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Ohnmacht
Kennen Sie das, wenn alles um Sie herum aus den Fugen zu geraten scheint und Sie nichts tun können außer hilflos danebenstehen?
Ich heiße Thomas, bin dreiundvierzig Jahre alt verheiratet, eine Tochter. Na zumindest dachte ich Vater einer Tochter von zwölf Jahren zu sein. Meine Tochter (ich weigere mich sie anders zu nennen) ist krank. Zystennieren. Was das ist? Ich hatte bis vor kurzem selbst noch nicht davon gehört. Offensichtlich sind die Nieren meiner Tochter von flüssigkeitsgefüllten Blasen übersäht und haben nun versagt. Aber ich greife vorweg.
Vor etwa einem Monat war unser Leben noch völlig normal. Ich gehe jeden Tag meiner Arbeit als Ingenieur nach, meine Frau schreibt zuhause Kinderbücher und unsere (ihre) fabelhafte Tochter besucht die siebte Klasse eines Gymnasiums. An einem Samstag genossen wir den warmen Sommerabend in unserem Garten, ich stand am Grill…wie auch immer, plötzlich brach meine Tochter zusammen. Sie fühlte sich seit ein paar Tagen unwohl, wir waren mit ihr beim Arzt, doch der stellte nur einen leichten Infekt fest. Jetzt sitze ich hier am Krankenbett meiner Tochter und sehe zu wie die Maschinen sich um ihre Atmung und die Reinigung ihres Blutes kümmern. Sie darf einfach nicht sterben! Sie ist noch so jung, sie hat doch noch gar nicht angefangen zu leben, doch mein Leben hat sie komplett verändert.
Ich erinnere mich, wie ich sie das erste Mal im Arm hielt. Dieses kleine Etwas, das vor lauter Erschöpfung nach der Geburt eingeschlafen war und nun in meinen Armen leise schnarchte. Ich hatte noch nie etwas so Wunderschönes gehört. Später ihre kleinen, runden Ärmchen, die sich vertrauensvoll um meinen Hals legen, und der nasse Schmatzer der laut auf meinem Ohr landet. Ihr fröhliches Lachen, ihre Neugier und der Zauber in ihren Augen, wenn sie staunend die Welt für sich entdeckt und erobert.
Wie kann sie das tun? Wie kann Silke mir das antun? Dass sie mich betrogen hat, na schön. Aber mich zu belügen? Mich all die Jahre denken lassen ich sei der Vater dieses wundervollen Geschöpfs, um es mir jetzt zu entreißen. Das werde ich ihr niemals verzeihen!
Wir brachten Claire ins Krankenhaus wo Nierenversagen diagnostiziert wurde. Sie braucht dringend eine Spenderniere. Silke und ich boten uns beide an uns testen zu lassen, einer von uns beiden müsste doch ein passender Spender sein. Doch was sich herausstellte ließ meine Welt zusammenbrechen. Keiner von uns kam als Spender in Frage und als ob das noch nicht genug wäre, fand ich heraus, dass ich unter keinen Umständen Claires Vater sein konnte. Zuerst war ich fassungslos, dann wütend, jetzt nur noch verzweifelt. Mein kleines Mädchen steht nun auf einer Liste ganz oben, doch die Suche nach einem Spender ist zeitaufwändig. Zeit die sie nicht hat.
Ich stehe auf, laufe Kreise in den Krankenhausboden, bleibe stehen und erschrecke fast beim Blick in den Spiegel. Ich sehe plötzlich alt aus. Wann war ich bloß so alt geworden? Meine Haut ist grau, zerknittert wie mein Hemd, das aus der ebenfalls zerknitterten Hose heraushängt. Meine Haare sind strähnig und der Schatten auf Kinn und Wangen hat sich zu einem stattlichen fünf bis sieben Tage Bart entwickelt. Wie lange bin ich nicht zuhause gewesen? Wann habe ich das letzte Mal geduscht? Ich weiß es nicht mehr. Meine Welt ist geschrumpft, auf dieses Krankenhauszimmer, den Gang zum Snackautomaten. Mein Fühlen, mein Denken und mein Handeln dreht sich nur noch um Claire. Silke hat geweint, sie war ebenso verzweifelt wie ich, doch ich war nicht in der Lage sie zu trösten. Ich konnte nur an ihren Betrug, ihren Verrat denken. Ich habe ihr Vorwürfe gemacht, Beschuldigungen und Beschimpfungen ausgestoßen, sie hat sich nicht verteidigt, nur geweint. Selbst jetzt kann sie ihre Schuld nicht zugeben. Doch wie unwichtig ist das? Wie überflüssig und kleinlich? Claire stirbt und ich kann ihr nicht helfen. Ich blicke wieder in den Spiegel und sehe wie meine Tränen in meinen Bart rinnen. Ich bin ein Mann, stark, selbstbewusst, erfolgreich, doch was nutzt mir das nun? Ich bin gebrochen. Hilflos. Ohnmächtig dem Schicksal ausgeliefert. Ich lasse den Kopf hängen und weine lautlos.
Ich schrecke hoch. Versuche mich zu orientieren. Plötzlich ist leben im Krankenzimmer. Drei Ärzte und ein Pfleger rauschen herein und reißen mich aus meinem ungesunden Erschöpfungsschlaf. Ich rieche mich selbst. Wie entwürdigend, wie nebensächlich. Ich verstehe zuerst nicht was der Arzt mir sagt. Doch ein Satz durchbricht die Lethargie. „Wir haben einen Spender!“
Mein kleines Mädchen, so blass und still wird mit ihrem Bett herausgefahren. Ich komme nicht hinterher. Ich will ihr folgen, doch einer der Ärzte hält mich zurück. „Das grenzt wirklich an ein Wunder. Bei ihrer seltenen Blutgruppe war die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering in so kurzer Zeit einen Spender zu finden.“ Er lächelt mich an, ist voll Eifer in seiner Gestik. Ich will wissen wer der Spender ist. Er wird wieder unverbindlich. „Sie wissen, dass darf ich Ihnen nicht sagen. Ich kann nur so viel sagen: der Spender ist ein gesunder, junger Mann, nun ja er war es bis zu seinem Motorradunfall.“ Er fährt sich durch die Harre, sieht mich verlegen an, dann streckt er mir seine Hand hin, schüttelt die Meine überschwänglich und klopft mir mit der anderen väterlich auf die Schulter. „Das wird schon, mein Sohn. Ich bin sicher dass Ihre Tochter sich erholen wird. Sie ist jung und stark und die Medikamente zur Abstoßungsunterdrückung sind besser denn je.“ Er nickt noch einmal bekräftigend und lässt mich verwirrt und ruhelos zurück. Silke steigt aus dem Aufzug und kommt aufgeregt zu mir gelaufen. Ich kann nicht mehr wütend sein oder verletzt, ich kann nur meine Arme für meine Frau öffnen und sie festhalten. „Sie schafft es, sie wird es schaffen!“ wie zur eigenen Beruhigung sagen ich das immer wieder. Silke kann sich nicht entscheiden zu weinen oder zu lachen also wechselt sie ab. In der einen Minute fließen die Tränen in der nächsten lacht sie einfach los. Sie ist leicht hysterisch. Eine Schwester bringt Kaffee und versucht sie zu beruhigen. Sie schafft es, Silke schnieft nur noch leicht. Sie reden leise miteinander. Silke nickt. Ich bin mit meinen Gedanken zusammen mit meinem kleinen Mädchen im OP.
In meinem Kopf formen sich beängstigende Bilder. Ich stelle mir all die Schläuche und Geräte vor, sehe meine Kleine blass, mit zugeklebten Liedern auf dem OP-Tisch liegen. Ich will nicht hinsehen doch meine Fantasie erschafft blutige Bilder. Ich sehe wie der Arzt sie aufschneidet, sehe wie ihr Inneres frei liegt…Ich schüttle meinen Kopf, vertreibe die Bilder. Silke greift nach meiner Hand, doch ich kann es nicht ertragen. Minuten dehnen sich zu Stunden, endlich, endlich kommt ein Arzt im blauen OP Kittel auf uns zu. Sein Gesicht ist ausdruckslos, er erzählt von Komplikationen, die Luft bleibt mir weg. Doch dann die erlösenden Worte: „Sie ist jetzt im Aufwachraum. Sie wird noch eine Weile auf Station beobachtet, doch ich denke, sie hat alles gut überstanden.“ Er lächelt müde, drückt meinen Arm und geht.
Wir sehen uns an. Stehen uns auf dem Gang gegenüber, keiner von uns wagt sich zu rühren oder irgendetwas zu sagen. Silke fängt wieder an zu weinen, ihre Schultern hängen herab, sie sieht so kraftlos aus wie ich mich fühle. Ich gehe zu ihr und ziehe sie in die Arme. Sie weint und weint und weint.
Claire ist auf einem guten Weg, seit ein paar Tagen ist sie wieder zuhause und die Ärzte sind sehr zufrieden mit ihrer Genesung. Ich bin dankbar. Ich bin vielleicht nicht ihr biologischer Vater, doch das ist unwichtig. Ich bin der Vater den sie kennt und den sie liebt. Meine Frau und ich haben beschlossen ihr vorerst nichts davon zu erzählen. Wir versuchen wieder zueinander zu finden, ich suche einen Weg ihr zu verzeihen. Mein Leben war kurzzeitig aus den Fugen geraten, doch ich bin fest entschlossen daraus gestärkt hervorzugehen. Das bin ich mir, meiner Tochter, unserer Familie schuldig.