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Ohne Titel

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23.07.2002
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Ohne Titel

Längst hatte er vergessen wie lange er ihn auf seinem Rücken trug. Es mögen Monate sein, sogar Jahre. Schwer wog die Last, die ihn zu einer gebückten Gestalt gemacht hat, klein und unscheinbar. Nicht nur dass sie ihn zum Krüppel gemacht hat, nein, seine dünnen Beine, ausgemergelt von der harten Arbeit, zitterten langsam, Schritt für Schritt vorwärts. Überhaupt machten bei ihm nur noch die morschen Knochen und zähe Muskelfetzen die Beine aus.
Ein Felsbrocken war es, der ihm zu schaffen machte. Mit der Zeit zerschliss er die Kleidung seines Trägers, so dass sein Rücken frei lag. Trotz der, wahrscheinlich, vielen Jahre, die auch Spuren am Felsbrocken hinterließen und ihn an den Reibungsstellen abschürften, wurde er nicht wirklich leichter. An den Wunden, die er seinem Träger verursachte, wuchs er mit ihm zusammen. Es schien als ob der Fels den Willen hatte, dass die arme, dürre Gestalt nie mehr frei sein sollte.
Er kam durch viele Dörfer und Städte, die auf seinem Weg ins Nirgendwo lagen. Viele waren verwundert über das bemitleidenswerte Geschöpf, andere lachten es aus. Einige folgten ihm für eine Weile, versuchten Steine auf den Fels rauf zu werfen. Das Männchen war sehr genügsam, es machte ihm auch nichts aus, dass andere Menschen die Last, sein Leiden, mit noch mehr Steinen vergrößerten.
Er trage doch diesen Fels durch die Gegend, das sei seine Aufgabe. Warum sollte man ihm nicht noch mehr Steine aufladen, wenn es doch seine Aufgabe sei?
Und so war er schon fast dankbar für jeden weiteren Stein. Gierig schnappte er nach salzigen Fischen, die man ihm zögernd hinhielt. Das höhnische Lachen der Menschen um ihn, welches erklang wenn er es geschafft hatte einen Bissen zu ergattern, empfand er als Jubel. Jubel wie von Fans, die ein Tor beim Fußball feiern. Die Fische machten ihn durstig, so durstig dass ihm lange Speichelfäden aus den Mundwinkeln flossen. Die Menge grölte wieder, als man ihm ein Glas Wasser über den Kopf goss, und das Männchen versuchte, mit der Zunge so viel Wasser wie möglich aufzufangen.
Eines Nachts trat jemand an ihn heran. Die kleine Kreatur konnte ihn nicht sehen, während es Worte von ihm vernahm, Worte an ihn. Wohin sein Weg ihn führe, wurde er gefragt. Abgesehen davon, dass er schon fast vergessen hatte wie man spricht, brachte er kein Wort hervor. Zum ersten Mal dachte er über seine Vergangenheit nach. Er konnte sprechen, er hatte es irgendwo gelernt, von irgendwem. Er antwortete dem Mann mit einem Ächzen.
Woher er komme, was er tue, aus welchem Grund er es tue, fragte der Mann weiter. Seine Fragen waren zu viel für das kleine Männchen. Es schrie. Eigentlich wimmerte es laut und schrill.
"Ich möchte dir helfen."
Die Gestalt hielt zum ersten Mal an, und drehte sich mühsam nach dem Mann um.
"Ich?", entgegnete es leise und fast zischend.
"Sieh dich an, der Fels hat dich alt und schwach gemacht. Leg' ihn ab, er erfüllt keinen Zweck. Du quälst dich nur damit."
"Aber..."
"Leg ihn ab!"
Tränen rannten dem kleinen Mann über das Gesicht. Seine Reise erschien ihm im Zeitraffer vor den Augen. Die Vergangenheit tat weh, je mehr er Klarheit über sie erlangte. Verdrängtes stand nun ohne Maske da. All dieser Schmerz nur wegen diesem Fels, der ihn ins Unendliche trieb, ohne Sinn und Zweck.
Die Sonne ging hinter den Bergen auf, fast zeitgleich mit dem Glitzern in den Augen des kleinen Mannes. Nun schrie er richtig. Ein gellender voluminöser Schrei brach aus seiner vertrockneten Kehle. Er nahm all seine Kraft zusammen, und riss den Fels von seinem Rücken. Er riss sich neue Wunden auf seinem Rücken, aus denen sein dünnflüssiges Blut hervorströmte. Es gewann an Farbe, wurde immer mehr rot. Er hatte den Fels über seinen Kopf gestemmt. Der Mann der aus dem Dunklen kam, beobachtete dies, und er sah, wie die Sonne hinter dem Fels ein zweites Mal aufging. Der kleine Mann weinte unterdessen bitterlich. Sein Weinen gipfelte schließlich in einem zweiten Schrei, der wesentlich lauter und verzweifelter war, als der voran gegangene.
Seine Arme zitterten, und gaben auf einmal nach. Der Fels begrub den kleinen Mann unter sich.
Der Mann aus der Dunkelheit ging auf den Fels zu, und nahm die Steine von Fels runter. Danach machte er sich auf den Weg zur Bergkette vor ihm, zum Berg über den die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages schienen. Was er dort machen wollte, wusste er noch nicht.
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Ich wußte jetzt nicht, wo ich die einordnen sollte. Es ist halt meine seltsamste und abstrakteste Geschichte.

 

Hallo Mephisto!

In der Tat eine seltsame Geschichte, bei der ich mich frage, ob auch ein Sinn dahinter steckt.
Dennoch war sie interessant zu lesen, auch wenn ich nicht so recht weiß, was ich vom Inhalt halten soll.

Sprachlich ist der Text ganz gut gelungen, bloß einige Kleinigkeiten sind mir aufgefallen.

Etwas zu einfach fand ich es, die Geschichte "Ohne Titel" zu nennen. Ich glaube, da würde es bessere Bezeichnungen geben.

Viele Grüße, Michael

 

Vielen Dank für die beiden Kritiken!

Freut mich, dass sie einigermaßen gefällt :) . Die Geschichte ist vom Stil her meinen übrigen Geschichten ähnlich, jedoch ist diese wesentlich komplizierter. Kommt auch vielleicht daher, dass diese Geschichte die einzigste ist, die einen Bezug zu mir hat. Üblicherweise reflektiere ich sonst immer etwas anderes. Diese Geschichte ist eine Ausnahme.

Die Vorschläge sind gut, und ich würde mich über noch mehr Feedback freuen.

Zum Titel: Nun, mir ist da nicht viel eingefallen. Besser: kein Titel den ich mir überlegt hatte gefiel mir persönlich. "Ohne Titel" war da für mich die logische Konsequenz. Nun ja, wenigstens kann ich dann meine folgenden Geschichten nicht mehr so nennen ;) .

Vielen Dank nochmal.
Tschö,

Mephisto

[ 24.07.2002, 21:51: Beitrag editiert von: Mephisto ]

 

Auch dir meinen Dank, mrchance!

Mal zu meinem Ende: Das kann man interpretieren wie man will. Entweder man legt es so aus, dass etwas den Mann treibt die Stelle des Männchens zu übernehmen. Er legt ja die Steine die auf dem Felsen liegen (also die Steine die dem kleinen Mann zusätzlich aufgeladen wurden) ab. Vielleicht nimmt er ja einen mit. Und vielleicht werden es daraufhin ja mehr, er beschließt immer größere Steine zu schleppen (vielleicht auch um sich zu beweisen, sich aber letztendlich dabei zu übernehmen). Dadurch tritt er immer mehr an die Stelle seines Vorgängers, vergisst vielleicht auch einmal was geschah.

Oder, weil er dem Männchen nicht aktiv bei seiner Befreiung helfen konnte (sondern ihm nur die Augen öffnete), geht er zum Felsen und legt, quasi aus Respekt, die zusätzlichen Steine vom Felsen, mehr kann er ja nicht mehr tun. Dann zeiht er von dannen, ohne Ziel, um vielleicht wieder jemandem zu helfen.
Da stellt sich aus dieser Sichtweise auch wieder eine ganz andere Frage, als bei der anderen Auslegung (also im ersten Fall "Die Welt ist manchmal schlecht und ungerecht"). "Macht es Sinn jemandem zu helfen, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen, wenn die Folgen dessen wesentlich schlimmer sein könnten?" Eine interessante Frage, wie ich finde. Die Geschichte erschließt sich mir selber auch erst jetzt so richtig.
All diese Fragen habe ich jedoch vorher nicht zum Thema gemacht. Ich habe einfach nach Bauchgefühl geschrieben mit einer groben Handlungsvorgabe ohne ein Ende. Es freut mich aber dass da etwas herausgekommen ist, was schon einen Sinn macht und Chancen bietet es für sich selbst zu interpretieren.

Puh... so, nu' is' aber genug :)

Tschö,

Mephisto

[ 25.07.2002, 01:19: Beitrag editiert von: Mephisto ]

 

Hm, nö. Etwas wollte ich damit nicht aussagen.
Aber es stimmt schon, ich habe dem Ganzen ein offenes Ende gegeben. Ein Abschluß war für mich nicht möglich.

Man muß aber auch sehen, dass es lediglich eine Geschichte ist, die im Verborgenen von mir handelt. Somit kann ich schon mal gar nixhts damit aussagen, es sei denn "Hey, schaut her. That's me!"... is aber nicht der Fall.

Wie die meisten meiner Geschichten ist diese experimentell. Rührt daher, dass ich mich noch als Schreib-Azubi verstehe. Ich experimentiere mit Storywendungen (siehe "Destiny" im Bereich "Gesellschaft") u.v.m..
Basierend auf einer Idee, die ich in einem Reisebus nach Hause hatte, habe ich die Geschichte geschrieben. Hatte zu der Zeit ziemlich den Blues ;)

Fazit: Ich hatte nicht die Absicht etwas auszusagen. Wie wir jedoch alle in der Schule gelernt haben: Jeden Text kann man interpretieren wenn man will ;)

Tschö,

Mephisto

 

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