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Obstolon
Als Peter bemerkte, dass er den Kühlschrank offen gelassen hatte, war es bereits zu spät, denn noch bevor der erste Tropfen des Erfrischungsgetränkes das Innere der verheißungsvoll kühlen Plastikflasche verließ und auf seiner vor Durst und Trockenheit ausgedörrten Zunge landete, kippte er nach hinten über und fiel rücklings in den Sand, wo er reglos liegenblieb, was auf akustischer Seite lediglich durch ein leises Zischen untermalt wurde, als ebenjener Tropfen nämlich auf seinem Kinn landete und auf der Stelle verdampfte.
Der Rest war Stille.
"Trottel! Ich hab ihm gesagt, er soll es sich einteilen."
"Ja, das hast du." Ich kniete mich vor den offenen Kühlschrank und genoss den angenehmen Hauch aus seinem Inneren. Faustregel: Wenn du in einem Flugzeug mitten über der Wüste abstürzt und dich dann mit den einzigen beiden anderen Überlebenden, jeder eine Flasche Wasser und ne Packung Salzstangen als Wegzehrung, durch den Sand schleppen musst, dann stecke verdammt nochmal deinen Kopf in jedes erstbeste Kühlfach, das du unterwegs findest.
"Ich meine, was hat er erwartet? Dass wir mal eben ne Stunde durch die gottverlassene Wüste laufen und nen Swimmingpool finden?" Herr Hagen, 42, Handelsvertreter aus Gütersloh, schwenkte triumphierend seine halbvolle Wasserflasche in der Luft. Scheinbar ist er in seinem früheren Leben Kamel gewesen. Oder Schwamm.
"Weiß nicht", sagte ich und wühlte in den Fächern des Kühlschranks. "Fanta?"
"Was?"
"Ob du eine Fanta willst. Das Ding ist voll davon."
"Mandarin?"
"Limette."
"Da würd ich ja lieber Sprite trinken." Würde man einen Schalkefan fragen, ob er eher Bayern oder Dortmund die Meisterschaft gönnt, würde er in genau dem selben Tonfall antworten. Was man übrigens noch hören konnte, war ein schabendes Geräusch, als würde sich etwas von unten durch den Sand graben. Verursacht wurde dieses Geräusch von einem Mann, der sich in diesem Moment von unten durch den Sand grub. Scheinbar hatte er da unten eine Höhle oder so.
"Machen Sie auf der Stelle den Kühlschrank zu!", brüllte er und hielt einen dicken Stein bedrohlich über seinem Kopf erhoben. Das war übrigens das einzige, was er trug.
"Steht da ein nackter Mann und droht uns mit nem Stein?", raunte Herr Hagen in meine Richtung und ich nickte. Dann schloss ich gehorsam den Kühlschrank, denn es war ein ziemlich großer Stein. Mit Kanten.
"Warum kann ich Ihren Penis sehen?", stellte mein Begleiter dem Fremden also die einzig legitime Frage.
"Kleidung stört den Fluss des Empfindens. Außerdem ist es heiß."
"Ja. Aber dann kriegt man doch Sand in jede... also, ich meine... so überall. Rein."
"Ich bin Tim", sagte Tim und ließ den Stein sinken. "Aber in diesen Kreisen bin ich eher bekannt als Quantog Bar Hoptheh. Freunde nennen mich Ruptar."
"Was bedeutet das?", konversierte Herr Hagen sich um die offensive Nacktheit seines Gegenübers herum und zog dabei alle Register seines handelsvertretersichen Könnens.
"Keine Ahnung. Ich bin ganz alleine hier, also konnte ich niemanden danach fragen."
"Aber irgendjemand muss Ihnen den Namen doch gegeben haben."
"Ja, das war ich selbst."
"Und Sie wissen nicht, was er bedeutet?"
"Wie gesagt, es ist niemand hier, den ich fragen könnte." Tim legte die Stirn in Falten. "Ich finde das sehr verwirrend."
"Danke", sagte ich und meinte es so. Immer schön, wenn man in seinen Eindrücken bestätigt wird. "Kann ich ne Fanta?"
"Sie können den Kühlschrank nicht öffnen!", sagte Tim.
"Doch, ist ganz einfach." Ich demonstrierte die Funktionsweise der Türscharniere. Auf, zu, ganz leicht. "Hören Sie, Tim..."
"Bitte. Ruptar."
"Ruptar. Ich will wirklich nicht unhöflich erscheinen, aber wir stehen hier mitten in der Wüste und mein Gaumen fühlt sich an, als hätte der Hulk persönlich ihn ausgewrungen. Ich brauche dringend Flüssigkeit." Ich zeigte ihm meine Wasserflasche aus dem Flugzeug, die inzwischen auch komplett leer war. Ich war in meinem früheren Leben Meerschweinchen.
"Nein, Sie verstehen nicht! Es geht einfach nicht. Ich bin noch gar nicht bereit."
"Bereit?"
"Mein Training. Zwanzig Liegestütze, dreißig Kniebeugen und einmal um die Düne dort drüben rennen. Dann erst kann ich den Kühlschrank öffnen."
"Wenn es bedeutet, dass ich dann eine Fanta kriege, mache ich auch gerne vorher Sport." Wir legten uns also zu dritt auf den heißen Sand und liegestützten, kniebeugten und dünenumrundeten, dass es eine Freude war. Schwitzend und schnaubend öffnete ich danach den Kühlschrank und genoss den kühlenden Effekt eiskalten Zuckersaftes in meinem Mund.
Nicht lange, denn danach gab es ein Geräusch. Es klang, als würde sich ein Monster von unten durch den Sand nach oben buddeln, wobei auch genau das der Fall war. Es war mindestens zehn Meter groß, hatte zwei paar Arme, zwei Beine, einen großen Kopf mit mehr Zähnen drin als meiner Oma fehlten, eine dicke Beule am Hinterkopf und es war von Kopf bis Fuß mit Obst bewachsen. Bananen, Äpfel, Birnen, Mandarinen, Melonen, Kiwi, Ananas, wie ein gemischter Fruchtsalat. Ohne von der Buddelei sonderlich angestrengt zu sein, hob es den Kopf in den weintraubenverzierten Nacken und brüllte, dass die Heide gewackelt hätte, wenn denn eine da gewesen wäre.
"Ich nenne ihn Obstolon", sagte Ruptar. "Er ist mein bester Freund."
"Klar." Herr Hagen versuchte, sich hinter einem Sandkorn zu verstecken und fiel in Ohnmacht. Sinnlos, aber mangels Alternativen eine Option, die mir auch kurz im Kopf rumgeschwebt hatte.
"Wie zum... ich meine, was zu... Ich meine... Hä?", brabbelte ich stattdessen.
"Er wird durch den Geruch der Limetten angelockt. Glaube ich. Jedenfalls kommt er immer dann, wenn ich den Kühlschrank öffne, trinkt eine Fanta und geht wieder." Und tatsächlich. Nachdem der Obstolon eine Weile mit Brüllen verbracht hatte und das klauenbewehrte Armpaar mehrmals effektvoll auf den Boden hat trommeln lassen, nahm er das andere Paar Hände und griff in den Kühlschrank. Es waren die Hände einer Klavierspielerin. Klein, feingliedrig, sauber manikürt und sicher sehr weich und angenehm. Vielleicht war das hier das albernste Monster, das ich jemals gesehen hatte.
"Und dann", fuhr Ruptar fort, "werfe ich ihm diesen Stein an den Kopf, wodurch er bewusstlos umfällt und klaue ihm Bananen. Oder auch mal eine Kiwi. Je nachdem, worauf ich gerade Lust habe." Er hielt auf einmal ein Schweizer Taschenmesser in der anderen Hand und Gott allein weiß, wo er das hergeholt hatte. "Ja, das ist nicht nett, aber von irgendwas muss man schließlich leben. Und es schmeckt alles ganz hervorragend."
"Ja, da gehe ich jede Wette ein."
"Nur an die Kokosnüsse habe ich mich noch nicht rangetraut."
"Kokosnüsse sind aber doch gar kein..."
Anstelle einer Antwort schmetterte Ruptar dem Obstolon den Stein an den Hinterkopf. Der stutzte kurz, hielt sich mit der Pranke die Einschlagstelle, machte ansonsten aber keine Anstalten, bewusstlos umzufallen. Oder überhaupt irgendetwas Bewusstloses zu tun. Er drehte lediglich den Kopf und ließ ein weiteres Brüllen erklingen. In unsere Richtung.
"Ich glaube, ich habe da jetzt einen Denkfehler gemacht", sagte Ruptar. "Vielleicht hätte ich ihn nicht immer an der selben Stelle treffen sollen. Er hat über die Zeit sicher Hornhaut gebildet."
"Das wäre nicht das Unwahrscheinlichste, was ich heute gesehen habe", stimmte ich zu, überdachte kurz meine Optionen und nahm dann die Beine in die Hand. Klar, das war ziemlich feige und ich bin rückblickend auch nicht besonders stolz darauf, aber schließlich bin ich auch kein Held oder so. Mut ist etwas, was nur dummen und toten Menschen passiert, sage ich immer. Und mit so einem Obstolon war ganz sicher nicht zu spaßen. Auch wenn das alles war, was ich über diese Spezies wusste, war ich mir dessen sehr sicher.
Noch sicherer wurde ich mir, als ich aus der Ferne sah, wie das Monster Ruptar mit einem Happs den Kopf abbiss, den Kühlschrank schloss und wieder unter dem Sand verschwand.
...
"Habe ich viel verpasst?", fragte Herr Hagen. "Als ich bewusstlos war, meine ich."
"Nein. Nein, da ist dann eigentlich gar nicht mehr soviel passiert. Ruptar ist tot."
"Wie der Peter. Es ist schon erstaunlich. Ich meine, es ist soviel Zeug passiert, dass ich noch nicht einmal richtig wahrgenommen habe, dass der vorhin einfach verdurstet ist."
"Seltsamer Gedanke."
"Ja. Der Sand macht einen ganz wuschig. Komm, lass uns Zivilisation finden."
Wir standen auf, suchten das Stromkabel des Kühlschranks im Sand und folgten ihm. Irgendwo am anderen Ende musste schließlich eine Steckdose sein.