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Oh Tannenbaum
OH TANNENBAUM
Das Leben besteht zu 80% aus Enttäuschungen. Es ist eine Schande. Aber dummerweise wird das Leben einem ja aufgedrängt. Man muss halt lernen, mit dem Leben zu leben. Es begann schon ganz am Anfang. Zu erst erzählte man sich im Zapfen so schöne Geschichten über den Wald und dann sind die nächsten Sinneseindrücke bestimmt von Knacken, Wirbeln und kaltem Erdboden...Hurra. Nach einer Weile war es gar nicht mehr so schlimm. Man trieb ein paar Wurzeln in die Erde und begann zu wachsen. Und dann -Verdammt! - die nächste Enttäuschung. Der hoch gepriesene Wald stellte sich als eine Ansammlung von Bäumen heraus. Was soll das denn? Aber mit der Zeit gewöhnt man sich auch daran.
„Sie machen was?“ Die Tanne starrte den Vogel verwirrt an.*
„Sie umwickeln sie mit Ranken, deren Blätter brennen.“
„Warum das denn?“
„Ich glaube, es soll schön aussehen.“ Der Vogel - eine Amsel - zuckte mit den Flügeln.
„Was? Aber wenn die Blätter brennen, fangen die Bäume doch auch an zu brennen! Eine sehr fragwürdige Einstellung zu Schönheit.“
„Sie fangen nicht an zu brennen. Zumindest meistens. Das ist ja das merkwürdige daran.“
Die Tanne sah sich plötzlich mit dem Konzept einer Lichterkette konfrontiert.
„Ja klar! Und ich bin eine Rose!“, meldete sich eine Stimme nahe ihren Wurzeln.
„Halt die Klappe.“, riet Tanne dem Pilz.
„Naja, ich muss dann mal.“
Tanne offenbarte die Mimik, die bei einem Baum darauf hinweist, dass er verwirrt ist.
„Was musst du?“
Die Amsel seufzte ein nicht hörbares Seufzen. Konversation mit Bäumen war manchmal recht kompliziert.
„Ich muss weg“, erklärte die Amsel.
„Ach stimmt, Vögel fliegen ja.“ Tanne rümpfte eine metaphorische Nase.
Bei Bäumen gilt jede Art von Fortbewegung als absolut unnormal.
„Genau. Also, tschüss.“ Die Amsel verschwand hinter den Ästen einer großen Fichte.
„Tz, fliegen“, murrte der entsprechende Baum abfällig.
„Ja, genau. Fliegen, laufen, kriechen. Vollkommen unnatürlich“, pflichtete Tanne bei.
„Wer vernünftig ist, der bleibt an Ort und Stelle. Stimmt`s?`“,fügte sie an den Pilz gerichtet hinzu. Dieser zögerte.
„Weist du... es gibt so genannte Wanderpilze.“
Tanne wollte schon gehässig antworten, doch die ersten seismischen Aktivitäten einer herannahenden Diskussion wurden durch eine bedenkliche Nachricht hinfort gewischt.
„Menschen!“ Eine nahe stehende Eiche hatte die Nachricht in den Wald geschrien, woraufhin mehrere Bäume mit einem „Schrei doch nich so!“ antworteten.
Stimmen hallten durch den Wald und es waren nicht die unhörbaren mentalen
Stimmen von Pflanzen oder Tieren, sondern die grobschlächtigen, unangenehmen und auf Schall basierenden Stimmen von Menschen.
„... mitten in den Wald. Meine Füße bringen mich noch um.“
„Mein Sohn, du wirst mir noch danken. Ah, seht mal! Ist der nicht perfekt! Den nehmen wir.“ In der Hand des Vaters ruhte ein metallener, gezackter und für Bäume äußerst bedenklicher Gegenstand.
Tanne war beleidigt, wütend und schockiert. Erstaunlicherweise alles zur selben Zeit. Nachdem man sie von ihren Wurzeln abgesägt, durch den Wald geschleift, und in ein Auto gestopft hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. All das hatte sie bis Dato für unmöglich gehalten. Man hatte sie unter vielen Autsch!es und Verdammt!es ihrerseits durch den Wald bewegt und nun im Auto bewegte sie sich sogar schnell! Von ihrem Sitz- bzw. Liegeplatz beobachtete sie Dinge, die sie nicht einmal im Rest eines Ansatzes verstand. An einer Ampel beobachtete sie Kinder, die ihre Mutter bearbeiteten und dabei Resultate erzielten die jeden Vertreter neidisch gemacht hätten. Eines begann bereits zu schluchzen und bereitete so den finalen Schlag vor. Vorher ergab sich die Mutter jedoch ihrem Schicksal und willigte ein, ihren Kindern ein Geschenk zu kaufen das bereits zwei Tage nach Heiligabend kaputt unter dem Sofa liegen würde und die Brieftasche des Vaters erheblich erleichtern dürfte. Nachdem sie beim Haus angekommen waren und Tanne eine weitere Transport-Tortur erlitten hatte wurde sie schließlich in einen hässlichen Metallständer gezwängt. Die Menschen ließen sie – Große Tanne im Himmel sei Dank – kurz darauf allein.
„Oho! Der Neuankömmling!“ Der Urheber der Stimme stand auf einem nahen Tisch und war eindeutig eine Pflanze. Genauer gesagt ein Weihnachtsstern.
„Sie haben mich abgesägt und sie haben mich durch den Wald bewegt und sie haben mich hier hin gestellt! Sie haben mich bewegt!“
Tanne schnaufte, bzw. sie hätte geschnauft, wenn Bäume schnaufen könnten.
„Wieso?“,fügte sie hinzu.
„Nun, du bist der diesjährige Weihnachtsbaum.“ Der Weihnachtsstern sah die Tanne analytisch an.
„Ein Wildfang, was? Glaub mir, am Anfang ist es immer hart.“
„ Weihnachtsbaum? Hart? Wildfang? Ich wurde nicht gefangen, sondern abg...“
Tanne unterbrach sich, denn in diesem Moment kam ein Staubwedel in den Raum gedackelt. Erst aus der Nähe erkannte Tanne das etwas als Hund. Niemanden hätte es gewundert, wenn man eine zerbrochene Bürste in seinem Haar eingewickelt gesehen hätte. Tanne hatte schon einmal mit einem Hund zu tun gehabt, daher wusste sie, dass sie, wenn sie nicht gerade deinen Stamm befeuchten, treudoof dem erst besten etwas hinter her liefen, das ihnen Futter gab. Der Hund ließ so etwas wie ein mentales räuspern ertönen. „Futter?“
Tanne seufzte. Genau wie erwartet.
Schon ein paar Tage später stand dort, wo vorher die Tanne gestanden hatte, ein riesiger Haufen glitzernder Geschmacklosigkeit. Doch unter den Massen von Girlanden, Christbaumkugeln, Lametta, Lichterketten und ähnlichem mochte ein guter Beobachter hier und dort noch einen Tannenzweig erkennen können.
„Ich habe das Gefühl, dass jeden Moment einer meiner Zweige abbricht. Warum machen die das? Ist das so`ne Art Folter? Wenn nicht ist das alles absolut sinnlos!“
„Futter!“
„Du meckerst ganz schön viel, weißt du?“
„Ich brav! Ich Futter!“
„Du hast gut reden! Dich haben sie nur mit ein bisschen Glitzerzeug bestreut!“
„Ich brav! Ich Leckerli! Ich Futter!“
„Halt die Klappe! Du wurdest schon gefüttert! Bist du nie satt?!“
Der Staubwedel-Hund Hybrid dackelte beleidigt davon. Tanne sah im hinterher, oder zumindest versuchte sie durch ihren Schmuck zu spähen.
„Ich weiß. Ich versteh es auch nicht wirklich. Aber die Menschen finden das alles schön.“
„Knurr?“
Tanne scheuchte den Hund mit einem drohenden Blick wieder davon.
„Das finden sie schön? Bäume absägen und ohne Wasser in ihre Häuser stellen?“
Tanne begann auszutrocknen und wurde dadurch zunehmend panisch und aggressiv. Das passierte weil ein trockener Baum viel leichter Feuer fing und Tanne Instinkte wussten das. Da der Raum mit Kerzen voll gestellt war, wurde es noch schlimmer. Um das Gefühl zu verstehen, stelle man sich vor, man steht mit zwei Quadratmeter großen Füßen ausgestattet mitten in einem Minenfeld.
Heiligabend kam. Der Abend war für Tanne kaum anders als all die anderen, aber für die Menschen schien er etwas besonderes zu sein. Sie saßen im Raum, freuten sich über in buntes Papier eingewickelte Staubfänger und das kleinste Kind wurde gezwungen zu singen. Und obwohl danach wohl jeder im Raum einen Tinitus hatte, wurde höflich geklatscht. Kurz darauf machten sich die Menschen nach dieser kurzen Zusammenkunft wieder daran ihren eigenen Wegen nachzugehen. Ihre Wege bedeutet hier, dass sie ihre Geschenke testeten oder sie weglegten, um sie nie wieder anzufassen. Außer sie wurden dazu gezwungen. Wie ein Damoclesschwert hing das Ende der Weihnachtszeit über Tanne. Denn so wie Tanne es verstanden hatte endete nach dieser Zeit die vorübergehende Existenz eines Weihnachtsbaums. Tanne kam das Wort inzwischen vor wie ein Fluch. Und eine Woche nach Weihnachten wurde ihr Todesurteil gefällt.
„Ich zersäge ihn einfach im Garten. Dann können wir ihn verfeuern. Ich meine wozu hat man denn einen Kamin? Das spart Energie.“
„Futter!“
Die Mutter stimmte zu und zog sich dann in die Küche zurück um zu murren, wohin er sich seine Energie stecken könne. Als Tanne das hörte, schnellte ihre Panik von „Oh mein Gott! Der Tisch brennt!“ auf „Oh mein Gott! Die Schwiegermutter kommt!“**.
„Nein! Oh verflucht! Nein, verdammt nochmal!“
„Hör auf zu schreien. Du kannst nichts dagegen tun.“
„Das sagst du so einfach! Du sollst ja auch nicht verbrannt werden, du...“
Tanne blickte den Weihnachtsstern an. Er wirkte traurig.
„Ich werde auch nicht ewig hier bleiben. Wenn die Menschen genug von dir haben, entsorgen sie dich. So ist das nunmal. Ich werd dich vermissen Kumpel.“
Dann kam der Vater, entfernte Tanne aus dem hässlichen Metallständer und brachte sie in den Garten. Das Zersägen merkte Tanne kaum, denn in ihrem vertrockneten Stamm und in den Ästen steckte nur noch wenig Leben. Und doch lebte Tanne noch, während sie in Stücke zersägt wieder in das Wohnzimmer gebracht wurde. Der Weihnachtsstern schenkte Tanne einen letzten traurigen Blick und aus der Ecke ertönte ein letztes „Futter?“, bevor sie in den Kamin gelegt wurde. Die Flammen fraßen Tannes Körper und verwandelten ihn in Asche. Und doch lebte ein Teil von Tanne noch. Ihr Selbst, der Teil der immer gewusst hatte wer Tanne war, stieg durch den Kamin empor auf einen grauen Himmel zu. Irgendetwas trieb die Überreste von Tannes Selbst durch die Luft und führte sie an den Ort wo sie ihr Leben gelebt hatte, bis zu jenem einigermaßen schicksalhaften Tag und sie dachte, dass Fliegen doch garnicht so schlimm war. Und während sie auf die so vertraute Lichtung zu schwebte, genoss sie die letzten Momente ihrer Existenz und war plötzlich der Meinung, dass ihr Leben doch garnicht so schlecht gewesen war.
Und so endete Tannes Leben und ein - für die meisten - recht frohes Fest.
*Natürlich können Bäume nicht in dem Sinne sprechen oder starren, aber sie verfügen über eine besondere Art von Kommunikation, die nicht so einfach in der menschlichen Sprache zu beschreiben ist und sich nicht 1 zu 1 übertragen lässt. Daher muss man auf primitivere Ausdrucksmittel ausweichen.
*Entschuldigung, aber irgendwo musste der Autor ein dummes Klischee einbauen.
Diese Geschichte ist schon etwas älter und entstand für einen Wettbewerb (den ich nicht gewonnen habe).