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Oktopus
Im Haus ist es lähmend still. Diese immer noch ungewohnte Stille breitet sich über die langen Tage aus, schiebt sich auch unter verschlossenen Türen hindurch in jedes Zimmer, in jeden Raum. Dann steigt sie höher, über die Möbel, über die Lampen, bis sie endlich ganz oben angekommen ist, direkt unter der Zimmerdecke. Der Wohnungsinsasse sitzt fest, denn das ist die eigentliche Schweinerei bei der Sache: Nachdem die Stille auch den allerletzten Winkel ausgefüllt hat, unten, oben, an den Seiten, nimmt sie trotzdem noch zu. Ungefähr so, wie ein flüssiger Tortenguss beim Erkalten durch das Wirken der Gelatine erst dickflüssig und dann fest wird, so wird auch sie dichter – dichter und unerträglich.
Der in der grauen Stille Gefangene versucht mit schlaffer Hand das TV einzuschalten, doch die Bilder kommen bei ihm nicht an. Er probiert es mit Musik der verschiedensten Stilrichtungen, doch selbst Joe Cocker kann ihn nicht mitreißen und auch sonst niemand oder irgendwas. Wie der Erstickende nach der letzten Luftblase schnappt, so greift er sich ein paar Geldscheine, wirft sich gegen die Haustür und fällt fast die Stufen zur Straße hinunter. Diesen plötzlichen Schub kann er sich selbst nicht erklären. Oder war es ein Sog?
Genauso ergeht es mir. Ich will, nein, ich muss unter Menschen.
Nach einer langen schönen Zeit war plötzlich Schluss. Meine Ehe war über Nacht ruiniert, mein Sohn ergatterte einen Studienplatz in Irland, die Selbstanzeige meines Arbeitgebers machte mich zum Arbeitslosen und mein Blutdruck schoss nach oben. Nach unten gingen Motivation, Selbstwertgefühl, Lebensfreude und Unternehmungsgeist. Ein feines Resultat!
Grund genug zur Verbitterung.
Aber geschenkt! Ich versuche einen normalen Gesichtsausdruck hinzukriegen, achte auf vernünftiges Essen und rase mit meinem Superfahrrad durch die Gegend, um nicht einzurosten. Und irgendwann wieder zurück nach Hause. Und rein ins Haus – durch Haustür und Flur - durch meine ‚Schleuse’.
Ein bescheuertes Wort, völlig klar – aber trotzdem oder gerade deshalb treffend: Sie trennt und verbindet die pulsierende Außenwelt und meine leere Innenwelt, wie die Schleusen Panamas Pazifik und Atlantik trennen – oder verbinden.
Ich jedenfalls habe die Schnauze voll vom Alleinsein.
Schon bin ich auf dem Weg ins Zentrum.
Menschenschwärme schwirren durch die Straßen, durch die Gassen mit den endlosen Reihen von Bistros, Cafés, Sushi- und Dönerbars, Bierschwemmen, Weinstuben, Eissalons, Brasserien und Restaurants. Hier werde ich sie treffen – die Heiteren, Entspannten, Sorglosen und Originellen. Hier verkehren sie. Hier sind die besten Voraussetzungen für nette Kontakte, fürs erste Kennenlernen, für einen harmlosen Flirt, für ein gutes Gespräch. Ich bin ganz aufgekratzt ob der ungeahnten Möglichkeiten und kann mich fast nicht für einen festen Punkt auf dieser animierenden Glitzermeile entscheiden. Ich muss fokussieren, doch dabei erkenne ich neben den einzelnen Personen auch deren Freunde oder Freundinnen, deren Geliebte oder Geliebten. Jedenfalls scheint mir jede kleine oder kleinste Gruppe wie von einem unsichtbaren, höchstens erahnbaren Seidenkokon umgeben. Dafür habe ich ein sehr feines Gespür. Keine Chance, dieses transparente Gespons zu durchdringen.
Jedes Pärchen, jeder Freundeskreis, egal wie klein oder groß, hat sich aufgemacht, um unter Menschen zu sein. Doch kaum haben sie Platz genommen, versiegeln sie ihre Persönlichkeiten nach außen, stecken die Köpfe zusammen und drehen der Welt den Rücken zu. So erscheint es mir jedenfalls. Ich spüre aufkommenden Frust.
Dass man mit Menschen, die allein sind, leichter ins Gespräch kommt, ist mir bekannt. Nur habe ich bei denen manchmal ein "schwieriges Gefühl", eine Ahnung, dass sie in Not sein könnten, denn wer allein ist, ist oft in Not, nicht immer nur in materieller. Oder gehe ich nur von mir, von meiner Situation aus?
Vielleicht müsste ich mir Unerfreuliches anhören, Problematisches – aber darauf habe ich wirklich keine Lust. Dafür hätte ich mein Zuhause nicht verlassen müssen.
Ich sollte etwas trinken, ja, leider allein. Ich probiere einen dieser neuen Cocktails. Eigentlich ganz lecker, jedoch eine Spur zu süß für meinen Geschmack.
Dann wechsle ich die Lokalität und bestelle ein Glas Chardonnay. Im Gedränge sehe ich einige Singles, doch ich fühle mich nicht zu ihnen hingezogen.
Weiter zum nächsten Lokal. Es heißt "Refugium" und lockt mit tausend Teelichten und Kerzen, mit einer wohltuenden, fast beschützenden Aura für den Einsamen, Verlassenen – und so hält es, was sein Name verspricht. Aber auch hier scheine ich fehl am Platze zu sein: Ich sehe nur Paare. In meiner Verlegenheit bestelle ich einen Gewürztraminer, zügig trinke ich aus und gehe.
Die Gasse steigt etwas an, die Lokale werden weniger. Meine kindischen Erwartungen haben sich nicht erfüllt, ich bin zerknirscht. Aufkommender Hunger zwingt meine Aufmerksamkeit jetzt in eine andere Richtung. Döner, Pizza, Gegrilltes, Asiatisches, Würstchen?
Die Antwort ist "Tapas"! Die kann ich schon durchs Fenster sehen. Rammelvoll ist der Laden. Hier pulsiert das Leben!
Jabugoschinken und jene mit den schwarzen Pfoten hängen dutzendweise von der mit der Lötlampe geflämmten Decke. In sympathischen braunen Steingutschüsseln präsentieren sich die hochgeschätzten Herrlichkeiten spanischer Esskultur. Sich hier zu entscheiden ist beinahe unmöglich und von allem zu probieren ebenfalls. Ich straffe mich und nehme ein paar Oliven, Artischockenherzen, Oktopus und eingelegte Anchovis. Dazu einen Weißen. Ich widerrufe – nein, es sollte ein Roter sein. Ja, ein Rioja.
"Crianza, Reserva, Gran Reserva?"
"Crianza tut’s für heute."
"Bin sofort bei Ihnen."
So esse ich mit Genuss. Es gibt rösches Brot dazu und es geht mir einigermaßen.
"Gestatten Sie?" höre ich schräg hinter mir eine Frauenstimme. Aber hinter mir ist doch gar kein Tisch! Ich fühle mich nicht angesprochen, dennoch drehe ich mich etwas zur Seite und schaue einer recht ansehnlichen Frau gerade und mitten in die Augen. Und der Dichter spricht: In ihre Augen zu schauen ist riskant, Du könntest erblinden! Oder törichte Dinge tun. Hupps macht die grüne Olive mit der Mandelfüllung, hupps macht auch mein Adamsapfel, hupps macht der ganze Kerl.
"Ich möchte nur meinen Teller abstellen und mein Glas. Das ist ja eine Enge hier! Aber wohl auch ein gutes Zeichen, denn es schmeckt wirklich prima.", entschuldigt sich diese überraschend aufgetauchte, ungemein attraktive Frau und nimmt noch ein Stück von ihrem Oktopus.
"Donnerwetter!“, entfährt es mir. "Oktopus für Ladies – das ist ungewöhnlich. Die wenigen Frauen, die ich kenne, fürchten sich vor diesem Tier."
"Na ja, die Optik ist ja auch bescheiden.", erwidert die sehr schöne Tapaversteherin an meiner Seite. "Ich mag seinen Biss, besonders wenn er so wie hier sauber geputzt ist."
Ich stehe im Lift nach oben, wo die rosa Wolken dräuen. Wahnsinnsmomente! Eine Superfrau, die Tapas mag, sogar am Oktopus nicht scheitert, mit äußerst angenehmer warmer Stimme und einem herrlichen Mund. Die Nase ist gerade, richtig proportioniert, große klare Augen in einer unbestimmten Farbe unter den feinen Bögen ihrer Brauen. Ich vermute, dass sich ihre Augenfarbe mit den Tages- und eben auch Nachtzeiten verändert, aber dass ihr sympathisches Wesen rund um die Uhr anhält. Ihre Haut hat einen leichten Sonnenschimmer. Ihr weicher, seidig glänzender Pullover in Beige lässt auf Geschmack schließen. Ich nehme einen Schluck und prompt verschlucke ich mich. Wie ein alter Kumpel klopft sie mir zwei-, dreimal auf den Rücken, nicht allzu kräftig, doch immerhin gut spürbar. "Ich weiß, dass man das heutzutage nicht mehr macht", sagt sie burschikos "aber es ist doch eine nette Geste, mit der man dem Anderen mitteilt: Tut mir leid, es wird schon wieder." Tatsächlich habe ich zu Ende gehustet und entschuldige mich. So kommen wir uns rasch näher.
Ein großartiger Abend bahnt sich an. Sie hat nach der Regel "Weißwein zu Meeresfrüchten" einen Verdejo im Glas, fragt aber bald nach meiner Beurteilung ihres Weißen, indem sie mir ihr Glas reicht. Im Zuge der Revanche lasse ich sie von meiner Crianza probieren und so kommen wir mächtig in Fahrt mit Spanien und seinen Weinen und der Welt, den Urlaubszielen, die man noch ansteuern möchte, den möglichen Perspektiven, die das Leben noch bieten könnte. Und es passiert, dass sich auch um uns dieser hauchfeine Kokon legt, den wir zwar so direkt nicht empfinden, doch in unserer rasendschnell aufkommenden Verbundenheit sphärisch spüren. Es schwebt ein Positivum über unserem Tischchen, eine herrliche Atmosphäre der unverhofften Glückseligkeit und des menschlichen Verstehens, feinziseliert und warmherzig.
Wir wollen ein zweites Glas zusammen trinken, vielleicht noch etwas Leckeres dazu picken und gehen gerade alle Wahlmöglichkeiten durch, als ihr Handy eine lustige Melodie herausschmettert und sie wohl oder übel abnehmen muss. Sie meldet sich, jetzt leicht aufgedreht, mit „Ja, Astrid hier". Sie hört zu und beginnt dann langsam zu versteinern. Sie sagt nichts mehr, ihr Mund ist leicht geöffnet im Schock. Ihr Gesicht drückt Ungläubigkeit aus, grenzenlose Fassungslosigkeit. Sie sagt mit gepresster Stimme: "Ich komme." und legt einen Geldschein neben ihren Teller. Sie schaut mich nicht an, sieht mit leeren Augen auf ihre Hände, die das Handy wegstecken und den Autoschlüssel herauskramen. Wie in einer schlimmen Hypnose bewegt sie sich zur Tür, unansprechbar, unaufhaltsam.