Oh, Kleiner Parzival
Achtundneunzig, siebenundneunzig, schlarp, schlarp. Zufrieden bohrte ich meinen Finger hoch hinauf bis unter die Augenhöhle und blinzelte in die laue Sommersonne, während meine andere Hand von meiner Mutter den Hügel hinunter in Richtung Städtchen gezogen wurde. Die Zahlen ratterten nur so in meinem Kopf, denn ich war voller Vorfreude. Mein erster Schultag!
Bislang hatte ich die meiste Zeit alleine mit meinen Eltern hier oben, hoch über dem Städtchen verbracht und konnte tagein, tagaus nichts anderes tun als zählen – bis eintausend war kein Problem – und Rittergeschichten zeichnen. Die Ritter waren zusammen mit den Engeln meine Lieblinge und kämpften ununterbrochen. Es floss reichlich Blut.
Nun, endlich, kam ich in die Schule. Endlich würde ich die Kämpfe erleben, die ich bisher nur zeichnete. Ich war unglaublich gespannt auf meine Schulkameraden.
Die Lehrerin, Frau Bogart, war eine grosse, hagere Frau mit strengem Gesicht, die uns an der Türe erwartete. Ich musste ihr die Hand geben und sie wollte wissen, wie ich heisse. Ich antwortete: „Parzival“.
Sie nickte kurz und wandte sich an meine Mutter. Es musste sich wie immer um etwas sehr Ernstes handeln, denn sie vergassen mich in Sekundenkürze. Ich versuchte die Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen, indem ich meiner Mutter in den Po zwickte, aber sie war ungefähr so empfindlich wie ein Baum: Hoch oben in den Wipfeln rauschte es weiter und unten machte sie keinen Mucks.
Ich jammerte leise vor mich hin und trollte weg.
Kaum hatte ich mich gesetzt, wurde eine mit rosa Schleife im Haar von ihrer Mutter mit den Worten „Aber lass dich nicht ablenken, Liebes“ neben mir in den Stuhl gedrückt. Ich blitze die Mutter, die aufs Dämlichste grinste, böse an. Noch nie hatte ich ein Mädchen getroffen, das sich für normale Dinge interessierte und nahm darum selbstredend an, dass irgendetwas an ihnen faul sein musste. Als wollte sie mein schlechtes Bild von Mädchen noch bestätigen, fing die rosa Schleife auch gleich an, ihre Stifte der Farbe nach auf ihrem Teil des Pultes zu ordnen. Ich beschloss, sie zu ignorieren und so bald wie möglich einen neuen Platz zu suchen.
Als die Eltern gegangen waren (meine Mutter hatte mich zum Abschied platschend auf die Stirn geküsst), ging es endlich los. Bebend wartete ich auf meinem Stuhl, wie ich auf diese erste Stunde brannte!
Was dann aber kam, war eine erste herbe Enttäuschung. Frau Bogart schien eine wahre Langsamstarterin zu sein oder einfach nur bemüht darum, uns auf die Folter zu spannen. Auf jeden Fall begrüsste sie uns zunächst einmal quer und lang auf die umständlichste Art und Weise und als sie damit endlich zu einem Ende gekommen war, ging es weiter mit dem Aemtchenplan. Ich hatte genug. Meine Aufmerksamkeit schweifte ab und blieb schon bald bei den zwei Bauernsöhnen neben mir hängen. Sie hatten kurze, stämmige Beine und stramme Arme. Ich musterte sie mit feurigem Blick. Mutter hatte mir zu Hause noch mit mahnendem Zeigefinger erklärt, ich solle mich ja von ihnen fernhalten, sie würden einen schlechten Einfluss auf mich haben und sich nur raufen wollen, doch sie schienen mir eine wohltuende Herausforderung zu sein.
Die erste Pause fiel leider auch ins Wasser, da Frau Bogart uns den Garten und das umliegende Gelände zeigen wollte. Wir sollten in Zweierreihe gehen und uns die Hände halten.
Zweihundert, hundertundachtundneunzig, hundertundsiebenundneunzig. Ich bohrte meinen Finger so tief es ging ich meine Nase, damit ja niemand auf die Idee käme, mir die Hand zu geben, doch Frau Bogart sagte nur, ich sei ein Schweinchen und reihte mich ein.
Der Garten des Schulhauses war mit vielen Bäumen und Sträuchern verwildert, unter denen man Verstecken spielen konnte. Frau Bogart erklärte uns, dass für jeden von uns ein kleines Nestchen mit einer Überraschung drin versteckt worden sei (Sie trampelte dabei fast auf eines, sie waren nämlich überhaupt nicht gut versteckt). Auf keinen Fall dürften wir aber die Nestchen vor Mittag suchen gehen. Die Mädchen kreischten vor Entzücken.
In der Zehnuhrpause durften wir endlich spielen. Es war besser als ich mir es je hätte erträumen können. Mit einer totalen Hingabe riss ich die anderen Jungen an mich und drückte sie zu Boden. Da ich für mein Alter schon recht gross und kräftig war, hatten selbst die kräftigen Bauernsöhne trotz erbitterter Gegenwehr keine Chance gegen mich. Wie Parzival vor sechshundert Jahren nahm ich mein neues Schulbuch als Schwert und donnerte es dem nächsten auf die Schulter.
Schon bald machten sich die ersten aus dem Staub und versteckten sich. Ich kümmerte mich zwar herzlich wenig darum und warf mich auf einen der tapferen Verbliebenen, doch keine zwei Minuten später stand ich alleine da auf weiter Flur.
Grimmig stapfte ich hinüber zur Gruppe, die sich beim Eingang versteckt hatte, um sie zu stellen. Als ich ihnen aber wieder näherkam, kreischten sie aufgeregt und rannten davon.
Ich war erstaunt. In meinen Büchern zu Hause waren die Gegner der Helden immer gerne bereit zu unterliegen. Ich wollte schon, mein Schwert schlagbereit über dem Kopf, ihnen wieder nachjagen, da kam Frau Bogert von hinten und nahm mir das Buch aus der Hand. Die Pause sei vorüber, ich solle mich an meinen Platz setzen.
Kribbelig sass ich auf meinem Stuhl. Mir wurde langsam klar, dass Schule Warten auf die nächste Pause bedeuten musste. Als es endlich läutete, wollte ich schon einen neuen Anlauf nehmen und mich auf den Erstbesten stürzen, da bemerkte ich, wie die Jungen zusammenstanden, auf mich zeigten und lachten. Furchtlos bahnte ich mir den Weg durch die herumstehenden Mädchen, die mit Puppen Familienleben spielten, hin zur Gruppe. Ich würde auch mit ihnen allen fertig werden!
Kaum kam ich jedoch in ihre Nähe, jagten sie wieder jauchzend davon und sammelten sich erst in sicherer Distanz zusammen. Verwirrt beobachtete ich die Gruppe. Nicht geliebt zu werden für das, was ich war und tat, war neu für mich. Enttäuscht warf ich das nutzlose Buch in die Ecke und lehnte mich an die Wand.
Neunundneunzig, achtundneunzig, fünfundneunzig. Zählend beobachtete ich die anderen Jungs, wie sie tuschelten und herschielten.
Als ich bei Vierundsechzig war, wurde es mir langweilig und ich ging hinaus in den Garten. Niemand war draussen, da sich die morgendliche Sonne schnell verzogen hatte und es nun stark bewölkt war. Bald würde es anfangen zu regnen. Um mich von den unangenehmen Erlebnissen abzulenken ging ich im Kreis und murmelte vor mich her.
Ich hatte schon alles um mich herum vergessen, als ich plötzlich vor einem Nestchen stand.
Es war gefüllt mit Schokoeier und anderen Süssigkeiten. Ich hob eines auf, um es näher zu betrachten. Ich kannte diese Sorte, Mutter hatte sie immer an Ostern mitgebracht, mit weicher Füllung und Nussstücken. Erste Tropfen fielen. Schon bückte ich mich, wild kauend, um das zweite Ei aufzuheben. Die anderen Süssigkeiten, mit Schokolade ummantelte Weinbeeren, Rahmbonbons und Gummifrösche, waren fast noch besser. Im Nu war alles Ratziputz weg und ich wischte mir zufrieden mit der Hand meinen Mund ab.
Nun laut dozierend marschierte ich weiter im Garten umher. Die Süssigkeiten hatten meine Lebenskraft wieder in Schwung gebracht. Mit aller Inbrunst gab ich meinem Unmut über die Hasenfüssigkeit meiner Schulkameraden Ausdruck. Die sollen nur warten, bis ich sie kriege!
Kaum zwei Kreise später stiess ich auf das nächste Nestchen. Gleich daneben war ein weiteres. Von da an ging es schnell. In kaum fünfzehn Minuten hatte ich die meisten geleert und mir war speiübel.
Ich trollte zurück ins Klassenzimmer und wollte erst mal ausruhen im Unterricht. Doch just als ich mich setzen wollte, packte mich jemand von hinten. Es war Frau Bogart. Ihr Ausdruck im Gesicht schien mich anzuschreien, obwohl ihre Lippen geschlossen waren. Mit aller Kraft hielt sie mich hinten am Kragen fest und zerrte mich nach draussen. Die Türe schletzte zu und eine Hand klatschte an meine Wange. Sie schrie etwas in einer schrillen Stimme, doch ich verstand nichts.
Etwas in mir stieg auf. Eine noch nie dagewesene Flut von Gefühlen übermannte mich. Die Demütigung, von dieser übermächtigen Figur geschlagen zu werden und nichts ausrichten zu können, der Schmerz, von aller Welt gehasst und geprügelt zu werden, die Enttäuschung, dass ausserhalb vom langweiligen Zuhause nicht die glorreichen Siege warteten. All das kumulierte sich in der Magengegend und stieg schnell aufwärts. Zuerst erreichte sie die Stimmbänder, die in ein sirenenhaftes Geheul erzeugten, dann die Nasenflügel, die anfingen stierähnlich Luft einzusaugen und schliesslich die Tränendrüsen, die Wasser im Uebermass bereitstellten. Ich riss mich von Frau Bogarts Griff los und torkelte davon, zickzack den Korridor runter. Ungebremst knallte ich gegen die Wand, stolperte wieder gegen die Mitte, nur um die andere Wand anzusteuern.
So ging das zweimal den Korridor runter und zweimal wieder rauf. Dann merkte ich, dass die Gefühle abzuflauen drohten. Alarmiert sah ich auf. Frau Bogart stand bestürzt und starr da.
Ich nahm nochmals tief Luft, drückte mit all meiner Kraft auf die Tränendrüsen und schrie: “Ich komme nie mehr in diese blöde Schule!“
Nach einigen Sekunden gespannter Stille öffnete Frau Bogart die Türe zum Schulzimmer, verschwand darin und schloss sie hinter sich wieder. Obwohl ich das Prinzip des Aus-dem-Schulunterrichts-gesperrt-Werdens noch nicht kannte, war mir klar, dass ich nun die Stunde alleine vor der Tür absitzen musste.
Ich setzte mich auf dem Boden und begann von neuem zu weinen. Ich vergrub meine Nase in den Händen und starrte auf die geschlossene Türe, die für mich in diesem Augenblick das Ausgeschlossensein von allem Leben bedeutete. Nicht mal zählen half mehr und so schniefte ich immer noch, als Ende der Stunde die Türe aufging und meine Klassenkameraden herausstürmten und zu den vor der Schule wartenden Müttern rannten.
Mutter war sofort klar, dass etwas nicht in Ordnung war, als sie das besorgte Gesicht von Frau Bogart und meine verheulten Augen sah. Ich musste schon wieder vor der Türe warten. Es ging aber nicht lange und die Türe wurde mit einem Ruck aufgerissen, meine Mutter kam energischen Schrittes heraus, schnaubte einmal hörbar und wedelte mit ihrer linken Hand in meine Richtung. Ich trabte ihren langen Schritten nach.
Am Abend erklärte mir Mutter, dass ich von nun an woanders zur Schule gehen würde. Da würde man mich nicht mehr schlagen. Ich pflichtete ihr mit vollen Backen bei. Es hatte Vanillepudding gegeben und ich war zufrieden.
Die neue Schule war in der grossen Stadt. Ich fuhr am Morgen mit Vater eine halbe Stunde hin und am Abend wieder zurück. Das machte Spass, weil Vater ein neues Auto hatte und ich das Kommando über die Radioknöpfe übernehmen durfte. PfffffPffffff.
Die Klasse war klein und bestand zu meinem anfänglichen Entsetzten aus drei Mädchen, einem Jungen, der aussah wie ein Mädchen, und mir.
Zu Beginn begrüssten wir den Tag mit dem Sonnengruss, wir tanzten die Buchstaben und auch sonst ging alles sehr harmonisch zu und her hier.
In der ersten Pause stand ich etwas verloren im Klassenzimmer und schaute mir meine neue Umgebung an. Weit und breit keine braungebrannten Bauernsöhne mit Narben an der Stirn. Eines der Mädchen kam, nahm meine Hand und führte mich zum Spielecken, wo die anderen schon in aller Eintracht „Gemüseladen“ spielten. Das war eigentlich das Letzte, was ich wollte, doch ehe ich mich versah, sass ich hinter dem Verkaufstresen und viele weiche Hände erklärten eifrigst, wie man Rüben verkauft.
Irgendwann war ich weichgekocht von all den säuselnden Stimmen und der allgemeinen Harmonie. Ich fing sogar an, meine Rolle zu geniessen. Auch, weil die Mädchen mir dabei zärtlich über die Schulter strichen und ihr blondes Haar immer wieder in mein Gesicht fiel.
So wurde ich also fünfmal die Woche jede Pause zum Gemüseverkäufer.
Ich band meine rote Schürze um, setze meine Verkäufermütze auf und wartete, bis es klingelte und die erste Kundin in mein „Parzivals Gemüseparadis“ eintrat.