Ohne Titel
Längst hatte er vergessen wie lange er ihn auf seinem Rücken trug. Es mögen Monate sein, sogar Jahre. Schwer wog die Last, die ihn zu einer gebückten Gestalt gemacht hat, klein und unscheinbar. Nicht nur dass sie ihn zum Krüppel gemacht hat, nein, seine dünnen Beine, ausgemergelt von der harten Arbeit, zitterten langsam, Schritt für Schritt vorwärts. Überhaupt machten bei ihm nur noch die morschen Knochen und zähe Muskelfetzen die Beine aus.
Ein Felsbrocken war es, der ihm zu schaffen machte. Mit der Zeit zerschliss er die Kleidung seines Trägers, so dass sein Rücken frei lag. Trotz der, wahrscheinlich, vielen Jahre, die auch Spuren am Felsbrocken hinterließen und ihn an den Reibungsstellen abschürften, wurde er nicht wirklich leichter. An den Wunden, die er seinem Träger verursachte, wuchs er mit ihm zusammen. Es schien als ob der Fels den Willen hatte, dass die arme, dürre Gestalt nie mehr frei sein sollte.
Er kam durch viele Dörfer und Städte, die auf seinem Weg ins Nirgendwo lagen. Viele waren verwundert über das bemitleidenswerte Geschöpf, andere lachten es aus. Einige folgten ihm für eine Weile, versuchten Steine auf den Fels rauf zu werfen. Das Männchen war sehr genügsam, es machte ihm auch nichts aus, dass andere Menschen die Last, sein Leiden, mit noch mehr Steinen vergrößerten.
Er trage doch diesen Fels durch die Gegend, das sei seine Aufgabe. Warum sollte man ihm nicht noch mehr Steine aufladen, wenn es doch seine Aufgabe sei?
Und so war er schon fast dankbar für jeden weiteren Stein. Gierig schnappte er nach salzigen Fischen, die man ihm zögernd hinhielt. Das höhnische Lachen der Menschen um ihn, welches erklang wenn er es geschafft hatte einen Bissen zu ergattern, empfand er als Jubel. Jubel wie von Fans, die ein Tor beim Fußball feiern. Die Fische machten ihn durstig, so durstig dass ihm lange Speichelfäden aus den Mundwinkeln flossen. Die Menge grölte wieder, als man ihm ein Glas Wasser über den Kopf goss, und das Männchen versuchte, mit der Zunge so viel Wasser wie möglich aufzufangen.
Eines Nachts trat jemand an ihn heran. Die kleine Kreatur konnte ihn nicht sehen, während es Worte von ihm vernahm, Worte an ihn. Wohin sein Weg ihn führe, wurde er gefragt. Abgesehen davon, dass er schon fast vergessen hatte wie man spricht, brachte er kein Wort hervor. Zum ersten Mal dachte er über seine Vergangenheit nach. Er konnte sprechen, er hatte es irgendwo gelernt, von irgendwem. Er antwortete dem Mann mit einem Ächzen.
Woher er komme, was er tue, aus welchem Grund er es tue, fragte der Mann weiter. Seine Fragen waren zu viel für das kleine Männchen. Es schrie. Eigentlich wimmerte es laut und schrill.
"Ich möchte dir helfen."
Die Gestalt hielt zum ersten Mal an, und drehte sich mühsam nach dem Mann um.
"Ich?", entgegnete es leise und fast zischend.
"Sieh dich an, der Fels hat dich alt und schwach gemacht. Leg' ihn ab, er erfüllt keinen Zweck. Du quälst dich nur damit."
"Aber..."
"Leg ihn ab!"
Tränen rannten dem kleinen Mann über das Gesicht. Seine Reise erschien ihm im Zeitraffer vor den Augen. Die Vergangenheit tat weh, je mehr er Klarheit über sie erlangte. Verdrängtes stand nun ohne Maske da. All dieser Schmerz nur wegen diesem Fels, der ihn ins Unendliche trieb, ohne Sinn und Zweck.
Die Sonne ging hinter den Bergen auf, fast zeitgleich mit dem Glitzern in den Augen des kleinen Mannes. Nun schrie er richtig. Ein gellender voluminöser Schrei brach aus seiner vertrockneten Kehle. Er nahm all seine Kraft zusammen, und riss den Fels von seinem Rücken. Er riss sich neue Wunden auf seinem Rücken, aus denen sein dünnflüssiges Blut hervorströmte. Es gewann an Farbe, wurde immer mehr rot. Er hatte den Fels über seinen Kopf gestemmt. Der Mann der aus dem Dunklen kam, beobachtete dies, und er sah, wie die Sonne hinter dem Fels ein zweites Mal aufging. Der kleine Mann weinte unterdessen bitterlich. Sein Weinen gipfelte schließlich in einem zweiten Schrei, der wesentlich lauter und verzweifelter war, als der voran gegangene.
Seine Arme zitterten, und gaben auf einmal nach. Der Fels begrub den kleinen Mann unter sich.
Der Mann aus der Dunkelheit ging auf den Fels zu, und nahm die Steine von Fels runter. Danach machte er sich auf den Weg zur Bergkette vor ihm, zum Berg über den die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages schienen. Was er dort machen wollte, wusste er noch nicht.
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Ich wußte jetzt nicht, wo ich die einordnen sollte. Es ist halt meine seltsamste und abstrakteste Geschichte.