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Offener Brief an eine Heilanstalt
Sehr geehrter Herr Oberstudienrat, liebe Lehrer
anlässlich der anstehenden Abiturprüfungen schreibe ich ihnen diesen Brief, damit sie eine weitere Komponente bei der Bewertung meiner Prüfung berücksichtigen können. Doch zunächst möchte ich Ihnen den Verlauf der Geschichte näher legen, damit sie mich, sowie alle Einzelheiten, die zu meiner Annahme eine neue Bewertungskomponente einzubeziehen, führten, gänzlich verstehen können:
Das Ereignis, welches die Komponente bilden wird, die ich bereits erwähnt habe, die der Berücksichtigung bedarf, ereilte mich in der zweiten und somit auch letzten Woche meiner Lernzeit, die sie, lieber Herr Oberstudienrat, großzügig ihren Abiturienten gewähren. Ich war mit meinem Kopf auf meine Unterlagen gesunken und zwischen Goethe und Büchner in Schlaf verfallen, der mich aufgrund der unsäglichen Erschöpfung vergangener Lernabende ereilt hatte. Natürlich ist es auf mein eigenes Verschulden zurückzuführen, dass ich eine solch immense Menge von Nachholbedarf im Stoff habe; ich habe das ausführliche Lernen an vorhergegangenen Tagen zu meinem Bedauern nicht wahrgenommen.
Irgendwann, während meiner weltlichen Abstinenz, entstand auf der Interpretationsgrundlage zu Woyzeck von Karl Vietor eine Rauchwolke aus dem Nichts, begleitet von einem „Flaschen-öffnen“ ähnlichem Plöp. Die Rauchwolke verzog sich langsam und es kam ein 30 Zentimeter großer Miniatur Tabourmajor in voller Rüstung zum Vorschein, der weißlich transparent, herrlich fluoreszierend, auch noch Engelsflügel auf dem Rücken trug. Der blickte etwas verächtlich zu mir hinauf, als sich auf der etwas weiter rechts von ihm liegenden Evolutionstheorie von Charles Darwin ein ähnliches Spektakel abspielte. Ein im tiefen Rot schimmernder kleinst Woyzeck kam diesmal aus der Rauchwolke, der mit gesenktem Haupt den Major begrüßte.
„Woyzeck“, sagte dieser, „nun schau man sich diesen faulen Kasus an. Es stehen Prüfungen und Aufgaben an, die ihn in der staatlichen Ordnung voran bringen könnten, doch er liegt nur da und schlummert ungerecht.“
„Ach Herr Major, mir ist’s leid, sich ewig diesem Gespräch beugen zu müssen.“
„Woyzeck! Ewig ist’s, wenn etwas ewig ist. Er spreche nicht von Dingen, die ihn nichts angehen.“
„Jawohl, Herr Major.“
Der Major tat einen Schritt auf das riesenhafte Buch von Franz Kafka und hing seinen Rock, den er langsam auszog, an die Kante des Buches.
„Nun siehe er da Woyzeck! Dieser prächtige Rock ward mir gegeben, als ich die Franzosen am Rhein bekämpfte. Nicht als ich über meinen Büchern schlief. Mir kommt’s weinen, wenn ich diesen prächtig’n Rock anschau.“
„Herr Major, ist’s nur ein Stück Stoff, das man nicht essen kann.“
„Schweig Woyzeck, er ist nur ein Frisör. Und nun komme er und tut seinen Dienst als Frisör!“
„Nicht heut, Herr Major, ich bin auf Erbsendiät.“
„Dann mach’n wir’s halt anders rum!“
Sie sehen, lieber Herr Oberstudienrat. Der Wille zu Lernen und die Begeisterung waren da. Doch, während alle meine Schulkameraden von ihrem Gewissen geplagt wurden, traf sich mein Gewissen, während einer angesprochenen Schlafperiode und arschfickte.
Untergebenst, ihr dienstbarer Schüler