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Ocean
Ocean
Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, seitdem die Sonne in den Wogen des Meeres verschwunden war und nun ihre letzten Strahlen durch das Bullauge der Tür von Pauls Pub warf. Ich hing auf einem Barhocker und trank ein Bier, während ich mich vom Rauch der Zigaretten und dem Duft alten Leders umhüllen ließ. Der Pub war weder gut gefüllt noch menschenleer. Vielmehr eine eine harmonische Mischung aus Hafenarbeitern, die sich an ihrem Feierabendbier gütlich taten und ein paar Männern, an denen bereits der Kuss des Schlafes haften geblieben war. Ich nahm einen letzten Zug von meiner Zigarette und drückte sie halbherzig in einem Aschenbecher aus, sodass sie noch weiter vor sich hin qualmte. Als die Tür des Pubs aufgestoßen wurde, erstarb auch das letzte Leben meiner Kippe und das Aroma von Algen und Diesel mengte sich der stickigen Luft bei. Ein Mann betrat das Lokal. Er warf seine abgewetzte Lederjacke an einen Haken der Holzwand, an dem sie wie ein großer Fetzen Kadaverreste baumelte. Dann wuchtete er sich auf den Hocker neben mir. "Wie immer, Chef?", fragte die Kellnerin ihn freundlich. "Ja, aber bitte einen Doppelten", brummte er in seinen grauen Vollbart. "Ach, und noch ein Bier für meinen Freund hier neben mir." Er deutete mit seinen ölverschmierten Daumen auf mich. Ich hob eine Augenbraue und schaute ihn ein paar Sekunden lang an, um sicherzugehen, dass ich den Mann wirklich nicht kannte. Er bemerkte meine Skepsis und entblößte eine Reihe gelber Zähne als er mich erwartungsvoll anlächelte. "Du magst hoffentlich noch ein Bier, mein Junge?" Ich wusste nicht, was ich von der großzügigen Geste halten sollte, doch ich nickte zaghaft während ich meine Flasche leerte. Die Kellnerin kehrte mit einem Glas Whiskey und einem Bier, das sie unwirsch vor mir servierte, zurück. „Ach,… und Paul?",hob sie an und ignorierte das begonnene Gespräch zwischen mir und ihm. „Tut mir leid wegen Ocean." Sie bedachte den alten Mann mit einem bedauernden Blick und strich ihm kurz über die Hand. Er quittierte dies mit einem müden Lächeln und kratzte sich am Hals. „Ihre Zeit war gekommen, aber danke, Lilly." „Ich bin für dich da, falls du was brauchst." Sie schnappte sich meine alte Flasche und kümmerte sich um ihre anderen Gäste. Als ich der davongehenden Kellnerin hinterherschaute, wanderte mein Blick zu einem Bild über der Theke. Es zeigte einen Fischkutter, der vor Anker lag. Ein Dutzend Männer und ein paar Frauen standen an der Reling und winkten dem Schöpfer der Fotografie zu. Ich erkannte einen der Männer als Paul, der triumphierend eine Faust in die Luft hob. Auf der Außenseite des Schiffes prangte in grazilen Buchstaben der Name „Ocean". „Das war Ihr Schiff, oder?", fragte ich ihn und zündete mir eine Zigarette an. Er folgte meinem Blick und nickte schwach. „Dann gehört Ihnen auch der Pub, nehme ich an." „Richtig. Ist schon paar Jährchen her, dass ich diese Spelunke eröffnet habe", schmunzelte er. Er zupfte eine Zigarre und eine Schachtel Streichhölzer aus seiner Brusttasche. Eine Schwade Rauch stieg langsam zur Decke auf als er die Zigarre anzündete. Es roch nach Vanille. „Das war relativ zeitgleich, als ich den Pub eröffnete und mit Ocean zur See fuhr. War ´ne schöne Zeit." Paul blickte gedankenverloren auf das Bild. Ein großes Stück Asche viel von seiner Zigarre auf den Tresen, allerdings beachtete er es nicht weiter. „Ocean war immer dabei. Egal, wo es hinging." Paul wandte den Blick ab und leerte sein Glas mit einem Zug. „Und Ihr Kahn fährt nicht mehr?" Paul schaute mich verwirrt an, als hätte ich ein Geheimnis offenbart. Dann jedoch strich er sich behutsam über den Bart und hob seine Hand um Lilly zu signalisieren, dass er noch einen Whiskey wünschte. „Ja, richtig, hat Lilly wohl schon jedem erzählt", murmelte er klanglos. "Hat vor kurzem den Geist aufgegeben. Was für 'ne Ironie… " Ich verstand nicht recht, aber ging nicht weiter auf seine Aussage ein. Wir saßen noch etwa eine Stunde im Pub und unterhielten uns über Nichtigkeiten wie Wetter oder Politik, als Paul seinen Zigarrenstummel auf die Kante meines Aschenbechers legte und von seinem Hocker aufstand. "So, es wird Zeit für mich. Morgen geht's früh raus. Und ich hab' noch nicht mal den Anzug gebügelt." Mein mittlerweile drittes Bier und etliche Zigaretten hatten einen angenehmen Nebel in meinem Kopf verbreitet und ich begriff nicht auf Anhieb, was Paul meinte. "Anzug?", fragte ich und schaute ihn mit glasigen Augen an. "Ja, mein Junge. Anzug.",erwiderte er trocken, wobei ein Schleier von Trauer seine Augen zu ermatteten schien. "Wofür den Anzug?", säuselte ich verlegen, mit der Angst, ich hätte ihm nicht richtig zugehört. Er schüttelte lächelnd den Kopf und warf ein paar Scheine auf den Tisch. "Bestell' dir, was du noch magst, und danke für das Gespräch, Jungchen", sagte er und klopfte mir herzlich auf die Schulter. Er schaute nochmals auf das Bild über dem Tresen. Doch dieses Mal schien es so, als fixierte er nicht das Bild als Ganzes sondern etwas Bestimmtes darauf. Eine Träne lief über seine Wange, doch Paul wischte sie hektisch weg und drehte sich um. Er schnappte seine Jacke und ging zu Tür. "...für die Beerdigung. Ich brauch' ihn für die Beerdigung, mein Junge." Paul schenkte mir ein letztes Lächeln und verschwand hinter der massiven Tür seines Pubs. Eine Brise der hereingebrochenen Nacht erfüllte kurzzeitig den Raum mit dem Duft frischen Regens und modrigen Holzes. Der letzte Rest Asche von Pauls Zigarre war bereits heruntergefallen und qualmte nun selig in meinem Aschenbecher vor sich hin. Ich schenkte alledem keine Beachtung. Mein Blick ruhte geistesabwesend auf einer Person. Sie lächelte mich von weit oben über dem Tresen an. Einer ihrer Arme ragte jubelnd in die Höhe, während der andere zärtlich die Hand griff, die Paul ihr um den Bauch gelegt hatte. "Ocean", flüsterte ich und schloss die Augen.