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Oma - der Löwe (1)
Hätte Oma gewusst, dass sie zwischen einem Pastor und einer Bankerfamilie in der vordersten Reihe auf dem Friedhof beerdigt wird, sie hätte protestiert und um ein unscheinbares Plätzchen versteckt hinter einer Hecke gebeten. Oma war es unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen, denn sie hielt sich für unbedeutend.
Dabei war sie der bedeutendste Mensch in meinem Leben. Als sie, begraben unter all den bunten Sommerblumen, zu ihrer letzten Ruhestatt getragen wurde, war mir das noch nicht bewusst. Da fühlte ich nur den Schmerz, dass sie nun nicht mehr unter uns weilte und zugleich Trost, dass sie von ihrem Gebrechen erlöst worden war.
Die letzten Monate hatte Oma nur noch gelegen, war in den Zustand eines Kleinkindes zurückgefallen, das niemanden mehr erkannte. Sie wurde gefüttert und gewindelt.
Ich erinnere mich noch an ihr schmerzvolles Jammern, als die Pflegerin sie auf die Seite drehte, um ihren Rücken zu waschen. Oma war wundgelegen und ich fühlte mich hilflos.
Dieser Plüschlöwe, der, der immer auf der obersten Kante der Couch gesessen hatte und den ich als Kind nie zum Spielen nehmen durfte, weil Oma ihn hütete wie einen Schatz, mit dem brachte ich sie nun zum Kichern. Ich hatte ihr mit der weichen Schwanzquaste des Löwen die Wangen gekitzelt. Oma, die sonst alles zuließ, sich in ihrer nachgiebigen Weichheit alles abfordern ließ, blieb konsequent. Der Löwe war tabu. Ich begehrte diesen Plüschlöwen mit seiner verwegenen krausen Mähne und den ausdrucksvollen dunklen Augen. Zu gerne hätte ich ihn in meine Arme geschlossen und mit mir herumgetragen, wenigstens nur so lange, wie ich bei Oma zu Besuch war. Ob wohl meine Liebe zu Raubkatzen da ihren Ursprung nahm? In dieser ungestillten Sehnsucht nach diesem Löwen? Wer weiß schon, welche Begebenheiten ein Kind prägen.
Im Laufe der Jahre verlor sich meine kindliche Sehnsucht nach diesem Löwen. Gewiss, mir wäre aufgefallen, wenn er nicht mehr auf der Couch gesessen hätte, aber ich wollte ihn nicht mehr besitzen. Er wurde mit der Zeit mit dem Rauch aus Opas Pfeife und Zigarren verschmaucht und sein Plüschfell begann zu altern. Die Nähte wurden mürbe, so dass man hie und da schon Stellen erkennen konnte, aus denen die sägemehlartige Füllung hervorlugte.
Er verfiel zusammen mit Oma.
Am Ende ihres Lebens war er das Bindeglied zwischen ihr und mir. Sie erkannte mich nicht mehr, wahrscheinlich auch ihren Löwen nicht. Aber sie betrachtete mit interessierten Augen, wie dieser Löwe in kleinen Sprüngen über das Bett auf ihr Gesicht zu hüpfte und ihre faltige Hand griff ungelenk nach ihm. Ihre Gesichtszüge zeigten kindliche Freude.
Das war die letzte Erinnerung an Oma und ich fühle mich dankbar dafür.