oma sah nun etwas ratlos aus.
Ich fuhr fort: „Wenn du endlich in Erfurt angekommen bist, dann nimmst du am besten die Straßenbahn, um zu uns zu kommen. Eine Haltestelle befindet sich in der Unterführung am Bahnhof. Pass dort bitte auf die rücksichtslosen Radfahrer auf, die wie aus dem Nichts angeschossen kommen und die Leute über den Haufen fahren. Gib den Bettlern die da herum sitzen kein Geld- die versaufen es sowieso nur. Wenn dich jemand anspricht und sagt er sammelt für die „Aktion Sorgenpunk“, dann vergiss nicht, das sind meistens drogensüchtige Punks die dich nur anschnorren wollen, die haben alle möglichen Krankheiten und keine Lust zu arbeiten.“ „Nee nee, die Banks, die kriegen keinen Cent von mir- die sollen arbeiten gehen“, rief die Oma- sie war jetzt richtig aufgeregt.
Ich fuhr fort: „Wenn du an der Straßenbahnhaltestelle bist, dann kannst du am Fahrscheinautomaten eine Fahrkarte kaufen- die Automaten sind leicht zu bedienen- super Menüführung, selbsterklärend.“ „Aha, selbst e r k l ä r e n d“, sagte die Oma. Ich fuhr fort: „Pass dabei bitte auf, dass dir niemand das Portemonnaie aus der Hand reißt- das ist eine übliche Masche von Dieben an Bahnhöfen“. „Oh je“, stöhnte die Oma und schüttelte den Kopf. „Wenn du dann in die Straßenbahn eingestiegen bist, dann musst du dich sofort zum Fahrkartenentwerter durchkämpfen und die Fahrkarte stempeln- sonst sind siebzig Euro für schwarzfahren fällig“, fügte ich hinzu. „So Oma, solltest du nun tatsächlich in die richtige Richtung fahren, dann bist du schon nach drei Stationen bei uns, wenn du aber in die falsche Richtung fährst, dann machst du eben mal eine kleine Stadtrundfahrt“. „Denk bitte daran, den Türöffner zu betätigen, wenn du aus der Straßenbahn aussteigen willst, sonst geht die Tür nicht auf und du fährst weiter!“
An dieser Stelle sei erwähnt, dass unsere Oma auf ihre Art Hundeliebhaberin ist- ohne jemals einen Hund besessen zu haben. Sie liebt es Geschichten zu erzählen, in denen es um Hunde geht und wie sie auch die gefährlichsten Köter gebändigt hatte. Also wollte ich auch dieses Thema nicht unerwähnt lassen.
„So Oma, von der Straßenbahnhaltestelle „Museum“ sind es noch zwei Minuten Fußweg bis zu uns.“ „Das ist ja kein Problem für dich.“ „Allerdings solltest du wissen, dass es in unserer Stadt sehr viele Hunde gibt.“ „Oh, das ist aber schön“, rief Oma sichtlich erfreut. Ich fuhr gnadenlos fort: „Oma, das sind aber keine normalen Hunde, wie du sie von hier kennst- sondern meistens Kampfhunde- die darfst du nicht einfach mal so streicheln- die schnappen sofort zu!“ „Hm, Kampfhunde, mit wem sollen die denn kämpfen?“, fragte die Oma. Sie sah jetzt sehr nachdenklich aus und ein wenig irritiert.
Deshalb versuchte ich sie zu beruhigen. „Also Oma, du siehst, es ist überhaupt kein Problem zu uns zu kommen- mach alles so wie ich es gesagt habe- wir freuen uns jedenfalls auf deinen Besuch!“, flunkerte ich. „Oh oh oh“, murmelte die Oma und wirkte jetzt richtig verzweifelt. „Das hört sich ja alles ganz schön kompliziert an- wie war das noch mal mit den Ausländern und ihren Kampfhunden?“
Das war dann auch ihre letzte Frage zu dem Thema.
Seitdem hat sie nie wieder nachgefragt und uns leider bis heute noch nicht besucht!