Ohne Worte
Er sitzt da. Er sitzt einfach nur so da, so wie ich auch einfach nur da sitze. Er schaut mich an, seit Minuten, ununterbrochen. Nein, er schaut nicht, er starrt. Seine Blicke durchbohren mich, seine Augen durchstechen mich, es tut fast weh. Er nippt, ohne seine Augen von mir abzuwenden, an seinem Kaffee, so wie es alle anderen Gäste auch tun. Doch die anderen Gäste starren nicht. Sie reden untereinander, sie lesen Zeitung, aber sie starren nicht.
Ich versuche ihm ebenfalls in die Augen zu sehen, will ihm dasselbe Gefühl vermitteln, welches er mir vermittelt, aber ich halte es nicht aus. Irgendwas sagt mir, dass ich weiter starren soll, doch es geht nicht. Irgendwas hindert mich. Irgendwas hält mich immer wieder ab. In mir breitet sich Unbehagen aus, sein anhaltender Blick ist undurchdringbar, ich kann nicht einmal sagen, ob er warm oder kalt, hart oder weich ist, dennoch löst er ein Gefühl in mir aus, welches ich nicht beschreiben kann, aber es lässt mich immer wieder erschaudern. Ich versuche ihm zu entrinnen und schaue auf das gegenüberliegende Fenster, es ist halb geöffnet. Man kann einen Ast von dem Baum sehen, der neben dem Café steht. Ein kleiner Vogel sitzt draußen und zwitschert, es sieht so aus, als würde er sich mit einem anderen unterhalten. Mein Blick wandert weiter durch den mit Menschen gefüllten Raum. Zwei Tische weiter sitzen sich eine Frau und ein Mann gegenüber, zwei goldene Ringe lassen mich vermuten, dass sie verheiratet sind. Sie sieht müde aus, aber ihre dennoch heftigen Gestikulierung und verzweifelte Mimik zeugen von einem Streit. Eine zu heftige Wortwahl kann Menschen wohl verletzen und auch Schaden anrichten, ich habe noch nie jemandem mit bloßen Worten wehgetan, glaube ich. Ich schaue mich weiter um und versuche dabei nicht auf seine Augen zu treffen, mein Blick fällt auf die Speisekarte auf unserem Tisch. Diese erscheint wie eine Wand zwischen uns, wie eine Mauer. Eine trennende Mauer voll mit Worten, Worte.. die wir nie sprechen würden. Dabei sollen gerade diese Menschen miteinander verbinden, doch für mich sind sie eine unüberwindbare Hürde. Eine Karte, gefüllt mit Worten als Barriere. Sie verdeckt einen Teil seines Oberkörpers.
Aus meiner anfänglichen Unsicherheit entwickelt sich langsam Wut, welche sich allmählich von meinem Kopf bis in den Rumpf und schließlich in meinem ganzen Körper beinahe schmerzhaft ausbreitet. Warum starrt er mich einfach nur so an? Der Zorn wird unerträglich in mir, bald platzt es aus mir heraus. Am liebsten würde ich ihn anschreien, ihn anbrüllen, ihn mit Worten, Intonation und Lautstärke erschlagen. Ich würde die Aufmerksamkeit auf uns lenken, doch das wäre mir egal. Ich will dass es aufhört, kann aber nichts dagegen zu tun. Sein Blick scheint mich zu brechen, ich bin überrascht, was für Gefühle er in mir auslöst. Ihm scheint es nicht aufzufallen, wie sehr es mich stört. Noch immer kann ich nichts in die Art seines Schauens interpretieren, kann nichts über seine Gefühlslage sagen. Ich fühle mich in seinen Augen gefangen, vom Blick gefesselt. Innerlich schreie ich nach Freiheit, will mich aus seinem Bann entreißen. Hoffnungslos. Mein Kaffee ist mittlerweile kalt geworden, dennoch trink ich ihn, anstelle mir einen neuen zu bestellen. Seine Blicke drohen mich zu ersticken, mich in einen undurchschaubaren Nebel hüllen, in dem ich nichts sehen, nichts riechen und nichts fühlen kann. Was als nächstes kommt, weiß ich nicht, was um mich herum passiert, weiß ich nicht. Doch seine Blicke sind mir sicher. Plötzlich reißt mich etwas aus meiner Trance. Es sind seine Worte: „Komm Schatz, lass uns nach Hause gehen.“ Ich schiebe meinen kalten Kaffee weg, nehme seine Hand und folge ihm. Ohne ein Wort.