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Ohne Titel

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27.05.2008
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Ohne Titel

„Gib mir mal den Lippenstift.“ Vor dem Spiegel warf sie die Haare über die Schulter. „Kennst du eigentlich diesen einen Typen, den mit den kurzen Hosen?“
„Bitte wen?“
„Na diesen Kerl, der immer nach Hochwasser aussieht.“
„Kurze, blonde Haare?“
„Ja.“
„Gandhi-Brille?“
„Ja.“
„Sitzt in Geschichte hinter mir?“
„Ja, ja, ja, genau den. Und weißt du, was der letztens raus gehauen hat?“
„Na?“
„Also Schmidt fragt so - es ging um die Themen der Facharbeit - Schmidt fragt: ,Wer will die Entdeckung Amerikas machen?´ und dieser Typ hebt den Arm und Schmidt nimmt ihn ran und weißt du, was er dann gesagt hat, also der Typ?“
„Neeein.“
„Er sagt: ,Genau genommen wurde Amerika nicht entdeckt, denn seit so-und-so-vielen Jahren leben dort schon Menschen, bevor Columbus kam, und deswegen könne man nicht von einer Entdeckung sprechen.´ Und dann fängt er an von wegen, was wir uns als Europäer erlauben würden, dass wir das denken und wer überhaupt so einen beschissenen Lehrplan genehmigt hätte. Naja jedenfalls, du kennst ja Schmidt, fängt er an zu diskutieren und sich heiß zu reden und der Typ bellt zurück und -“
„Nicht dein Ernst.“
„Doch, sie schreien sich an, mitten im Unterricht, und dieser Spinner beginnt, Schmidt zu beleidigen und sagt, er wäre ignorant und ein Schwein und weiß-ich-nicht-alles und jedenfalls sind wir alle am grölen, weil, wer schreit schon Schmidt an wegen so einer Scheiße und macht so ein Theater?“
„Ich glaub, der Typ hat einfach lange keinen Sex mehr gehabt.“
„Wenn er den überhaupt jemals hatte.“
„Und wir so, was soll die Scheiße, krieg dich wieder ein, du Spinner, und er hört gar nicht mehr auf und ist total in seiner Phase, von wegen Schmidt fertig machen, und er labert sich immer weiter in die Scheiße und wir denken nur noch, was für ein Vogel, dass er sich wegen so was aufregt und vor allen zum Idioten macht und wir bewerfen ihn mit irgendwas und Schmidt ist am toben, dass wir uns bepissen vor Lachen.“
„Ich hasse solche Typen.“
„- die sich wegen so einem Scheiß aufspielen. Wenn sie was wissen, dann sollen sie meinetwegen klug scheißen, scheiß drauf, aber sich aufzuregen wegen so was, überhaupt erst Maul zu machen als allerletzter Spinner, ich meine, was soll der Scheiß?“
„Genau das haben wir auch gedacht.“
„Hab mal gehört, der hat ne Staffelei in seinem Zimmer stehen.“
„Und wie ist es ausgegangen?“
„Schmidt hat ihn der Klasse verwiesen, zum Direktor geschickt oder so, keine Ahnung. Und ohne Scheiß, so viele wie in dieser Sache, standen noch nie hinter ´nem Lehrer glaube ich.“ Sie lachte.
„Hat´s auch nicht anders verdient. Solche Typen sind einfach krank, oder?“
„Richtige Stalker-Typen.“
„Amok-Typen. Ballern eines Tages noch um sich.“
„Hast du Schiss oder was?“ Sie schmatzte mit den roten Lippen.
„Ich und Schiss - genau, du Schlampe.“
„Dich würde er wahrscheinlich als erstes kalt machen. Peng, direkt zwischen die Augen!“ Die Hand zur Pistole geformt lachte sie.
„Und dann dich und dich und dich.“ Alle lachten.
„Ohne Scheiß, so was muss man einsperren.“

Suspendierung war eines der Worte, die - einmal ausgesprochen - ihre Bedeutung verloren. Man fühlte es nur noch.
Er stampfte den Flur hinab, öffnete mit einem Fußtritt die Tür zur Damentoilette. Das Gekreisch der Mädchen verstummte, als er einer den Lippenstift aus der Hand riss. In großen, schmalen Buchstaben schrieb er auf den Spiegel:
„Die Kunst des Geplagten.
Im größten Schmutz, in Unordnung, im Elend entsteht das reine Werk; es strahlt, weil es befreit ist von aller künstlichen Ordnung.“
Zuletzt nickte er, ganz unwissentlich, und es war genau wie das eine Mal, als er glaubte, den Fuß unter dem Tisch keine Sekunde länger still halten zu können. Eilig überflog er, was ihn verlassen hatte. Was mochte es wohl heißen, sich selbst zu erkennen? Er befühlte seinen rasierten Hinterkopf und vergaß darüber die Zeit.
Jemand, der unbemerkt eingetreten war, drehte ihm die Arme auf den Rücken und drückte ihn nach vorn gegen den Spiegel. Atem kondensierte ihm direkt vor den Augen, und dem Schmerz, so unglaublich fern und leuchtend, taumelte er entgegen als wäre er eine Landebahn. Ihm war, als brächen ihm die Handgelenke, doch es war nur Einbildung.
Eine fremde Stimme, wie als letztnötiges Zeichen, sprach genau die Worte, an die er nun dachte:
„Sie dürfen die Aussage verweigern.“
„Wer sind sie“, fragte er und spürte die Euphorie. Er brüllte: „Wer sind sie denn?“ Alle Mädchen liefen hinaus, niemand antwortete.
Die Unterarme wurden ihm hinauf gebogen und das Atmen wurde schmerzhaft. Wenn man alles ganz nüchtern einschätzte, dachte er, so war es doch einerlei, ob ihm hier und jetzt die Arme brächen, oder der Kiefer oder das Jochbein, die Tage kamen und gingen. Wenn sie einen mit diesem Auftrag her geschickt hatten - um ihn festzunehmen, ihn zu vertrimmen - dann wäre es doch nur löblich, wenn man diesen Fremden in seinem Bestreben gewähren ließe, ungeachtet aller kurzweiligen, persönlichen Zumutungen. Ernähren nicht die Häftlinge auch die Wärter, dachte er und zwang sich, nicht erleichtert darüber zu sein.
„Bitte, brich mir die Arme. Drück sie einfach auf die Schulterblätter und brich sie mir, egal, was man von dir verlangt“, sagte er, „Aber es soll eine Überraschung sein. Hast du das verstanden?“
Während man ihn über den Campus führte, vorbei an bunten, unterschiedlich großen Gruppen, wurde kein Wort gesprochen. Vielleicht ist es richtig so, überlegte er. Die sich ankündigende Strafe war ohnehin schon am ersten Tag vollstreckt worden. Was noch Worte verlieren?
Beim Gehen fuhr er mit den Schuhspitzen durchs Laub, wie um seinen Verfolgern ein Allerletztes zu verderben.
„Ich bin noch ein Kind“, rief er aus und blickte, so gut es mit Handschellen ging, auf die Wolken.

 

Hallo,

die Geschichte kommt 50 Jahre zu spät, glaube ich. Also meine Lehrer hätten sich gefreut, wenn einer gesagt hätte: Amerika war doch schon entdeckt, was ist das für ein eurozentrisches Denken.
Keine Ahnung, ob das eine isolierte Erfahrung ist ...aber das ist ja jetzt kein so revolutionäres Denken ,dass es gottweißwas auslösen würde. Und Geschichte, überhaupt die "weichen" Fächer ziehen doch eher liberale Lehrer an heutzutage (also bei uns hätte man Lehrer maximal so in Erregung versetzen können mit faschistischem Gedankengut). Also mir scheint das da in der Wiedergabe zumindest sehr an den Haaren herbeigezogen zu sein. Zumal "Amerika wurde nicht entdeckt, das war schon immer da" ... also - das ist ja jetzt auch kein Dynamit, sondern das weiß heute ja jeder.
Ich frag mich wie unsouverän ein Lehrer sein muss, um da anzufangen. Und wenn ein Schüler einen Lehrer als "Schwein" beschimpft, ist dann eh Sense. Also sich als Lehrer auf ein Schreiduell mit einem Schüler einzulassen ... ja.

Was ich dann nicht verstehe ist, was genau in diesem Ziwschenraum passiert sein muss, dass ihn wer verhaftet (Schulen stehen überhaupt nicht drauf, die Polizei einzuschalten,das ist fatal in der Öffentlichkeitswirkung). Und die Ich-Erzählpassage finde ich auch deutlich schwächer als diese Toiletten-Wiedergabe. Da sieht man die Inszenierung als Rebell.


Es ist auch in der Machart seltsam. Wann spielt das denn? Der wird abgeführt - "ein Schüler, aber vom Campus (?) und dann sagt er, man werde ihn "vertrimmen" - also "vertrimmen" ist, weiß nicht, Sprachebene 50er Jahre, 60er Jahre.

Ich finde den Text unglaubwürdig in der Konstruktion. Wenn man einen Rebell zeichnen will, und will den charismatisch gestalten, dann muss man sich Zeit nehmen. Wenn man einen Gedanken als neu und provokativ darstellen will, dann muss man einen neuen und provokanten Gedanken haben. "Der Geschichtsunterricht in deutschen Schulen ist eurozentrisch" ist das nicht.
Und wie der zweite Teil dann mit dem ersten zusammenhängt - weiß der Geier. Mich überzeugt die Geschichte überhaupt nicht. Zu wenig Ideen drin, zu wenig Substanz, zu wenig innere Schlüssigkeit.

Dann im zweiten Absatz werden halt vermeintlich kluge Dinge gesagt, die in gar keinem Verhältnis zur Geschichte stehen. Wenn ich eine Horrorgeschichte schreibe und im letzten Absatz ist noch Platz, dann kann ich den Protagonisten auch darüber philosophieren lassen, dass der jetzige Erfolg des FC Bayern München damit zu tun hat, dass unter van Gaal die jungen Leute, Alaba, Badstuber, Müller und Kroos, Spielpraxis gesammelt haben und nun Jupp Heynckes, der die Eintracht kaputt gemacht hat, die Früchte erntet.
Das hätte aber nichts mit der Geschichte zu tun.

 

Die Frage ob Amerika nun "entdeckt" wurde oder nicht, ist müßig und mir persönlich egal. Einzig der Gedanke ist interessant, es aus der Sicht der Ureinwohner - und zwar ganz und gar - zu betrachten. Ich kann und will in dieser Sache keine Wertung einbringen, mich fasziniert es nur immer wieder, ein alte Sache von einer neuen Seite zu sehen.

Was das unrealistische Szenario betrifft und die teilweise gestelzte Wortwahl, vielleicht hast du recht, und diese Geschichte kommt fünfzig Jahre nach ihrer Zeit. Ich habe sie bewusst so geschrieben, aber kann leider nicht sagen, warum.

Und um auf die vermeintlich neuen und klugen Gedanken zu kommen, die ich präsentiere; sie sind weder das eine, noch das andere. Es ging mir auch nicht um Provokation, die gehört ins Fußballstadion.
Es gibt in dieser Geschichte keinen Rebellen und keine großen Gedanken, sie ist nicht einmal realistisch. Das meine ich nicht sarkastisch, das ist mir vom ersten Satz an bewusst gewesen.
Ich habe nur dieses ganz starke Bild im Kopf, von einem Menschen, der seine Schuld kommen sieht, seines Auffassens nach unverschuldet, und in dem schmalen Fenster zwischen Urteil und Vollstreckung, das aller erste Mal im Leben seinen Platz findet.

 

Die Frage ob Amerika nun "entdeckt" wurde oder nicht, ist müßig und mir persönlich egal. Einzig der Gedanke ist interessant, es aus der Sicht der Ureinwohner - und zwar ganz und gar - zu betrachten. Ich kann und will in dieser Sache keine Wertung einbringen, mich fasziniert es nur immer wieder, ein alte Sache von einer neuen Seite zu sehen.
Das ist das Problem. Wenn du Geschichten erzählen willst, dann dürfen dir die Details nicht egal sein.
Die Frage ist doch, was würde einen Lehrer so aufregen, dass er auf einen Schüler losgeht? Das ist eine Frage, die du für dich beantworten musst, bevor du die Geschichte schreiben kannst.
Und wenn es dir nur darum geht, diesen Moment in Hanschellen später darzustellen, ist es zwar verständlich, dass du diesem Aspekt der Geschichte, der dahin führt, wenig Aufmerksamkeit widmest, aber für mich als Leser ist es ärgerlich.

Du willst, wenn du Erzählungen konsumierst, doch sicher auch nicht mit halbgarem abgespeist werden, weil der Erzähler keine Lust auf diesen Teil der Geschichte hatte, und es ihm um was anderes ging. Also ich weiß nicht, was du so liest oder im Fernsehen vielleicht schaust, aber du fändest es sicher auch ärgerlich, wenn du das Gefühl hättest: Dem Erzähler ist das, was er da schreibt, gar nicht wichtig, er hat sich da keine Mühe gegeben bei diesem Teil, weil in dem Moment, in dem du es konsumierst, in dem du es liest oder siehst, liegt deine ganze Aufmerksamkeit ja auf dem Teil, den du gerade liest, und dann kannst du als Leser schon erwarten, dass sich der Autor Mühe gegeben hat.

Und ja, die eurozentrische Sicht ist schon interessant, aber sie ist nichts Neues, sie wird hier in dem Text ja so präsentiert, als wäre das eine riesen Sache, das ist es aber nicht.

Ich habe nur dieses ganz starke Bild im Kopf, von einem Menschen, der seine Schuld kommen sieht, seines Auffassens nach unverschuldet, und in dem schmalen Fenster zwischen Urteil und Vollstreckung, das aller erste Mal im Leben seinen Platz findet.
Dann solltest du ein Szenario schaffen, in der sich der Leser darauf konzentrieren kann. Hier gibt es zu viele Ungereimtheiten im Vorfeld, jedenfalls für mich.

Ich hab mal eine Frage: Liest du selbst Geschichten und schaust dir an, was da überhaupt so vor sich geht? Wie eine Geschichte aufgebaut ist? Wie sie den Leser führt?
Ich denke, die Geschichte hier, ist so wirr konzipiert, dass es dir gut tun würde, dich mit Erzählkonvention und Erzähltradition überhaupt mal auseinander zu setzen. Dann kannst du es immer noch anders machen oder die Konventionen brechen.

Gruß
QUinn

 

Das ist das Problem. Wenn du Geschichten erzählen willst, dann dürfen dir die Details nicht egal sein.
Inwiefern meine Meinung dazu auch falsch sein mag, ich glaube, da irrst du dich.

Du willst, wenn du Erzählungen konsumierst, doch sicher auch nicht mit halbgarem abgespeist werden, weil der Erzähler keine Lust auf diesen Teil der Geschichte hatte, und es ihm um was anderes ging.
Das stimme ich dir zu, aber es besteht doch ein Unterschied zwischen "Die Details als Nebensache betrachten" und "Keine Lust aufs Schreiben haben".


Und ja, die eurozentrische Sicht ist schon interessant, aber sie ist nichts Neues, sie wird hier in dem Text ja so präsentiert, als wäre das eine riesen Sache, das ist es aber nicht.
Ich wiederhole mich gerne, wenn ich sage: Das sollte auch nichts Neues sein. Das sagt eine Person im Text, nicht ich. Und selbst die Darstellung dieser Person ist ja nur eine Nacherzählung des tatsächlich Gesagten, also - blubb - eventuell auch dramatisiert in der Art pubertierender Mädchen? Nichtsdestotrotz bleibt es Nebensache, es hätte wohl auch der Klimawandel oder die Atomkraft getan, aber ich bin satt, was das angeht.


Und zu deiner Frage, ob ich lese und mich mit Erzählkonventionen auseinander gesetzt habe: Ja. Ich bin weder Freund noch Feind solcher Konventionen, aber ich - persönlich - verstehe das Schreiben als einen höchst improvisationswürdigen Prozess. Natürlich bin ich bestrebt, meine Versuche noch im weitesten Sinn lesenswert zu gestalten. Deshalb danke ich dir für deine ausführliche Kritik.

 

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