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Ohne Titel
„Gib mir mal den Lippenstift.“ Vor dem Spiegel warf sie die Haare über die Schulter. „Kennst du eigentlich diesen einen Typen, den mit den kurzen Hosen?“
„Bitte wen?“
„Na diesen Kerl, der immer nach Hochwasser aussieht.“
„Kurze, blonde Haare?“
„Ja.“
„Gandhi-Brille?“
„Ja.“
„Sitzt in Geschichte hinter mir?“
„Ja, ja, ja, genau den. Und weißt du, was der letztens raus gehauen hat?“
„Na?“
„Also Schmidt fragt so - es ging um die Themen der Facharbeit - Schmidt fragt: ,Wer will die Entdeckung Amerikas machen?´ und dieser Typ hebt den Arm und Schmidt nimmt ihn ran und weißt du, was er dann gesagt hat, also der Typ?“
„Neeein.“
„Er sagt: ,Genau genommen wurde Amerika nicht entdeckt, denn seit so-und-so-vielen Jahren leben dort schon Menschen, bevor Columbus kam, und deswegen könne man nicht von einer Entdeckung sprechen.´ Und dann fängt er an von wegen, was wir uns als Europäer erlauben würden, dass wir das denken und wer überhaupt so einen beschissenen Lehrplan genehmigt hätte. Naja jedenfalls, du kennst ja Schmidt, fängt er an zu diskutieren und sich heiß zu reden und der Typ bellt zurück und -“
„Nicht dein Ernst.“
„Doch, sie schreien sich an, mitten im Unterricht, und dieser Spinner beginnt, Schmidt zu beleidigen und sagt, er wäre ignorant und ein Schwein und weiß-ich-nicht-alles und jedenfalls sind wir alle am grölen, weil, wer schreit schon Schmidt an wegen so einer Scheiße und macht so ein Theater?“
„Ich glaub, der Typ hat einfach lange keinen Sex mehr gehabt.“
„Wenn er den überhaupt jemals hatte.“
„Und wir so, was soll die Scheiße, krieg dich wieder ein, du Spinner, und er hört gar nicht mehr auf und ist total in seiner Phase, von wegen Schmidt fertig machen, und er labert sich immer weiter in die Scheiße und wir denken nur noch, was für ein Vogel, dass er sich wegen so was aufregt und vor allen zum Idioten macht und wir bewerfen ihn mit irgendwas und Schmidt ist am toben, dass wir uns bepissen vor Lachen.“
„Ich hasse solche Typen.“
„- die sich wegen so einem Scheiß aufspielen. Wenn sie was wissen, dann sollen sie meinetwegen klug scheißen, scheiß drauf, aber sich aufzuregen wegen so was, überhaupt erst Maul zu machen als allerletzter Spinner, ich meine, was soll der Scheiß?“
„Genau das haben wir auch gedacht.“
„Hab mal gehört, der hat ne Staffelei in seinem Zimmer stehen.“
„Und wie ist es ausgegangen?“
„Schmidt hat ihn der Klasse verwiesen, zum Direktor geschickt oder so, keine Ahnung. Und ohne Scheiß, so viele wie in dieser Sache, standen noch nie hinter ´nem Lehrer glaube ich.“ Sie lachte.
„Hat´s auch nicht anders verdient. Solche Typen sind einfach krank, oder?“
„Richtige Stalker-Typen.“
„Amok-Typen. Ballern eines Tages noch um sich.“
„Hast du Schiss oder was?“ Sie schmatzte mit den roten Lippen.
„Ich und Schiss - genau, du Schlampe.“
„Dich würde er wahrscheinlich als erstes kalt machen. Peng, direkt zwischen die Augen!“ Die Hand zur Pistole geformt lachte sie.
„Und dann dich und dich und dich.“ Alle lachten.
„Ohne Scheiß, so was muss man einsperren.“
Suspendierung war eines der Worte, die - einmal ausgesprochen - ihre Bedeutung verloren. Man fühlte es nur noch.
Er stampfte den Flur hinab, öffnete mit einem Fußtritt die Tür zur Damentoilette. Das Gekreisch der Mädchen verstummte, als er einer den Lippenstift aus der Hand riss. In großen, schmalen Buchstaben schrieb er auf den Spiegel:
„Die Kunst des Geplagten.
Im größten Schmutz, in Unordnung, im Elend entsteht das reine Werk; es strahlt, weil es befreit ist von aller künstlichen Ordnung.“
Zuletzt nickte er, ganz unwissentlich, und es war genau wie das eine Mal, als er glaubte, den Fuß unter dem Tisch keine Sekunde länger still halten zu können. Eilig überflog er, was ihn verlassen hatte. Was mochte es wohl heißen, sich selbst zu erkennen? Er befühlte seinen rasierten Hinterkopf und vergaß darüber die Zeit.
Jemand, der unbemerkt eingetreten war, drehte ihm die Arme auf den Rücken und drückte ihn nach vorn gegen den Spiegel. Atem kondensierte ihm direkt vor den Augen, und dem Schmerz, so unglaublich fern und leuchtend, taumelte er entgegen als wäre er eine Landebahn. Ihm war, als brächen ihm die Handgelenke, doch es war nur Einbildung.
Eine fremde Stimme, wie als letztnötiges Zeichen, sprach genau die Worte, an die er nun dachte:
„Sie dürfen die Aussage verweigern.“
„Wer sind sie“, fragte er und spürte die Euphorie. Er brüllte: „Wer sind sie denn?“ Alle Mädchen liefen hinaus, niemand antwortete.
Die Unterarme wurden ihm hinauf gebogen und das Atmen wurde schmerzhaft. Wenn man alles ganz nüchtern einschätzte, dachte er, so war es doch einerlei, ob ihm hier und jetzt die Arme brächen, oder der Kiefer oder das Jochbein, die Tage kamen und gingen. Wenn sie einen mit diesem Auftrag her geschickt hatten - um ihn festzunehmen, ihn zu vertrimmen - dann wäre es doch nur löblich, wenn man diesen Fremden in seinem Bestreben gewähren ließe, ungeachtet aller kurzweiligen, persönlichen Zumutungen. Ernähren nicht die Häftlinge auch die Wärter, dachte er und zwang sich, nicht erleichtert darüber zu sein.
„Bitte, brich mir die Arme. Drück sie einfach auf die Schulterblätter und brich sie mir, egal, was man von dir verlangt“, sagte er, „Aber es soll eine Überraschung sein. Hast du das verstanden?“
Während man ihn über den Campus führte, vorbei an bunten, unterschiedlich großen Gruppen, wurde kein Wort gesprochen. Vielleicht ist es richtig so, überlegte er. Die sich ankündigende Strafe war ohnehin schon am ersten Tag vollstreckt worden. Was noch Worte verlieren?
Beim Gehen fuhr er mit den Schuhspitzen durchs Laub, wie um seinen Verfolgern ein Allerletztes zu verderben.
„Ich bin noch ein Kind“, rief er aus und blickte, so gut es mit Handschellen ging, auf die Wolken.