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Obst geht immer
Das Einkaufszentrum liegt in einem kaum beachteten Stadtteil im Norden meiner aufstrebenden Heimatstadt im Ruhrgebiet. Alte Zechensiedlungen ducken sich zwischen Fünfziger-Jahre-Betonkästen. Einzelne Straßenzüge erinnern mit farbenfrohen Fassaden stuckverzierter Altbauten an die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg.
Neben Dönerbuden, Sonnenstudios und Internetcafés behaupten sich seit einiger Zeit orientalische Lebensmittelgeschäfte. Sie riechen nach Oliven und Minze. Und nach etwas, das ich nicht einordnen kann. Fremd und vertraut zugleich. An vielen Ecken des Viertels gibt es immer noch die unverwechselbaren Trinkhallen, wo alte Männer sich die Zeit vertreiben. Rauchend. Bier trinkend. Sie sprechen über Fußball und das Leben an und für sich. Der Satz Ich geh ma eben anne Bude kann jeden Zeitraum von zehn Minuten bis fünf Stunden meinen.
Es gibt auch ein Einkaufszentrum, einen altmodisch soliden Gebäudekomplex aus den sechziger Jahren. Er hat nichts gemeinsam mit dem Hochglanz-Shopping-Palast, der in der City am Ende der Fußgängerzone lauert - einem gigantischen Ufo nicht unähnlich - und mit einer unüberschaubaren Warenfülle und angesagten Labels protzt.
Obwohl es nichts Großartiges darstellt mit seiner C&A-Filiale, seinen Bäckereien und Friseuren, der Buchhandlung und dem Drogeriemarkt, ist das kleine Einkaufszentrum ein Anziehungs- und Treffpunkt für die Bewohner des Stadtteils. Sie kommen, um gesehen zu werden, um zu plaudern, zum Kaffeetrinken, zum unverbindlichen Stöbern und natürlich um einzukaufen.
Grüppchen von Teenies mit Smartphones oder den Kopfhörern ihrer MP3-Player im Ohr, treffen sich hier und stehen lachend bei Mc Donalds. Sie wirken immer ein bisschen aufgekratzt. Rentner aus dem nahegelegenen Seniorenzentrum sitzen auf den Bänken und beobachten das Treiben.
Das Center-Management bietet regelmäßig neue Attraktionen an, die meist einen altmodisch schlichten Charme haben.
Mal laden eckige Oldtimer zum Probesitzen ein, ein anderes Mal kann man sich an den Scheiben großer Terrarien die Nase platt drücken und zwischen den üppigen Pflanzen Reptilien und exotische Insekten entdecken.
Die meisten Kunden drängen sich gewöhnlich in den Bäckereien, oder bei McDonalds und ganz besonders in der großen, modernen Center-Apotheke. Apotheken haben scheinbar immer Hochkonjunktur.
Ich komme gerne hierher, lasse mich durch die Ladenstraßen treiben und stöbere in Geschäften, deren Sortiment mir vertraut ist, weil es sich im Laufe einer Saison nur unwesentlich verändert.
Manchmal setze ich mich in das italienische Eiscafé und bestelle einen Cappuccino.
„Mit aufgeschäumter Milch oder mit Sahne“, fragt die Bedienung jedes Mal.
Beim ersten Mal wies ich darauf hin, dass ein Cappuccino mit Sahne strenggenommen kein Cappuccino mehr sei, sondern einfach ein Kaffee mit Sahne. Seitdem weiß ich, dass die Gäste hier im Stadtteil Sahne auf ihrem Cappuccino erwarten und enttäuscht sind, wenn sie nur eine Milchschaumdecke in ihrer Tasse finden.
Italien ist weit.
Vor dem Springbrunnen im Erdgeschoss stehen Kindern.
Die offenen Münder und leuchtenden Augen erinnern daran, dass es eine Zeit im Leben gibt, in der fast alles ein Wunder sein kann.
Wann genau verlernt man eigentlich das Staunen und nimmt die Magie im Leben nicht mehr wahr, denke ich während ich mich zu ihnen geselle und mich in das Spiel der farbig angeleuchteten Wasserstrahlen vertiefe.
Die Kleinen lachen und johlen. Die Mütter rufen „Fall da nicht rein!“
„Nicht auf dem Beckenrand laufen“, oder „Komm jetzt. Die Mama will weiter, du kriegst auch ein Eis“.
Der Springbrunnen hat eine Intervallschaltung. Nachdem abwechselnd mal von links, mal von rechts einige sprudelnde Bögen das blau geflieste Becken überflogen haben, entsteht eine abrupte Pause, in der das Wasser unbewegt glitzert.
Stille.
Die Kinder scheinen die Luft anzuhalten, bis der erste Wasserstrahl mit einem lauten Zischen wieder einsetzt und seinen leuchtenden Bogen über das Becken schlägt. Dann brechen sie in Kreischen und Gelächter aus.
Ich kehre dem wässrigen Schauspiel den Rücken und schlendere weiter. Vor der Parfümerie steht eine perfekt geschminkte Verkäuferin. Sie drückt mir eine parfümierte Feder in die Hand. Ich schnuppere .
Der Duft heftet sich mit Wucht auf meine Nasenschleimhaut. Süß und schrill. Ich lasse die Feder in der Tasche meines Parkas verschwinden, wo sie mit pinker Lust ihre Duftwolke verströmt.
Neben der Parfümerie, im Eingangsbereich der Buchhandlung, sind die üblichen Tische mit preisreduzierten Mängelexemplaren aufgebaut. Auf hohen Stapeln liegen sie dort. Seit Monaten scheinbar unvermindert. Die Ergebnisse ungebremster Schreiblust vieler Autoren. Ich versuche jedes Mal die Mängel der einzelnen Bücher zu entdecken, nehme sie prüfend in die Hand, blättere, wende, lese. Die Einbände sehen neu und unversehrt aus, weder umgeknickte Ecken, noch Kratzer, noch Transportspuren stören die Makellosigkeit. Der einzige sichtbare Makel, der jedem Werk anhaftet, ist der Stempel auf dem Schnitt, der es unwiderruflich als Mängelexemplar ausweist. Ich entscheide mich für einen Krimi.
Beim Weitergehen fällt mir ein, dass ich Briefmarken brauche.
Mein Weg führt vorbei an der ehemaligen Hertie-Filiale. Der dreistöckige Gebäudetrakt steht seit Monaten leer. Auf den großen Schaufenstern kleben scheibenfüllende Fotos von lächelnden Frauen, die dynamisch und schick ihre Einkaufstüten schwenken.
Wir bauen für Sie um - Bald noch schöner, noch attraktiver steht auf den Plakaten.
Darunter ein kleiner, unspektakulärer Aushang mit der nüchternen Information provisionsfrei zu vermieten.
An Hertie erinnert nur der große, geschwungene Schriftzug, der trotzig rot über den Eingangstüren prangt. Um Fassung ringend.
Ich staune immer noch, dass so viele Traditionsfirmen insolvent sind. Einst waren sie starke Säulen des Handels, untrennbar mit einem überschäumenden Wirtschaftswunder verknüpft.
Das Wirtschaftswunder hat sich erledigt und wie zur Bekräftigung scheint dieser leer stehende Kasten mir höhnisch ins Gesicht zu lachen. Ich fühle mich an die grellen Bilder des Malers Otto Dix erinnert. Unwillig schalte ich das Kopfkino aus und frage mich was wohl aus den Mitarbeitern von Hertie geworden ist. Zum Schluss hatten sie selten gelächelt, manchmal mit den Kunden über die drohende Schließung gesprochen, gekränkt und noch nicht bereit zu begreifen, was ihnen widerfuhr. Einige Zeit schimmerte durch die Bitterkeit noch die Hoffnung auf ein Wunder. Untermalt von dem fröhlichen Slogan der aus den Lautsprechern dudelte
Zum Glück gibt’s Hertie.
Ich lasse das entseelte Warenhaus links liegen. Fahre die Rolltreppe hinauf zur Lottoannahmestelle, wo man neuerdings Briefmarken kaufen kann. Dort reihe ich mich ein in die lange Reihe hoffnungsvoller Lottospieler. Alle halten mit beinahe heiligem Ernst ihren Tippschein in der Hand. Das potentielle Ticket in ein sorgloses Leben. Über den versammelten Köpfen, zum Greifen nah, wird ein allgegenwärtiger Hunger spürbar auf plötzlichem Wohlstand und Erlösung aus dem Hartz-Vier-Dasein.
Vom Backshop gegenüber weht ein Duft nach frischem Pflaumenkuchen herüber.
Begierig sauge ich ihn ein, während ich die Briefmarken bezahle und dann in Richtung Bäckertheke schlendere.
Direkt neben dem Bäcker, im Eingangsbereich eines Supermarktes, lenkt eine Verkaufspyramide aus Obstkisten meine Schritte um.
Verheissungsvoll liegen sie vor mir. Glänzende Mandarinen. Stück für Stück eingebettet in helle Holzkisten. Duftende Früchte, deren knotige Oberfläche zum Anfassen und Auswählen einlädt. Manche sind in feines Seidenpapier gehüllt.
In einer Pappkiste daneben liegen Netze mit Clementinen. Die sind preiswerter, aber ich weiß aus Erfahrung, dass das Rot der Netze die Früchte leuchtender erscheinen lässt als sie sind und wende mich entschlossen den anderen zu.
Aus dem Laden schleichen sich Instrumentalversionen alter Beatles Hits ins Ohr. Yesterday, singe ich in Gedanken mit, all my trouble seemed so far away.
Neben mir steht eine Frau, klein, ein wenig gebeugt. Kurze graue Haare, graue Jacke, und ein irgendwie graues Gesicht. Hinter ihr parkt eine dieser Einkaufstaschen auf Rädern. Die kleine, graue Frau liest die Preisschilder, greift nach einem Clementinennetz, zieht die Hand wieder zurück, sieht mich nachdenklich an. Sie beobachtet wie ich einzelne Früchte auswähle und in eine Tüte lege.
„Die sind teurer“, sagt die Frau und seufzt.
Ihre Stimme klingt müde mit einem schüchtern anmutenden Unterton. Das Lächeln um ihren Mund ist kaum wahrnehmbar.
„Ja, die sind teurer“, antworte ich, „aber sie sind saftiger und leckerer“.
Die Frau nimmt eine der duftenden Mandarinen in die Hand, betrachtet sie mit unschlüssigem Blick.
„Hinterher ärgert man sich“, sagt sie leise, „wenn man die billigen im Netz genommen hat, und dann schmecken die gar nicht“.
„Ja“, stimme ich zu.
Jetzt lächelt die Frau unübersehbar und füllt Mandarinen in eine Tüte.
„Ich nehm auch mal die teuren.“
Sie knotet den Plastikbeutel zu.
Ihre Stimme klingt erleichtert. Sie sieht mich wie Beifall heischend aus grauen Augen an.
„Darauf hab ich jetzt richtig Appetit gekriegt“, sagt sie in mein lächelndes Gesicht.
„Wegen der Chemotherapie und dem Krebs vertrag ich sowieso fast nichts mehr, aber Obst geht noch.
Obst geht immer.
Da kann ich mir ruhig mal was leisten“.