Mitglied
- Beitritt
- 03.09.2014
- Beiträge
- 5
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Okay
Wie ein Kanonenlager in weiter Ferne prasselten die Regentropfen gegen Charlys Fenster. Die Scheiben waren besprenkelt, draußen war es dunkel und eine Sicht über zwei bis drei Meter nicht möglich, sie konnte den Horizont nicht erkennen. Nicht, dass sie in dieser Stadt jemals den Horizont von ihrem Fenster aus gesehen hatte, die konnte genau auf das Nachbarhaus starren, nicht ein Sonnenstrahl hatte jeh ihren Schreibtisch unter dem Fenster berührt, nicht ein Windhauch hatte bei geöffnetem Fenster trotzig lose Blätter umhergeweht, ein Kabuff, aber es war schon in Ordnung.
Sich aus ihrem Bett zu erheben fiel ihr schwer, irgendwie taten ihr alle Knochen weh, als wäre sie am Tag zuvor einen Marathon gelaufen, ein unangenehmes Ziehen zog sich durch sämtliche Sehnen ihres Körpers. Tapfer unterdrückte sie unangebrachte Tränen, denn sie war nicht allein; das war vielleicht ihre Rettung, vielleicht ihr Untergang. Neben ihr, die Nacktheit nur durch einen Hauch von altem Alkoholgeruch und kaltem Zigarettenrauch verborgen lag Paul, ein Schriftsteller Schrägstrich Barkeeper und schnarchte seelenruhig vor sich hin.
Seine offensichtliche Ausgeglichenheit machte sie rasend, sie wusste nicht einmal warum, es war nicht seine Schuld, dass sie die Einbahnstraße trotz Verkehrsschild bis zum Ende hatte laufen wollen, dass sie unbedingt mit eigenen Sinnen erfahren musste, wie es sich anfühlte zu scheitern, wo sie doch den Notausgang hätte wählen können: Kleinfamilie, zwei Kinder, Reihenhaus, Kombi. Doch auch bei dieser Vorstellung wurde ihr speiübel. Was, wenn selbst der Plan A zu grauenvoll klingt, um es auch nur für 24 Stunden zu ertragen? Vierundzwanzig Stunden, so lange hatte ihre Verlobung mit Mark, einem mittelmäßig aussehenden Kaufmann, gedauert. Er hatte ihr all das bieten können, was sie niemals wollte, ihre Eltern ihr aber umso mehr gewünscht hätten: Sicherheit, uneingeschränkte Liebe (von einigen One-night-stands auf Geschäftsreisen abgesehen) ein triste Zukunft in einem Vorort.
Sie sah Pauls blasse Haut an, die zwischen den Rauchschwaden der letzten Nacht fast bläulich schimmerte. Er war weder nett, noch freundlich, noch hatte er etwas für sie übrig, das war keinesfalls eine Befürchtung, die sie sich immer und immer wieder einredete, um am Ende doch positiv überrascht zu werden, das hatte er ihr mehr als einmal deutlich gemacht. Er war genau wie sie, eine gescheiterte Existenz. Vielleicht war das der Grund, warum sie mit ihm vor der sicheren Zukunft mit Mark geflüchtet war, in eine dunkle große Stadt, in der sie vorhatte die Welt und wenn nicht sogar noch mehr zu erobern. Der naive Plan irgendwann etwas zu bewegen, zu verändern, ist mit jedem Gemälde, dass sie versuchte zu verkaufen mehr und mehr zerbröckelt. Und da lag er nun, zwischen schmutziger Wäsche, erkalteten Zigarettenstummeln und umgeschmissen Bierdosen. Sie kämpfte sich aus dem Bett heraus. Sie hatte abgenommen, seit sie mit Paul verkehrte – verkehren war das absolut richtige Wort, denn außer dem sehnlichen Wunsch, endlich hier raus zu kommen, endlich anfangen zu können mit...- ja mit was eigentlich? Leben? – verband sie rein gar nichts – und ihre düstere Aura hatte sich mehr und mehr zu einem Image gewandelt. Wenn die Leute über sie sprachen, verwendeten sie Adjektive wie „mysteriös“ oder „undurchdringlich“. Sie war ein bildhübsches Mädchen gewesen, als sie noch zur Schule gegangen war, sie war die, nach der sich alle Männer sehnten und mit der jeder gern befreundet war, weil sie zu jedem freundlich war. Das hatte sich gewandelt.
Nachdem sie mit dem Looser Mark ein Drittel ihres Lebens verschwendet hatte, in einer Wohnung mit Einbauküche und Untersetzern, hatte sie erkannt, dass ihr das Hausfrauenimage nicht bekam. Sie wurde gelangweilt und traurig und schmachtete einem Talent nach, von dessen Existenz sie sich nicht einmal überzeugt war; sie malte, zog in diese Bruchbude, schloss sich einige Wochen ein und fabrizierte im Rausch der Öl- und Acrylfarben, der Kohlestifte und der Wasserfarben ein Werk nach dem anderen. Leider hatte Charlie feststellen müssen, dass sie kein Talent hatte, kein Galerist ihre Bilder ausstellen wollte und demnach hatte sie eine radikalte Veränderung herausgefordert: Das Haar trug sie nun nicht mehr blond, sondern schokoladenbraun und an den Seiten kurz geschnitten, in die Stirn fiel ihr müde ein ausgewachsener Ponny, auf dem linken Schulterblatt prangte in kursiver verschnörkelter Schrift „Die Malerei ist stumme Poesie, die Poesie stumme Malerei“ und sie hatte keine Ahnung, was der gute Da Vinci damit zum Ausdruck bringen wollte, aber es stand ihr ganz gut, es wirkte auf ihrem knochigen Rücken fast anrüchig. Sie ging zum Fenster um die Vorhänge zu zuziehen, heute hatte sie keine Lust auf Welt, und da Paul nun mal ein Teil dieser war, wollte sie ihn schnellstmöglich loswerden. Sie zog sich ein altes Unisweatshirt an, aus Zeiten, in denen sie mit englischer Literatur unterm Arm lachend über den Laubbedeckten Campus gelaufen war, und stuppste ihren Liebhaber unsanft mit ihrem nackten Fuß an, um ihn aufzuwecken und wegzuschicken und endlich, endlich ihre Ruhe zu haben. Obwohl sie sich dieser Ironie bewusst war – denn seit einigen Tagen war Paul ihr einziger ernsthafter sozialer Kontakt gewesen – zog sie ihr Vorhaben ohne Widerrede durch und beseitigte ihn aus ihrer Einzimmerwohnung, wie ein Müllsack, ausrangierte Kleidungsstücke, genau so wurde er einfach vor die Tür gesetzt.
Sie war wieder allein. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge und zog prophylaktisch den Stecker ihres altmodischen Telefons aus der Steckdose. Seit zwei Wochen hatte niemand mehr angerufen, aber die Vorstellung ihre Mutter könnte sich nach ihrem Wohlergehen erkunden, drehte ihr den Magen um. Sie legte sich wieder ins Bett, es roch nach Paul, sie hatte das Gefühl überall seine Überbleibsel zu spüren: Haare, Hautschuppen, Sperma. Verdammt noch mal, dachte sie, so konnte das nicht weitergehen. Sie fasste den Entschluss, ihr Leben zu ändern.
Mark war ein Reinfall gewesen, mit seinen 100 Euro-Anzügen und seinen Kunstlederschuhen, seinem Seitenscheitel und seiner Vorliebe für Aquarien, Paul war ein Reinfall ohne jegliche Ecken und Kanten, dafür mit einer Geisteskrankheit, die sich darin äußerte, dass er es nicht schaffte mehr als zwei Sätze am Stück mit ihr zu wechseln, manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt mit irgendwem reden konnte, immer starrte er ihr nur auf den Punkt zwischen den Augenbrauen, nickte apathisch und tat oft so, als würde er sie nicht hören. Wenn sie jetzt so weitermachte, wäre sie irgendwann Mitte dreißig, ohne Erfolg, ohne Gesprächspartner, ohne... Sie sprang abrupt auf und riss Laken und Bettbezug herunter, knüllte alles in einen Sack und öffnete die Tür um in Richtung Waschkeller zu laufen, in diesem Moment wurde sie von bitterer Novemberkälte erfasst, sie erschrak und ging zurück ins Zimmer um sich Schuhe anzuziehen. Verdammt, wann war es Winter geworden? Hatte sie den ganzen Sommer in ihrer selbstverordneten Karantäne verbracht, abgeschnitten von, nicht nur der Außenwelt, sondern auch von den Jahreszeiten? Schnell rannte sie hinunter, schmiss den Inhalt ihres Wäschesacks in die Waschtrommel, gab das Waschmittel von ihren Nachbarn hinzu und schaltete die Maschine ein.
Sie hatte das Gefühl, die letzten Überbleibsel von Paul erfolgreich beseitigt zu haben und war fest entschlossen zu duschen, sich anzuziehen und nach draußen zu gehen. Sie brauchte einen Job, vielleicht in einem kleinen Second-Hand-Buchladen, etwas Einfaches ohne viel Lärm.
Sie sah sich in ihrem Würfelartigem Raum um, der fast genauso hoch wie breit war und zerrte ein paar Kleider aus dem Schrank. Sie fand sogar etwas, dass nicht nach Kneipenbesuch roch und schlüpfte in schwarze hautenge Jeans und zog sich über ein Tanktop einen weiten schwarzen Wollpulli an. Ihre Kleidung passte perfekt zu ihrer Stimmung, wunderbar. Sie wickelte sich einen viel zu langen maisgelben Schal um und lief die hölzernen Treppen ihres Wohnhauses hinab. Die Straßen waren laut. Sie hatte keine Ahnung wie spät es oder welcher Tag der Woche es war. Es war kalt und obwohl keine Sonne schien, kam es ihr unerträglich hell vor und sie verfluchte es innerlich, dass sie keine Sonnenbrille aufgesetzt hatte. Als sie zur Seite blickte sah sie eine dunkle elende Gestalt auf dem Gehweg hocken. Das Haar klebte am Schädel, wie bei einem Komapatient, der den ganzen Tag und die ganze Nacht im Bett zu verbringen hatte, an einigen Stellen war der Hinterkopf kahl. Natürlich wusste sie sofort, wer es war.
„Was machst du hier?“, fragte sie nervös.
Die Gestalt erhob das Haupt und entpuppte sich wider aller Hoffnungen als Paul. Er war nicht gegangen. Vielleicht war er nie gegangen, vielleicht war er ein geistesgestörter Stalker, vielleicht hatte er jeden Tag vor ihrer Tür verbracht, woher sollte sie das auch wissen, sie war ja nie hinaus gegangen.
„Charlie ich...“ seine Stimme erstickte in heißen Tränen. Sie setzte sich zu ihm hinunter auf den Gehweg. Vor ihnen liefen gesellige Menschengruppen umher, Touristen schossen Fotos von Cafes und Bars, Autos hupten und Fahrradfahrer entkamen nur ganz knapp dem Tod, mit anderen Worten, vor diesen zwei kümmerlichen Gestalten tobte das bunte Leben. Charlie griff nach seiner Hand. Sie sahen sich nicht an, sie redeten auch kein Wort, es war nicht nötig. Sie erkannten in diesem Augenblick, in dem ein Mädchen in weinroter Schuluniform eine Eiskugel auf den Boden fallen ließ und jämmerlich zu weinen begann, dass sie nicht von dieser Welt waren. Sie gehörten nicht dazu. Sie waren Einzelgänger, die versucht hatten in einem Staffellauf zu gewinnen. Die Mutter bückte sich, um mit ihrer Tochter auf Augenhöhe zu sein und wischte ihr die Tränen aus den Augen, gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und das weinen verstummte.
Charlie sah Paul an. Er war am Ende. Was auch immer geschehen war, vielleicht würde sie es nie erfahren, aber es war auch gar nicht wichtig. Sie hatte vor ihm davon laufen wollten, weil sie nicht so werden wollte wie er, nicht so verloren. Aber sie waren vom selben Schlag, das ließ sich nicht leugnen. Sie beugte sich zu ihm hinüber, wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Die Mutter und das Kind waren bereits weiter gezogen, auf zur nächsten Hürde, um diese zu bewältigen, gemeinsam, wie es eine Familie nun mal tat. Und Paul war irgendwie so etwas wie ihre Familie. Sie stand auf, und zog ihn hoch.
„Wohin willst du?“, fragte er ahnungslos.
Sie zuckte mit den Schultern und auf einmal musste sie widerwillig grinsen. Der Tag war nicht besser oder schlechter als jeder andere, das Wetter war nicht schlimmer als sonst, Paul war genauso still und mürrisch wie immer, alles war normal, und das war okay. Sie würden keine berühmten Künstler werden, vermutlich würde niemand jemals von ihnen hören, aber ob sie wollten oder nicht, sie verband etwas und Charlie hatte just in diesem Augenblick beschlossen, dass diese Verbindung nicht ihr Untergang sein würde.
„Auf zur nächsten Hürde“, sagte sie und ließ ihm keine Wahl als mit ihr mitzugehen. So liefen sie eine Weile stumm nebeneinander her, keiner sagte etwas, es gab auch nichts zu erzählen, aber in seinem Schweigen erkannte sie seine Dankbarkeit und sie selbst war sich bewusst, dass ein Tag mehr, den sie mit Paul verbrachte, ein Tag weniger war, an dem sie allein sein musste.
„Und?“, fragte sie, „Ist es so schlimm?“
„Es ist okay“ und das war es auch. Zum ersten mal, seit sie sich erinnern kann, hatte er ehrlich gelächelt. Und auch sein Lächeln war irgendwie okay.