Ohne Krawatte
Insgeheim hoffte ich, dass meiner lieben Angetrauten entfallen sein könnte, mich auf den meines Erachtens vollkommen überflüssigen Erwerb eines Anzugs festzunageln.
Siehe, da ertönt die mir so vertraute Stimme …
Schatz! Wenn wir nächstes Wochenende in Berlin sind, könntest du dir endlich einen neuen Anzug leisten, ich meine, dass du dir überhaupt mal einen zulegst, den kaufen wir bei P&C am Samstagvormittag. Wir haben genügend Zeit zum Auswählen, und abends kannst du dann dein neues Outfit in der DISTEL einweihen.
Auswählen? Wir? Shit Happens! Und die von der DISTEL würden sich vermutlich ein Ei drauf backen. Meine antiken Lieblings-Jeans sind bestens in Schuss! Ein Kabarett darf man sozusagen im geflickten Pullover betreten, oder etwa nicht? Blue Jeans und Pullover, irgendwie spukte mir zwischen den Ohren so eine Art existenzialistisches Kleidungsritual herum. Im Anzug, ich?! Grauenhaft! Ich liebe meine Nonkonformistenuniform, nicht mit mir, niemals!
Ja, das ist eine gute Idee von dir, aber keine Krawatte, KEINE Krawatte!
In über zwanzig Jahren intensiver Paarbeziehung habe ich verinnerlicht, dass sofortiger Widerstand meist zu massiven Konflikten führt. Und Prinzipienstreit bedeutet partnerschaftlichen Schützengraben. Jahrelang. Man erschöpft einander. (Unsere Enkel werden dereinst in der Goldene-Hochzeit-Zeitung den Anzugkrieg von anno 2010 genussvoll zitieren.)
Sich derart zum Affen machen?
Hörst Du? K E I N E !
Gnädig wird mein Kompromissvorschlag angenommen. Bis Berlin sind noch ein paar Tage und ich überleg mir für alle Fälle Plan B. Passiver Widerstand à la Ghandi oder so, jedenfalls irgendwas in der Richtung. Wird schon nicht schlimm.
*
Es wurde ziemlich schlimm. Das prächtige Modehaus am Wittenbergplatz öffnet um zehn. Mehr gekidnappt denn eskortiert geleitet meine geschätzte Partnerin mich in die Herren - Abteilung in eine der oberen Etagen ohne Flucht- oder Wendemöglichkeit.
Zur Lage: Wir befinden uns in der deutschen Hauptstadt. Ganz P&C ist von gräulichen Fashion-Victims mittleren bis bemoosten Alters durchsetzt. Ganz P&C? Nein! Ein Unbeugsamer wehrt sich...
Hier bist du richtig.
Nein. Bin ich nicht. Ich bin kein Herr, nörgle ich.
Darf ich ihnen helfen? Ein dynamischer Jungverkäufer begrüßt uns. Mit viel Gel im Haar und nahezu verhaltensauffälliger Freundlichkeit. Körpersprache und Mimik verraten mir, dass nicht ich sein Verhandlungspartner bin, sondern diejenige, die mir clever den Rückweg versperrt.
Mein Mann möchte einen Anzug.
Und keine Krawatte, ergänze ich. Irritation auf Seiten des Personals.
Anzug ohne Krawatte? Nein, das geht eigentlich nicht. Wie wäre es mit einer Kombination? Zum Beispiel eine schwarze Stoffhose, ein schwarzer Rolli und darüber ein anthrazitfarbenes Jackett.
Gespielte Ergebenheit meinerseits. (Wenn es denn sein muss ... ist ohne Krawattenzwang und geht vermutlich schnell.) Er enteilt, um kurz darauf mit dem herzlich Unerwünschten in der Armbeuge wieder aufzutauchen. Das Jackett wird mir zuerst angepasst. Ich rekele mich ein bisschen. In den Schultern ist genügend Platz. Ich hebe beide Arme und strecke sie aus. Die berühmte Schlafwandlerpose. Zu kurz! Die Manschetten meines Hemdes schauen ein Stück heraus.
Die Ärmel sind zu kurz.
Wie? Sie gehen doch nicht mit ausgestreckten Armen durch die Gegend.
Eigentlich nicht.
Ich werde umfassend belehrt, dass eine Hemdmanschette unbedingt aus dem Ärmel des Jacketts herauszuschauen hat. Die Aufsicht führende Ehehälfte bewahrt Haltung angesichts meiner in modischen Dingen an den Tag gelegten Unbedarftheit. Nun kommt die Hose dran. Wider Erwarten passt sie sofort. Wie auf den Leib geschnitten.
Die steht ihnen perfekt. Im Bund spüre ich eine flache Hand, die nicht meine ist.
Da ist ausreichend Platz, konstatiert er.
Wir sind heute abend auf dem Swutsch und werden vorher ausgiebig essen. Das wird zu eng, sie kneift bestimmt, wage ich einzuwerfen. Immerhin verursacht mein Einspruch bei ihm Stirnrunzeln.
Man könnte im Bund noch etwas auslassen.
Haben Sie auch eine Nummer weiter? Mein Supervisor hält den Atem an.
Dann sitzt die Hose nicht mehr.
Ich bleibe hartleibig.
Eine Nummer größer und Gürtel drum rum. Zum Beispiel diesen hier. Aus dem Gürtel-Display hinter mir fische ich ein besonders unpassendes Prachtstück in braun und mit Überlänge heraus.
Wetterleuchten. Wie zufällig verlässt jemand, der eben noch hinter mir wachte, seinen Posten und nähert sich der abwärts führenden Rolltreppe.
Ein Gürtel hält niemals eine Hose, ich wiederhole: Niemals. Das ist ein Accessoire!!!
Ich registriere bei meinem Modeberater eine Art inneren Ringkampf. Wer mit wem, ist mir ziemlich klar. Inzwischen bereitet mir, ich gebe es zu, die ganze Prozedur erhebliches Vergnügen und ich beschließe, meinem Gegenüber eine Art finalen Stoß zu versetzen. Mit Dackelblick und demütigem Timbre:
Entschuldigung, sie sind ein Mann von Welt und mein norddeutscher Akzent hat Ihnen untrüglich verraten, dass ich sozusagen vom Lande bin ... und morgens beim Misten im Stall und so, ick bün dat nich gewohnt mit düssen feinen Schiet, comprente? Aber een Fraach hef ick noch an se... könnt se mi een Rossmann wiesen, wo ick büschen Föngföng köpen kann? Eau de cloaque von Adidas oder so ... is for miene Ollsch.
... ???!
Ich nehme an, dass ein gewisses Quantum der niederdeutschen Dosis meines Gifts sekundenschnell am dafür zuständigen Ort zwischen seinen Ohren materialisierte, denn er stirbt gerade oder hyperventiliert oder beides auf einmal. Kurz vorm Exitus wechselt sein Gesicht die Farbe von Rot nach blass und retour. Gleich wird er implodieren lautet meine Spontandiagnose, also allerhöchste Zeit, kein weiteres Aufsehen zu erregen und sich dezent zu verdrücken. Kurz darauf erreiche ich meine Liebste, die ich nun doch etwas vermisse, über Handy. Offenbar rettete sie sich im letzten Moment nach draußen auf den Wittenbergplatz. Auch dauert es ein wenig, bis so etwas wie Kommunikation, die über ja-nein-weissnich-lassmich-haublossab hinausgeht, zwischen uns in Gang kommt. Sehr viel später besuchen wir ein nettes italienisches Restaurant, verdrücken Riesenberge Pasta, trinken Barolo und genießen einen stachligen DISTEL-Abend. Apropos: Beide in Jeans.
Der Anzug? Ach, mit dem wurde es nichts. Leider, leider. Und die Krawatte? Welche Krawatte?