Offline Leben - Glücklich Leben
Nie wieder Internet. Der Meteorit hat nicht nur sämtliche vorhandene Infrastruktur zerstört sondern auch das Magnetfeld der Erde verändert. Ein Internet, wie wir es kannten, wird nie wieder möglich sein. Die öffentliche Medienmitteilung hat uns alle komplett aus der Bahn geworfen. Nichts geht mehr, die Läden haben nicht genug Nachschub, die Banken sind kollabiert, tausende von Menschen sind arbeitslos. Der Bundesrat kämpft verzweifelt um die Kontrolle im Land und um eine neue Stabilität.
Und seit dieser Woche tut sich langsam etwas, neue Kommunikationssysteme werden aufgebaut, die Haushalte rüsten sich wieder mit Hausanschlüssen aus. Ein Problem, das bleibt, sind wir, die Jugend. Auf einen Schlag stehen wir ohne unsere virtuelle Welt da, ein Bestandteil unserer Persönlichkeit. Auch für die älteren Generationen ist dieses abrupte Ende eine anspruchsvolle Aufgabe, aber sie kannten ein Leben ohne Internet, Facebook, Whatsapp, Instagramm und Twitter. Wir nicht.
An einem nebligen Montag, während ich lustlos ein paar Müesliflocken kaue und traurig auf den schwarzen Bildschirm meines Handys starre, kommt meine Mutter herein, in der Hand eine Reihe Prospekte. „Ich habe etwas für dich und Lukas gefunden!“ Sie reicht mir das eine Blatt über den Tisch. „Back to the roots“ steht fett auf der Titelseite. „Hier lernt Ihr Kind offline zu leben. Kompetente Fachleute vermitteln den Jugendlichen Werte eines Daseins ohne Internet. Bei Fragen, rufen sie uns an!“ Entgeistert starre ich meine Mutter an, die sich mittlerweile ihre geblümte Schürze umgebunden hat und den Frühstücksabwasch anfängt. „Du willst mich doch nicht allerernstes dorthin schicken?“ „Doch natürlich, und dein kleiner Bruder kommt auch mit!“ Das ist nun endgültig zu viel! Ich werfe meinen Löffel hin und renne aus der Küche.
Drei Tage später steige ich an einem regnerischen Nachmittag aus dem Auto meiner Eltern. Ohne Navi haben wir uns sicher vier Mal verfahren und dementsprechend ist auch die Laune im Auto. Und meine wird nicht besser, als ich den Treffpunkt sehe. Vor einem alten Rathaus steht ein grosser Bus, bereits zur Hälfte voll mit Jungendlichen. Wir sind schon fast zwei Stunden in die Berge gefahren, wo soll das denn nun bitte noch hinführen. Lukas quengelt meine Eltern an und fleht um Gnade, doch sie bleiben unerbitterlich. Manchmal verhält er sich trotz seiner elf Jahre wie ein kleines Kind. Ich dagegen schiebe entschlossen das Kinn vor. Bringen wir es hinter uns! Eine mollige Frau in einem furchtbaren, geblümten Kittelkleid begrüsst uns und führt uns dann zu unseren Sitzplätzen. Ich sitze natürlich neben meinem Bruder. Grossartig! Die Fahrt dauert zwar nur etwa eine halbe Stunde, aber als wir aussteigen fühlen wir uns wie auf einem anderen Planeten. Rundherum nur Berge und ein paar trockene Gräser zwischen Geröll. Wir werden in einer kleinen Hütte untergebracht, Zimmer gibt’s nur zwei, eins für die Mädchen und eins für die Jungs, kochen müssen wir selber und fliessend Trinkwasser gibt es auch nicht, aber immerhin eine Toilette. Das Ganze erinnert mich stark an eine Survival-Klassenfahrt die wir einmal mit der Schule gemacht hatten.
Ich lasse meine Tasche auf das einfache Bett fallen und sehe mich um. Die übrigen Mädchen sind etwa in meinem Alter und wirken ebenso unmotiviert wie ich. Keine scheint Lust zu haben, sich mit mir zu unterhalten, also hole ich meinen Ipod heraus und stecke mir die Kopfhörer rein. „Nie wieder Youtube“, murmle ich wehmütig und strecke mich aus. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses Programm uns helfen soll, aber da ich nun ja doch hier bin, kann ich auch gleich versuchen das Beste daraus zu machen.
Schon bald klingelt eine Glocke, das Zeichen für uns um in den Speisesaal zu gehen. Ich folge den anderen und lasse mich in dem kahlen Raum zwischen zwei schweigsamen und irgendwie traurig wirkenden Mädchen nieder. Eine Frau in einem fruchtbaren, rot geblümten Kleid steht vor uns und fuchtelt wild in der Luft. „Sie alle sind hier, um ein Leben ohne Internet zu erlernen. Und wir können Ihnen dabei helfen, auch ohne Technik Fuss zu fassen. Aber dafür müssen Sie als Erstes einen Schritt in die richtige Richtung tun und sich helfen lassen. Es ist keine Schande, dass Sie jetzt orientierungslos sind, aber Sie müssen etwas dagegen tun wollen! Wenn sie unfreiwillig hier sind, dann gehen Sie. Und zwar gleich.“ Die grauen Locken der resoluten Dame wippten bei jedem ihrer Worte und scheinen sich nun kaum mehr beruhigen zu wollen. Nach diesen beherzten Sätzen entsteht ein Gemurmel im Saal, dann erheben sich tatsächlich einige und gehen. Einen Moment überlege ich mir, ihnen zu folgen, dieses ganze seltsame Lager einfach wieder zu verlassen, aber etwas hält mich zurück. Zum einen mein kleiner Bruder, ich kann ihn ja nicht einfach allein lassen, aber da ist noch etwas anderes. Ich will tatsächlich lernen, wie ich mein Leben auch ohne all die virtuellen Möglichkeiten, die uns die Zukunft versprochen hatte, sinnvoll leben kann. Gespannt höre ich der Frau zu, wie unsere nächsten Tage aussehen werden und als ich zusammen mit den anderen Mädchen in den grossen Schlafraum zurückgehe, fühle ich zum ersten Mal seit dem Kollaps des Internets wieder etwas wie Tatendrang und Aufregung in mir.
Beim Abendessen herrscht eisiges Schweigen, niemand scheint meine Vorfreude zu teilen. Ich spreche mit einigen der anderen Mädchen, aber ihre einsilbigen Antworten lassen die Gespräche jeweils rasch erlahmen. Als ich mich schliesslich ins Bett lege, ist auch mein Tatendrang wieder erlahmt und ich rolle mich traurig zu einer Kugel zusammen.
Warmes Sonnenlicht weckt mich. Durch die grossen Fenster des Schlafsaals fallen Strahlenbündel und malen helle Flecken auf den abgenutzten Holzfussboden. Die meisten anderen schlafen noch, also stehe ich leise auf und gehe nach draussen. Die Aussicht ist wirklich nicht schlecht und ich will schon mein Handy zücken, um meinen Freunden ein Bild zu schicken. Meine Hand verharrt in der Luft, als mir wieder einfällt das das nicht mehr möglich ist. Schliesslich nehme ich es doch heraus und schiesse einige Fotos, halt nur für mich. Beim Frühstück werden wir in kleine Gruppen eingeteilt und bekommen einen Betreuer oder eine Betreuerin. Ich und fünf andere Mädchen werden einer spindeldürren, langbeinigen Frau mit langen blonden Haaren zugeteilt. Sie stellt sich als Milena vor und geht mit uns als erstes nach draussen. Wir besprechen, was wir am offlinen Leben am meisten vermissen und dann suchen wir gemeinsam nach Alternativen. Zugegeben, einige Möglichkeiten sind nicht wirklich das Gelbe vom Ei, aber ich bin begeistert. Briefe schreiben statt Whatsapp, anrufen wenn man etwas braucht statt kurz ein SMS schreiben, Fotoabende machen statt immer gleich jeden Schnappschuss zu verschicken. „Ich kann nicht behaupten, dass es für alles einen Ersatz gibt, aber die Tatsache, dass ihr nun wieder mehr von Hand machen müsst, ist nicht nur ein Nachteil. Wer freut sich nicht über einen handgeschrieben Brief?“ Ich kann ihr nur zustimmen, die Vorstellung von Briefen und Fotoabenden mit Freunden hat etwas Gemütliches. „Es dauert wohl noch einen Moment, bis eure Briefe auch ankommen, denn die Post muss ihr Verteilsystem umstellen, aber schon bald könnt ihr eure Liebesbriefe aufgeben.“ Einige Mädchen kichern. Langsam schmilzt das Eis zwischen uns und wir beginnen Erfahrungen auszutauschen. Die nächsten Tage werden intensiv, aber sehr spannend. Um nicht alle Ratschläge wieder zu vergessen, beginne ich eine Art Handbuch zum offlinen Leben zu führen. Anfangs unterhalten wir uns vor allem über die direkten Auswirkungen, also vor allem die Kommunikationsdienste, aber später widmen wir uns auch den indirekten Auswirkungen auf unser Leben zu. Wir lernen zum Beispiel uns ohne GPS zurecht zu finden oder wo wir uns Informationen holen können. Wir sprechen auch über das nun veränderte Jobangebot und unsere Zukunft. Am fünften Abend sitzen Samantha, Isabelle, Zoe und ich noch eine Weile zusammen. Selina und Nina, die anderen beiden Mitglieder unserer Gruppe sind noch immer ziemlich distanziert und liegen bereits in ihren Betten. Wir haben uns nach dem Beginn der Nachtruhe wieder raus geschlichen und erklommen dann einen kleinen Hügel neben der Hütte. Die Nacht ist kühl und klar, man sieht tausende Sterne. Wir plaudern eine Weile, dann meint Zoe schliesslich: „Wisst ihr was? Wir sollten eine Firma gründen und unser Wissen weitergeben. Wir könnten eine Beratungsstelle aufbauen.“ „Und wer bitte schön braucht schon unsere Beratung?“ Samantha hatte die Augenbrauen hochgezogen und wirkt ziemlich skeptisch. „Überforderte Eltern zum Beispiel. Nicht alle wollen ihre Kinder in ein solches Camp schicken, aber sie brauchen vielleicht trotzdem Hilfe um ihrem Nachwuchs eine sinnvolle Zukunft zu vermitteln.“ „Oder wir könnten auch Schulen besuchen und Lehrer unterstützen.“
Einen Monat später schliesse ich voller Stolz die Tür unseres kleinen Büros ab und mache mich auf den Heimweg. Unsere Eltern waren unserer Geschäftsidee ziemlich skeptisch gegenüber gestanden, aber da wir einen billigen Raum gefunden hatten und kaum Startkapital benötigten, hatten sie schliesslich zugestimmt. Und es lief wunderbar. Zu unserem Team war noch Flora gestossen, sie war technisch begabt und sprühte regelrecht vor Kreativität. Dank ihr hatten wir unser Angebot auf die Beratung kleiner Firmen ausweiten können, denen wir halfen sich ohne Internet zu organisieren und zu vermarkten. Aber auch unsere eigentliche Tätigkeit war sehr gefragt, viele Eltern setzten Hoffnungen in uns, weil wir nicht viel älter waren als ihre Kinder und meistens waren wir auch tatsächlich erfolgreich. Natürlich nicht immer, aber die Quote war nicht schlecht. Wir besuchten Schulen, wir führten Workshops durch und für einige besonders schwere Fälle hatten wir sogar eine Art Selbsthilfegruppe aufgebaut. Gelegentlich stossen wir wegen unserem zarten Alter aber auch auf Skepsis und Ablehnung. Einige Lehrer und Eltern konnten sich nicht vorstellen, dass wir reif genug sind um unser Wissen an andere weiterzugeben und werfen uns immer wieder vor, die Kinder manipulieren zu wollen. Aber solche Reaktionen sind in der Regel doch eher eine Ausnahme. Als ich zuhause ankomme, mir einen Tee aufsetzte und mich in einem Sessel niederlasse, spielt ein feines Lächeln um mein Gesicht. Der Kollaps des Internets, der anfangs für mich wie ein Weltuntergang ausgesehen hatte, war zu einem Glücksfall für uns geworden. Mir war klar, dass es unsere Beratungsstelle nicht ewig brauchen würde, spätestens wenn die nächste Generation kam würde „Offline leben – Glücklich leben“ nicht mehr nötig sein, aber bis dahin wollten wir die Möglichkeit nutzen, den anderen zu Helfen und uns ein eigenes Leben auf zu bauen.