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- 02.06.2001
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Obsession
Kurze Vorbemerkung: Dies ist einer meiner ältesten Texte, der vor neun Jahren entstand. Deshalb ist die Darstellung des verwendeten Computers technisch natürlich veraltet.
Catherine Arrington kannte den Preis des Erfolges nur allzu gut: Da waren zum einen die Neider, welche ihr nachsagten, bestimmte Rollen lediglich durch ihr nicht unvorteilhaftes Äußeres erhalten zu haben. Das war nicht ganz falsch, aber auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Zum anderen gab es die selbsternannten Filmkritiker, die unablässig an einem herum nörgelten, sofern man nicht zufällig zum erlauchten Kreis ihrer Lieblinge zählte. Deshalb versuchte Catherine sich einzureden, es wäre ihr egal, was hinter ihrem Rücken über sie gesprochen wurde. Natürlich war das unmöglich, herrschte in jedem Menschen doch der Drang vor, zu gefallen. Nicht wenige wählten zu diesem Zweck das Mittel der Selbsterniedrigung, um den Blick auf sich zu ziehen. Darauf konnte Catherine dankend verzichten.
An einem bewölkten, regnerischen Donnerstag nahm etwas Verhängnisvolles und dennoch höchst Interessantes seinen Lauf. Catherine, seit jeher von allen nur Cathy gerufen, was ihr zutiefst verhasst war, befand sich an diesem frühen Nachmittag in ihrem Apartment in LA. Ihr letzter Film lag bereits fast fünf Monate zurück. Seitdem hatte sie kein Filmstudio mehr betreten.
„Weil es keine anspruchsvollen Angebote für mich gibt“, hatte sie diesen Umstand zu erklären versucht. Tatsächlich war sie jedoch stark verunsichert, ob der verheerenden Kritiken, die sie für ihre letzte Rolle als wahnsinnige Mörderin hatte einstecken müssen. All der Verrisse zum Trotz, war der der Streifen mit großem Erfolg in den Kinos gelaufen.
“Cathy Arrington als psychopathische Killerlady in einer Sean SilverProduktion?“, hatte der Filmkritiker der Times gespottet. „Was kommt als Nächstes: Woody Allen als Darth Vader in ‚Star Wars“?“
Sie hatte dies gelesen und vor Wut und Scham gezittert. Wenigstens hatte sie den Ärger nicht mit einer Flasche Wein ertränkt, was in den Wochen zuvor immer öfter der Fall gewesen war. Gründe für den Griff zur Flasche gab es genug.
Einer der Hauptgründe, nämlich ihre Unzufriedenheit, schien in ihrer kleinen, heilen Welt nicht zu existieren. Sie verdrängte ihre Probleme nur, anstatt sie zu bewältigen. Das hatte selbst Clive erkannt, der gute Clive, der sie ob ihres Alkoholkonsums kritisierte aber nichts dabei fand, sich selber hin und wieder auf einen Privattrip zu begeben, dessen Ticket in Form harmlos aussehenden Pulvers gelöst wurde.
Eine der Folgen ihrer Unzufriedenheit waren Depressionen die sie meist heimsuchten, wenn sie nicht damit rechnete. In solchen Stunden weinte sie scheinbar grundlos vor sich hin, ohne Hoffnung, ihrem Leben Sinn zu geben. Doch so schnell diese Phasen auftraten, so rasch klangen sie auch wieder ab.
Hilfe konnte sie von niemandem erwarten, von Clive schon gar nicht. Er war ein Fassadenmensch. Er verbarg sein wahres Ich hinter einer Maske aus geheuchelter Zuversicht.
Catherine seufzte. Sie spürte, wie eine Welle an düsteren Gedanken über ihr einbrach, ihren Körper unter eiskaltes Wasser setzte, sie zu Tatenlosigkeit zwingen wollte. War sie erst in den Fängen einer Depression, war es ihr schier unmöglich, dagegen anzukämpfen. Völlige Lustlosigkeit, die das Leben noch unerträglicher machte.
Und dann war da noch die Angst; allgegenwärtig, unbezwingbar. Ihr Körper versteifte sich, sie fühlte Kälte den Rücken empor klimmen.
“Okay, Kleines, du stehst jetzt auf und holst das Notebook“, flüsterte sie und es kam ihr nicht lächerlich vor, dass sie mit sich selber sprach.
Willig gehorchte ihr Körper. Catherine führte ihren eigenen Befehl aus, entnahm aus der Vitrine neben dem Fernseher das graue Notebook und stellte es auf den Glastisch. Die Acrylplatte verursachte dabei ein dumpfes Geräusch.
“Okay, gut“
Sie klappte das Display auf und schaltete das Gerät ein. Etwas beruhigt nahm sie wieder Platz und erst jetzt war es ihr peinlich, ein Selbstgespräch geführt zu haben. Und lachte. Lachte und verstummte, als ihre Ängste wie ein besonders tückischer Bumerang zurückkehrten. Sie lud das Textprogramm und lauschte nervös dem umtriebigen Rattern des Prozessors.
Diesem Ding vor ihr vertraute sie alles an, was ihr nie über die Lippen gekommen wäre. Vor allem die Gedichte, derer sie sich zugegebenermaßen schämte.
Einmal hatte sie den Fehler begangen, eines davon auszudrucken und es Clive zu zeigen. Er hatte es interessiert gelesen, die Stirn gerunzelt und gesagt: “Hübsch. Wirklich, sehr hübsch. Ich glaube, du hast Talent.“
Aber das war eine Lüge gewesen, an die er selber nicht geglaubt hatte.
Seither verbarg sie ihre Zeichen gewordenen Seelenschreie vor den Augen derer, die sie nicht verstanden. Sie schloss kurz ihre Augen, öffnete sie wieder und dann schrieb sie fast hypnotisch folgendes nieder:
“Halt, sagte der Fremdenführer, hier geschieht ein Blutbad/
Ich hielt meinen Atem an, um den Geruch des Blutes von mir fernzuhalten/
Doch jemand bewarf mich mit Steinen, die aus den Seelen der Toten geformt worden waren/
Einer der Steine traf mein wundes Ich und ich erbrach mich in Selbstmitleid/
Ein anderer Stein raubte mir die Erinnerung/
Ehe ich selbst zu Stein wurde“
Sie schüttelte fassungslos den Kopf. Hatte sie das geschrieben? Sie hatte in ihrem Leben wohl an die Tausend Gedichte geschrieben, doch nie zuvor etwas so unsäglich Düsteres, Automatisch bewegte sich ihr Zeigefinger in Richtung Löschtaste. Verblüfft hielt sie in ihrer Absicht inne, als unter der letzten Zeile, die sie geschrieben hatte, eine weitere Textzeile erschien.
„Warum wollen Sie dies löschen?“
Das gibt´s doch nicht, dachte sie, während sie die Worte anstarrte. Vermutlich ein Scherz. Clive? Nein, das war nicht gut möglich. Doch wer sonst? Der blinkende Cursor erwartete eine Antwort. Okay, ein Dialogprogramm, wie es sie seit den 70er Jahren gab. Eine simple Sache.
„Weil es mir nicht gefällt“ ‚ tippte sie und erwartete eine Gegenfrage wie: „Warum gefällt es Ihnen nicht?“
Stattdessen las sie: „Das ist schade. Ich mag es. Es ist ehrlich und direkt, mit ein paar sehr hübschen Metaphern versehen.“
Waren dies erste Manifestationen beginnenden Wahnsinns? Vielleicht sollte sie einen Psychiater aufsuchen?
Immerhin handelte es sich um eine sehr interessante Wahnvorstellung, befand sie, und schrieb: „Danke. Wer sind Sie?“
Einige Sekunden blinkte der Cursor leidenschaftslos an der selben Stelle auf.
„The Graveyard Poet. Je von mir gehört?“
„Nein“, tippte sie getreu der Wahrheit in das Keyboard.
„Kein allzu großer Verlust, das können Sie mir glauben. Nennen Sie mich bei meinem Vornamen. Darf ich Sie Catherine nennen?“
Die Frage hatte einen unschuldigen Klang, doch woher wusste ‚Tom’ ‚ dass sie -
„Ja. Sagen Sie, ist das ein Scherz?“
„Catherine, wie sollte ich das bewerkstelligen?“
Der PC war an kein Computernetz, ja, nicht einmal an das Stromnetz angeschlossen. Also konnte es kein Scherz sein.
Ruhig Blut, Catherine…
„Sie benutzen nicht das Keyboard. Wie machen Sie es dann?“
„Ich denke, also bin ich“
Es lief ihr kalt den Rücken runter. Mit wem führte sie gerade eine stumme Konversation? Oder besser: Mit was?
„Was sind Sie?“
„Das, was auch Sie dereinst sein werden. Haben Sie keine Angst.“
„Sind Sie ein Geist?“, tippte sie ein und kam sich in höchstem Maße lächerlich vor, eine solche Frage überhaupt zu stellen.
„Wenn Sie so wollen, ja. Aber bitte haben Sie keine Angst. Vergessen Sie alle Filme bezüglich dieses Themas. >Geist< klingt ziemlich Furcht erregend. Faktisch ist es eine Transformation, eine Umwandlung.“
Mein Unterbewusstsein, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Irgend welche merkwürdigen Fähigkeiten ermöglichen es mir, diese Sätze auf dem Bildschirm erscheinen zu lassen.
„Können Sie meine Gedanken lesen?“
„Nein.“
„Wieso nennen Sie mich Catherine und nicht Cathy, wie es alle tun?“
Kurze Pause.
„Ist das von so großer Bedeutung für Sie?“
„Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen, wenn Sie tot sind?“
„Meine Transformation liegt nicht lange zurück und deshalb ist mir Ihr Name ein Begriff.“
„Können Sie mich sehen?“
„Nein. Ich kann lediglich über diesen Computer Kontakt mit Ihnen halten.“
„Können Sie erneut Kontakt mit mir aufnehmen? Später?“
„Wenn Sie dies wünschen, schalten Sie das Gerät einfach wieder ein. Dann weiß ich, dass Sie mit mir sprechen möchten. Den Begriff Zeit kennen wir hier nicht.“
„Ich würde unser Gespräch gerne kurzzeitig beenden, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich habe Kopfschmerzen und ich bin etwas verwirrt, wie ich zugeben muss.“
„Das verstehe ich. Ich wünsche Ihnen baldige Linderung Ihrer Schmerzen, welcher Natur auch diese sein mögen. Auf bald, hoffe ich.“
„Auf bald“, schrieb sie und schaltete das Gerät aus.
Der Ausdruck ‚verwirrt’ spiegelte ihre Gefühle nicht wider: Sie war über alle Maße fassungslos. Sie wusste von Menschen die darauf beharrten, mit Verstorbenen auf die eine oder andere Weise Kontakt aufgenommen zu haben. Diesbezüglich wurde man stets vor die Wahl gestellt, daran zu glauben oder auch nicht.
Catherine erging es nunmehr nicht viel anders: Sie konnte der festen Überzeugung sein, einem Hirngespinst aufgesessen zu sein oder aber …
Ihre Kopfschmerzen nahmen an Intensität zu. Gleich welcher Natur das Geschehene war: Die Konsequenzen daraus waren denkbar unangenehm. Die Angst, deren Gefangene sie geworden war, weitete sich zu einem Flächenbrand aus: Sie war in Gefahr, totaler Panik anheim zu fallen. Wohin dies führte, konnte man täglich den Medien entnehmen. Sie spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen und sie zu zittern anfing. Laut schluchzend – Gott, wie sie sich dafür hasste! - nahm sie Valium ein und schleppte sich zu Bett. Unaufhörlich rasten Gedanken durch ihren Kopf. Ehe der Schlaf sie niederstreckte, war sie zu dem Entschluss gekommen, sich einer Therapie zu unterziehen, deren erster Schritt darin bestehen sollte, das Notebook aus ihrem Leben zu streichen.
***
Ein vertrautes und doch merkwürdig beunruhigendes Geräusch. Herrje, das Telefon! Catherine versuchte sich aufzurichten. Ihr erster Versuch misslang und sie sank erschöpft auf das Kissen zurück. Das Klingeln verstummte nicht. Erneuter Versuch. Diesmal schaffte sie es, die dünnen Schleier der pharmazeutisch erzwungenen Schlaftrunkenheit zu durchbrechen. Rasch stieg sie aus dem Bett, bemerkte, dass sie die Kleidung des Vortages noch trug und lief in den Vorraum.
“Hallo?“
“Hi Cathy.“
Clives vertraute Stimme beruhigte sie etwas.
“Hallo Clive. Schön, dass du anrufst“, sagte sie erleichtert.
“Ach ja? Warum lässt du mich dann so lange warten, ehe du dich gütlichst bequemst, den Hörer abzunehmen?“
“Es tut mir Leid. Ich habe geschlafen.“
Welche Macht übte Clive auf sie aus, dass er sie ständig dazu brachte, sich zu entschuldigen?
“Bis jetzt?“
Wieder ein Vorwurf, scharf wie ein Messer.
“Wie spät ist es?“, fragte Catherine.
“Kurz vor halb zwei. Cathy, hast du getrunken?“
Halb zwei. Sie hatte demnach also gut und gerne zwanzig Stunden geschlafen!
“Nein“, erwiderte sie reflexartig. “Ich habe Schlafmittel eingenommen, weil … Clive, ich fürchte, ich stehe kurz davor durchzudrehen.“
Sie wollte es dramatischer formulieren, unterließ es dann aber aus Rücksicht Clive gegenüber, wie sie zuerst annahm.
“Was sagst du da? Ist irgend was passiert?“
“Nein“, beruhigte sie ihn - und nicht zuletzt sich selbst. “Ich weiß auch nicht, wie ich es ausdrücken soll. Sagen wir, ich habe etwas ziemlich Seltsames erlebt. Oder nehme zumindest an, dass ich es erlebte.“
Clives Zögern deutete darauf hin, dass er seine Frage möglichst vorsichtig und schonend stellen wollte. “Hast du Drogen genommen?“
“Nein.“
Jedenfalls seit zwei Jahren nicht mehr, fügte sie gedanklich hinzu. Clive wusste nichts davon.
“Okay. Ich mach mich sofort auf den Weg zu dir.“
Nervosität schwang in Clives Stimme mit. Eine Reaktion, die Catherine überraschte.
“Das ist nicht nötig.“
“Vorhin hast du aber gesagt, du wärst am durchdrehen!“
„Ja, du hast Recht. Tut mir leid, Clive. Ich hin mir einfach nicht im Klaren darüber, was ich tun soll.“
“Okay. Ich werde mich beeilen. Hältst du eine halbe Stunde durch?“
“Clive, es ist ja nicht so, dass ich mir die Pulsadern aufschneiden möchte. Ich bin einfach ein wenig durcheinander.“
“Ich verstehe. Ich mache mir nur Sorgen um dich.“
“Ich weiß. Entschuldige.“
Sie kam sich dumm vor: Was musste Clive nur von ihr halten?
“Kein Grund, sich zu entschuldigen.“
Ich weiß - warum zwingst du mich dann ständig zu diesem Schuldverhalten?
“Schön, bis dann also.“
“Bis dann“, schloss Catherine und fühlte sich kaum erleichtert.
Wie sollte ihr Clive beistehen? Sie an eine gute Klinik überweisen? Stundenlang Händchen halten? Ihr unentwegt Vorwürfe machen, bis sie unter dieser Last zusammen brach? Nichts von alledem würde helfen.
***
Während sie die halbe Stunde dazu nutzte zu duschen und die alte, verschwitzte Kleidung zu wechseln, grübelte Clive angestrengt über seine weitere Vorgangsweise nach. Er wollte ihr ein guter Freund sein und dies unter Beweis stellen. Doch wie? Erst einmal musste er um Cathys Problem Bescheid wissen.
Danach entscheiden, ob er fachliche Hilfe benötigte. Im schlimmsten Falle müsste er ihr diese Hilfe aufzwingen. Er hoffte inbrünstig, es würde nicht so weit kommen.
Als er schließlich bei Cathys Apartment vor fuhr, war er um keinen klugen Gedanken, keine vernünftige Idee reicher denn zum Zeitpunkt seines Aufbruchs.
***
In der Zwischenzeit überlegte Catherine ihre Vorgehensweise: Sollte sie Clive in ihr Vertrauen einbeziehen oder ihn belügen? Niemals zuvor war sie unentschlossener gewesen. Körperlich erfrischt ging sie in die Küche. Entsetzt spürte sie das körperliche Verlangen nach einem Schluck Brandy oder Scotch.
Stattdessen trank sie trotzig Orangensaft und aß ein paar trockene Kräcker dazu. Unwillkürlich erinnerte sie sich an das, was sie möglicherweise in den Wahnsinn treiben würde. Plötzlich tauchte in ihrem Verstand eine bislang ungestellte Frage auf: Was, wenn sich ihr gestern eine Chance geboten hatte, die sie ergreifen sollte, anstatt sie aus unbegründeter Furcht all zu eilig zu vergeben? Eine Chance zur Veränderung?
Angenommen dieser „Tom“ existierte nicht bloß in ihrer Phantasie? Sie verschluckte sich und hustete. Das wäre ungeheuerlich! Ihr gestriger Entschluss, künftig die Finger von dem Notebook zu lassen, geriet immer heftiger ins Wanken.
Quälend langsam verstrichen die Minuten. Sie spürte die innere Leere, die es neu aufzufüllen galt. Sie benötigte Hilfe, doch aus welcher Richtung? Und von wem? Noch ehe sie so recht wusste, was sie eigentlich tat, war sie in das Wohnzimmer geschlichen und stand vor jener Vitrine, in welcher sie das Notebook verstaut hatte. Es schien ihr, als stünde sie unter dem Einfluss einer unheilvollen Macht.
Eine Macht, die den Menschen über sämtliche anderen Lebewesen erhoben und ihn doch zugleich an den Rande des Untergangs gedrängt hatte: Neugier. Sie musste sich Gewissheit darüber verschaffen, was es mit ihren vorgeblichen Phantastereien auf sich hatte.
Sie stellte das graue, flache Gerät auf den Tisch, nahm es in Betrieb und gab den Befehl zum Start des Textprogramms. Das leise Surren, das der Computer dabei verursachte, beruhigte ihre angespannten Nerven. Die Textseite war leer.
Sie begann zu schreiben: „Sind Sie da, Tom?“
Ihr Pulsschlag erhöhte sich augenblicklich.
„Ja“ ‚ lautete die prompte Antwort.
Noch wenige Minuten zuvor hätte sie es nicht für möglich gehalten, jemals wieder das Notebook einzuschalten, Mittlerweile hatte nicht nur die Neugier, sondern auch die Faszination, die das, was geschah, auf sie ausübte überhand genommen.
„Wovor haben Sie solche Angst?“
Hatte ‚Tom’ nicht versichert, er sei des Gedankenlesens nicht mächtig?
„Sie haben gestern gelogen! Sie können Gedankenlesen!“
"Nein, Catherine, ich erahne Gefühle. Ich spüre etwas von dem, was in Menschen vor sich geht.“
„Ist das nicht dasselbe?“
„Ganz und gar nicht.“
„Sie hatten Recht. Ich habe Angst.“
„Vor mir?“
„Ja. Wie kann ich sicher sein, dass ich nicht verrückt geworden bin? Dass dies hier keine Halluzination ist?“
Es überraschte sie, dass sie zu solcher Ehrlichkeit bereit war.
„Dessen können Sie niemals sicher sein. Fassen Sie es als Möglichkeit auf, Ihren Horizont zu erweitern, dann wird Ihre Angst schwinden.“
„Hatten Sie, als Sie noch lebten, ebenfalls solch eine Möglichkeit?“
„Nicht in dieser Weise, wie es Ihnen soeben widerfährt.“
„In welcher Weise dann?“
„Dies zu erklären würde momentan etwas zu weit führen. Sind Sie in Eile, Catherine?“
„Ich erwarte meinen Freund Clive.“
„Verstehe. Ich würde gerne etwas ausführlichere Konversation mit Ihnen betreiben. Wäre Ihnen das einmal möglich? Natürlich nur, wenn Sie Interesse daran hegen. Auf keinen Fall möchte ich Sie bedrängen. Sollten Sie meiner Gesellschaft überdrüssig sein, werde ich das akzeptieren.“
„Eine letzte Frage: Ist dieses Notebook Ihre einzige Möglichkeit mich zu kontaktieren?“
„Ja“
„Das alles ist ziemlich verwirrend für mich“, gestand sie. „Ich hoffe, Sie sehen mir dies nach.“
„Catherine, es läge mir fern, Ihnen nur im Geringsten Vorhaltungen zu machen.“
„Danke. Auf bald, okay?“
„Ja. Auf bald.“
Als sie das Gerät abschaltete, fühlte sie sich denkbar unsicher: Chance zur Genesung oder Psychotrip in den totalen Wahnsinn? Die Türglocke riss sie aus ihren Gedanken, wofür sie einen Moment lang sogar dankbar war.
***
Clive zeigte sich besorgt über ihre Äußerungen am Telefon und wusste nicht so recht, was er tun sollte. In den Kaffee, den Catherine zubereitet hatte, gab er Milch, obwohl er ihn gewöhnlich schwarz trank. Oft strich er sich das Haar nach hinten, gestikulierte ausschweifend.
“Was soll das heißen, ich solle dir noch etwas Zeit geben? Zeit wofür?“
Wieder fuhr er sich durch die Haare. Sie blickte verlegen zu Boden, anstatt in sein solariumgebräuntes, cremefarbenes Gesicht.
“Um nachzudenken. Ich vertraue dir, Clive. Aber es handelt sich um eine Sache, die man nicht so einfach erzählt, verstehst du?“
“Nein“, erwiderte Clive ehrlich, woraufhin sich in Catherine das schlechte Gewissen regte, denn sie vertraute ihm nicht, und das war der springende Punkt.
Es gab vieles, das sie ihm nach wie vor verheimlichte.
“Ich will dir helfen. Deshalb begreife ich nicht, wieso du diese Hilfe ablehnst.“
“Das tue ich doch gar nicht“, protestierte Catherine. “Ich bitte dich lediglich um ein wenig Zeit, um mit mir und meinen Gedanken ins Reine zu kommen.“
Clives Stirn legte sich in Furchen der Besorgnis. “Was du sagst klingt nicht nach der Cathy, die ich schätzen lernte.“
Oh Gott, bitte nicht diesen melodramatischen Mist!
“Sei mir nicht böse, Clive.“
“Das würde ich doch nie -“
Mit einer Geste unterbrach sie ihn. “Natürlich nicht, Clive. Aber ich würde es mir nie verzeihen, einen so wunderbaren Freund wie dich zu verlieren.“
Fast hätte sie zu lachen begonnen, denn was sie da sprach klang, als wäre sie eine der blutleeren Figuren einer Seifenoper.
“Na schön“, seufzte Clive.
Er stellte die Kaffeetasse auf dem Tisch ab.
“Ich nehme an, du willst lieber allein sein, ja?“
“Ja“, gab sie zur Antwort, um kurz darauf eine weitere Entschuldigung anzubringen. “Es tut mir Leid, dich auf diese Weise zu begrüßen. Du musst müde und ausgelaugt sein. Und als wäre das nicht genug, belaste ich dich mit meinen wirren Gedanken.“
“Na ja, ehrlich gesagt, hätte ich mir unser Wiedersehen ein bisschen angenehmer vorgestellt.“
Er lächelte gewinnend und merkwürdig weise und dümmlich zugleich. In diesem Augenblick wusste sie nicht, was sie von ihm halten sollte und ob sie seine angebotene Hilfe überhaupt in Anspruch nehmen wollte. Sie lächelte zurück um zu unterstreichen, dass sie in Ordnung sei.
“Ich mir auch“, sagte sie und verabscheute sich für ihr Heucheln. Denn tatsächlich begann ihr seine Anwesenheit Unbehagen zu bereiten.
“Wir werden es nachholen, das verspreche ich dir“, fügte sie hinzu, ohne sich der unterschwelligen Botschaft hewusst zu sein, die da lautete: „ und jetzt verlasse mein Haus, klar?“
Und wirklich zuckte Clive zusammen. Er hatte verstanden.
“Ich werde dich an dein Versprechen erinnern, sobald du -“
Er biss sich auf die Unterlippe. „Sobald du dich besser fühlst.“
Und mit diesen Worten stand er auf und schob den Kragen seines Hemds zu Recht. Ein deutliches Zeichen seines Unwohlbefindens, wie Catherine inzwischen wusste.
“Ich danke dir für dein Verständnis.“
Es klang eisiger, als sie es vorgesehen hatte.
“Ruf mich an, wenn du jemanden brauchst, mit dem du reden willst, okay?“
“Okay.“
Sie geleitete ihn zur Tür, öffnete sie und drückte ihm einen trockenen, kühlen Kuss auf die Wange.
“Auf bald“, flüsterte sie geheimnisvoll.
“Was?“, fragte er verwirrt.
“Wiedersehen, Clive.“
Er bemerkte, wie abweisend sie sich ihm gegenüber zu verhalten begann und war darüber mehr entsetzt als verärgert.
„Wiedersehen, Cathy“, sagte er mit ausdrucksloser Gesichtsmiene.
Er glaubte zu begreifen, dass sie für ihn verloren war. Nur, an wen? Hatte sie ihn zu sich gebeten, um ihm den Laufpass zu geben und war letztendlich doch zu feige gewesen, es ihm zu gestehen? Clive konnte nicht ahnen, dass er mit seiner Vermutung falsch lag. Und irgendwie doch auch richtig...
„Nenn mich nicht Cathy!“, brüllte etwas Wütendes in ihr. Etwas, das ihr bislang verborgen geblieben war; etwas, das sich befreit hatte und sich nunmehr selbständig zu machen drohte.
Die Tür fiel ins Schloss und mit ihr Catherines Verbundenheit zu Clive. Sie fühlte sich stark wie eine der unzähmbaren Kreaturen jener Bücher, die sie ab und zu in voller Hingabe las. Sie lächelte zufrieden und ging zur Kommode.
***
Drei Tage später erhielt Jim Campbell unerwarteten Besuch. Er schrieb gerade an einer Novelle, ohne aber große Fortschritte zu erzielen, als jemand an die Tür klopfte.
„Guten Tag. Sind Sie Jim Campbell?“, fragte die attraktive Dame, die vor der Tür stand mit einem entzückenden Lächeln.
“Ja“, bestätigte Jim. “Kann ich was für Sie tun?“
Mit der rechten Hand rückte er die Brille zurecht.
“Sie könnten mir ein paar Fragen beantworten, Mister Camphell. Übrigens, ich heiße Catherine Arrington.“
“Sehr erfreut. Kommen Sie doch herein.“
Sie bedankte sich und trat ein. Campbell wirkte sehr sympathisch und zuvorkommend. Tom hatte Recht gehabt: Er würde ihr bereitwillig alle Fragen beantworten. Campbell bot ihr etwas zu trinken an, während sie sich setzte, doch sie lehnte ab.
“Sie müssen die Unordnung entschuldigen“, meinte Campbell, während er sich ihr gegenüber setzte. “Ich versuche mich an einem historischen Roman. Aber wenn man, wie es bei mir der Fall ist, nicht gerade historisch beschlagen ist, muss man eine ganze Menge Literatur zu Rate ziehen. Und ich hasse es, Nachforschungen betreiben zu müssen. Ach, was rede ich da! Sicher wollen Sie mit mir lieber über meinen letzten Roman sprechen, richtig?“
„Falsch“, sagte Catherine und rang sich ein weiteres Lächeln ab.
“Sind Sie etwa keine Reporterin?“
Offensichtlich war ihm ihr Name kein Begriff.
“Oh nein, ich bin Schauspielerin.“
“Ach“, stieß Campbell überrascht hervor. “Weshalb wollten Sie mich dann sprechen?“
„Mister Campbell, es heißt, Sie seien der beste Freund von Tom Callaghan gewesen.“
Schlagartig verfinsterte sich Campbells Miene. “Hören Sie, Miss Arrington. Wenn dies ein Trick ist, mich zum Reden zu bringen, vergessen Sie´s.“
“Ich fürchte ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
Campbell fingerte nervös erneut an seiner Brille herum. “Na ja, ich weiß nicht, oh ich Ihnen glauben soll. Schließlich … Nun ja, als die Sache mit Tom passierte, waren dutzende Journalisten hinter mir her, boten mir Geld an für ein Exklusivinterview und -“
Seine Finger trommelten einen sinnlosen Takt auf der Tischplatte.
“Ich schwöre Ihnen, dass ich Sie nicht belogen habe. Ich bin Schauspielerin und hege kein Interesse an irgend welchen Skandalgeschichten oder dergleichen.“
“Dann verstehe ich Ihr Interesse an Tom nicht“, gab Campbell offen zu.
Es war an der Zeit für eine kleine Notlüge. “Wir waren Freunde.“, sagte Catherine, die wusste, wie seltsam das klingen musste.
Campbell grinste verschmitzt. “Na so was, der alte Halunke hat mich ganz schön hinters Licht geführt.“
“Nein“, wehrte Catherine ab. “Ich habe mich wohl falsch ausgedrückt: Wir waren Bekannte, haben ein paar mal kurze Gespräche miteinander geführt.“
“Verstehe. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Es ist nur, weil-“
Seine Hände verkrampften sich und er blickte kurz zur Seite. “Ich weiß nicht, ob ich das verraten soll.“
„Verraten? Was denn?“, fragte Catherine nach.
Camphell wand sich in seiner Unentschlossenheit. “Wir waren deshalb Freunde, weil wir einander völlig vertrauten. Nun, da er tot ist, fühle ich mich nicht berechtigt, über gewisse Sachverhalte Auskunft zu erteilen.“
Catherine nickte langsam. “Das finde ich sehr mutig von Ihnen.“
“Mutig?“, wiederholte Campbell Stirn runzelnd.
“Ja. Es gehört Mut dazu, sich in Schweigen zu hüllen. Jedenfalls mehr Mut, als sich exhibitionistisch im Rampenlicht sensationshungriger Medien zu entblößen.“
„Danke. Hören Sie, ich mache Ihnen ein Angebot: Sagen Sie mir, wie er sich selbst bezeichnete, dann glaube ich Ihnen.“
Catherine musste nicht lange darüber nachdenken. “The Graveyard Poet.“
„Korrekt“, sagte Camphell und entspannte sich zusehends.
“Eines noch“, merkte Camphell an. “Schwören Sie, über dieses Gespräch Stillschweigen zu bewahren?“
“Das schwöre ich.“
Sie tippte sich an die Schläfe. “Hier drinnen und sonst nirgends“, sagte sie in übertrieben feierlichem Tonfall. Campbell konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dann fuhr er fort.
“Meine Adresse haben Sie von Tom?“
Catherine nickte abermals. Wenn Campbell wüsste…
“Das hätte ich mir denken können. Dieser Dummkopf mit seinem verdammten Pathos!“
“Wie bitte?“, zeigte sich Catherine erstaunt.
“Geduld. Sie werden es begreifen. Aber stellen Sie mir doch Ihre Fragen.“
„Eigentlich ist es nur eine einzige: Wie war er?“
“Tom? Tja.“
Er zuckte mit den Achseln. “Merkwürdig. Wie er aussah, wissen Sie ja.“
Sie hatte ein paar Fotos von ihm gesehen.
“Sehen Sie, ich bin ebenfalls keine phantastische Schönheit Aber ich versuche durch Kleidung und mein Benehmen diesen Mangel ein wenig zu kompensieren, wie es viele tun. Nicht so Tom. Er kleidete sich nachlässig, pöbelte, wenn er wieder einmal betrunken war, machte sich auf Kosten anderer über sie lustig.“
Campbell schüttelte den Kopf und atmete kurz durch.
„Ehe ‚Die verbotene Stadt’ ein Bestseller wurde, sei er mir ziemlich ähnlich gewesen, erwähnte er einmal. Er irrte, wenn Sie mich fragen. Wie dem auch sei. Bis zu seinem Tod pflegte er das Image des unsympathischen und unnahbaren jungen Mannes. Beides traf nicht auf ihn zu. Er war nur verzweifelt einsam auf eine Weise, die ich, bei all unserer Freundschaft, nicht verstand.
Manchmal, wenn er sich in der Öffentlichkeit blicken ließ, was gegen Ende seines Lebens immer seltener wurde, redete er völlig ungereimtes Zeugs. Eine ältere Dame bat ihn beispielsweise mal, ein Buch zu signieren. Tom hielt ihr einen Vortrag über die Bedeutung der Weltraumforschung im kommenden Jahrtausend. Und er schien es ernst zu meinen.“
“Signierte er das Buch?“, wollte Catherine wissen.
“Natürlich. Im Grunde seines Herzens war er ja ein netter junger Mann. Ich lernte ihn kennen, als er, warten Sie, 24 Jahre alt war. Er wurde nach dem überraschenden Erfolg von ‚Die verbotene Stadt’ wie ein Ausstellungsstück herum gereicht. Er wehrte sich nicht dagegen. Dazu war er viel zu lethargisch.
Das einzige, das er neben Schreiben noch hervorragend beherrschte, war die Rhetorik. Dennoch verabscheute er es, Interviews zu geben. Ich denke, er hätte damit sein angeschlagenes Image ein wenig zum Besseren verändern können. Leider lag es zusehends nicht nur mit seinem Ansehen im Argen. Er begann zu trinken und nahm Drogen. Ich schätze mal, LSD und ähnliche Scheiße.“
In seiner Stimme lag plötzlich Trauer.
„Die Nebenwirkungen stellten sich rasch ein: Er wurde noch verschlossener, steigerte sich zusehends in einen paranoiden Wahn hinein. Natürlich blieb auch seine Kreativität nicht davon verschont. Seine Konzentrationsfähigkeit sank rapide, was es ihm fast unmöglich machte, zusammenhängende Texte zu verfassen. Nur in seltenen Phasen der Nüchternheit konnte er überhaupt noch Texte schreiben, die seinem Niveau entsprachen. Die Arbeit an seinem dritten Roman kam völlig zum Erliegen und sein zweiter Roman wurde von der Kritik – gerechtfertigter Weise, wie ich gestehen muss - verrissen und mit wenig Begeisterung von den Lesern seines ersten Buches aufgenommen. Damit wäre Toms Geschichte, wie ich sie erlebte, erzählt.“
Catherine wartete ab, ob Campbell noch etwas zu sagen hatte. Als sie merkte, dass dem nicht so war, brach sie das Schweigen.
“Das ist tatsächlich eine sehr traurige Geschichte.“
Campbell zuckte erneut mit den Achseln. “Das kommt darauf an, von welcher Seite aus man es betrachtet. Er könnte mit seinem Leben durchaus zufrieden gewesen sein.“
“Das meinen Sie doch nicht im Ernst“, warf Catherine ein. Sie schämte sich ihrer Worte augenblicklich.
“Doch“, verteidigte sich Campbell gelassen. “Er hat im Grunde alles erreicht, was er wollte: Kaum Freunde, dagegen eine Schar eingebildeter oder tatsächlicher Feinde, denen er unverhohlenen Hass entgegenbrachte. Völlige Einsamkeit, die er letztendlich selbst gewählt hatte. Er hasste sich selbst und genoss es. Das mag Ihnen unverständlich erscheinen, doch bedenken Sie, dass wir von einem Menschen sprechen, der seine Mitmenschen regelmäßig vor den Kopf stieß, und zwar derart gründlich und mit Nachdruck, bis er gemieden wurde. Dann beklagte er sich über die Ungerechtigkeit, ein Außenseiter zu sein, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass er diesen Zustand selber herbei geführt hatte.“
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, danach auf Campbell.
“Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich Ihnen fast eine Stunde Ihrer Zeit gestohlen habe.“
Campbell lachte. „Eine Stunde mehr oder weniger. Was bedeutet das schon bei einem notorischen Faulpelz wie mir?“
Sie standen auf. Doch anstatt sie zur Tür zu geleiten, deutete Campbell in eine andere Richtung. Catherine sah ihn fragend an.
“Kommen Sie. Ich will Ihnen etwas zeigen, das Sie bestimmt interessieren wird.“
Neugierig folgte sie ihm, bis er an einer Tür inne hielt.
“Ihre Eltern ließen sich scheiden, als Sie zehn waren, ist das richtig?“, sagte der junge Schriftsteller, während er die Tür mit einem Schlüssel öffnete, den er von einem Brett an der Wand genommen hatte.
“Richtig“, bestätigte sie. “Dann bin ich Ihnen also doch nicht so unbekannt, wie Sie eingangs meinten?“
“Auf einer Ebene, die ziemlich ungewöhnlich sein dürfte, sind Sie mir vertraut“, fuhr Camphell fort und stieß die Tür auf.
“Kommen Sie“, forderte er sie auf.
Der Raum war klein und unmöbliert. Auf dem Boden stapelten sich Bücher, Zeitschriften und allerlei Krimskrams. Camphell steuerte auf einen bestimmten Stapel zu und klatschte mit der Handfläche ein paar mal auf das zuoberst befindliche Buch.
“Das hier ist mein kostbarster Besitz: Bücher, die Tom besessen und geliebt hatte. Ich wollte nicht, dass sie auf einem Flohmarkt, einem Antiquariat oder gar in den Tresoren von Spekulanten landen. Doch das eigentlich Kostbare, Unbezahlbare ist das hier.“
Mit diesen Worten nahm er einen Stapel Bücher, der eine dünne Staubwolke aufwirbelte, und stellte ihn neben die anderen. Catherine trat näher und bemerkte, dass mehrere, dicke Manuskripte darunter gelegen hatten. Campbell zog eines davon hervor.
„Beachten Sie jene Steilen, die ich mit einem Leuchtstift markiert habe.“
Er reichte ihr das Manuskript und sie nahm es entgegen. Sie blätterte in den Seiten.
„Mein Gott“, sagte sie immer wieder, während sie die Stellen überflog. “Oh mein Gott, das gibt´s doch nicht.“
Als sie den Text durch hatte, schüttelte sie fassungslos den Kopf.
“Ich kann einfach nicht glauben, dass es so ist.“
Sie gab ihrem Gastgeber das Manuskript zurück.
“Es sind durchwegs unveröffentlichte Kurzgeschichten. Manche sind schlecht, manche sehr gut. Aber interessant sind sie allemal - und einige außergewöhnlich.“
Dann nannte er ihr Geburtsdatum und den Ort ihrer Geburt. Beides war zutreffend.
“Das stand ebenfalls in einer der Geschichten?“
Campbell nickte. “Sie können mir glauben oder auch nicht. Bis jetzt war ich mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Doch nun sind Sie hier und haben mich darin bestätigt, dass Tom -“
Er brach mitten im Satz ab und Catherine befürchtete, er würde zu weinen beginnen, was zum Glück nicht eintrat.
“Woher haben Sie die Manuskripte?“
“Sie haben mir versprochen, über alles, was wir hier besprechen, Stillschweigen zu bewahren. Sie werden Ihr Wort halten, nicht wahr?“
“Natürlich“, antwortete Catherine eilends.
Campbell schien darob sichtlich erleichtert. Vielleicht war er auch nur froh, sein Geheimnis zu erzählen, ohne deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben, seinen Freund verraten zu haben.
“Tja, ich habe die Bücher und diese Manuskripte gewissermaßen in Verwahrung genommen.“ “Entwendet, meinen Sie“, fügte Catherine hinzu.
„Rechtlich gesehen ja. Aber stellen Sie sich vor, was ansonsten hätte geschehen können. Da war der junge Autor, der nicht gerade unbekannt war und auf spektakuläre Weise aus dem Leben geschieden war. Anstatt ein Testament zu hinterlassen, vermachte er einen Stoß Werke, die unter normalen Umständen wohl niemals publiziert worden wären.“
Catherine verstand. „Unter diesen außergewöhnlichen Umständen wäre es zu einem Art Nachruf in Form eines Buches gekommen. Doch woher wissen Sie, dass Tom nicht gewollt hätte, dass man seine letzten Arbeiten veröffentlichte?“, gab Catherine zu bedenken und brachte mit dieser Bemerkung Campbell in Verlegenheit. Unsicher blickte er an Catherine vorbei.
“Na ja, das war eine reine Gefühlsentscheidung. Ich glaube nicht, dass Tom glücklich darüber wäre, seine Gedanken auf billigem Papier gedruckt zu sehen.“
Demonstrativ hob er den Manuskripte-Stapel hoch. “Es sind gewisslich nicht seine besten Werke, aber seine ehrlichsten, und der Gedanke, dass sie um fünf neunzig an Busständen verkauft werden würden, um von Menschen gelesen zu werden, die sich damit nur die Zeit zwischen den Fahrten vertreiben wollen, war mir unerträglich.“
„Sind eigentlich alle Schriftsteller so arrogant und eingebildet, wie Sie es sind?“, sagte Catherine und zwinkerte Camphell zu.
“Lieber arrogant als tot.“, erwiderte dieser ernst.
Vorsichtig legte er den Papierstoß auf den Boden zurück und schlichtete die Bücher darauf, “Damit niemand auf falsche Gedanken kommt“, erklärte er. “Mich selber eingeschlossen. Außerdem ergibt das eine Metapher, die Tom Vergnügen bereitet hätte: Die letzten Werke des verstorbenen Schriftstellers sind unter einer dicken Schicht Bücher begraben. Innert weniger Jahre werden die gedruckten Worte, das Gerüst jeglicher Geschichte, ebenso verbleichen wie die Knochen des Toten. Bücher bringen neue Geschichten hervor, Tote neues Leben.“
***
Auf dem Heimweg dachte sie über die Begegnung mit Campbell nach, Er war sympathisch, besaß aber nicht die geheimnisvolle Ausstrahlung, mit der sich viele seiner Kollegen nur all zu gerne umgaben, was ihn zwar nicht interessanter, doch ein klein wenig sympathischer machte, als er ohnehin war. Gleichzeitig stellte sie sich die Frage, weshalb er und Tom Freunde gewesen waren.
Die Antwort aus ihrer Sicht war nicht sehr schmeichelhaft für Campbell: Beide hatten sie nicht alle Tassen im Schrank. Wie hätte sich Camphell gefühlt, wenn er erfahren hätte, dass Toms Besessenheit nicht mystisch verklärt, sondern real war?
Sie war der Meinung, es würde für ihn keinen Unterschied ausmachen. Tom war tot, eine Erinnerung, die durch seine wenigen Werke spukte. Campbell war höchst lebendig und bestimmt nicht bereit, seinem Leben ein jähes und eigenmächtiges Ende zu setzen. Aber er hatte Tom Gallaghans Entscheidung akzeptiert und, mehr noch, respektiert. Seine Rolle als selbsternannter Nachlassverwalter irritierte Catherine, doch vielleicht vertrat Campbell tatsächlich Toms Willen und tat instinktiv das Richtige. Wie würde Tom auf die Mitteilung reagieren, dass sein Freund Campbell die Veröffentlichung seiner letzten Werke verhindert hatte?
***
Der Laptop hatte längst sein staubiges, dunkles Heim gegen einen sonnigen Platz auf dem Wohnzimmertisch eingetauscht. Da stand er nun also, gierig darauf wartend, mit Strom und Worten gefüttert zu werden. Es war früher Abend und der Sonnenball schickte sich allmählich an, hinter den Hügeln zu verschwinden. Das drückend schwüle Wetter hatte Catherine veranlasst, die Verandatür weit zu öffnen.
Seit mehr als einer Woche hatte sie dem zerstörerischen Geist des Alkohols entsagt. Ihre neue Droge war ungleich intensiver und interessanter. Zwei Tage zuvor hatte sie überrascht festgestellt, dass ihre Depressionen gleichsam aus ihrem Verstand, aus ihrer Seele gewaschen worden waren, als hätte eine reinigende Flut positiver Energie all das in einer einzigen Welle weggespült, was sie an der Wertigkeit ihres Lebens hatte zweifeln lassen.
Catherine fühlte sich an Einsiedlerkrebse erinnert, die sich toter Muschelschalen bedienten und ihnen gewissermaßen neues „Leben“ einhauchten, indem sie sie auf ihren Rücken trugen.
Der Computer war ihre Verbindung in eine andere Welt, eine andere Perspektive des Denkens. Es war ein Fenster, durch das nur sie hindurch blicken konnte, und was sie sah, erfüllte sie mit Wonne und Lebensmut. Alle Termine der nächsten Wochen hatte sie ohne Angabe von Gründen abgesagt.
Zeit war etwas, das sich in ihrer Phantasie lediglich in einem Kontinuum der Gegenwart manifestierte.
Sie kannte keine Zukunft mehr; die Vergangenheit, all das, was hinter ihr lag, war zu unbedeutend, um es wach in Erinnerung zu halten. Relevante Bedeutung besaß nur noch das hier und jetzt, das, was war, nicht das, was vielleicht sein würde.
Clive war unwichtig. Man konnte ihn ansehen und berühren, aber keine sinnvollen Gespräche mit ihm führen. Clive war ein dunkler Schatten an der Wand.
Der Geist, der das elektronische Gerät beseelte, war das Licht, das alles und jeden überstrahlte. Der Computer schnurrte zufrieden und bereit, das nonverbale Echo seines Gastes auf den schmalen LCD-Bildschirm zu werfen.
„Ist es Morgen?“‚ wollte Tom wissen.
„Nein, Abend“‚ schrieb Catherine und las dann:
“Hier, in der Heimat der Transformierten, ist auch nachts heller Morgen.“
Eine ihrer ersten Fragen war jene nach dem Aufenthaltsort der Transformierten gewesen. Tom hatte sich um eine konkrete Antwort gedrückt: “Viel zu nahe, um Sie zu berühren“
Überhaupt drehten sich ihre Dialoge meist um die Person Catherines.
„Mir ist folgendes klar geworden“‚ schrieb sie. „Meine Probleme hatten mit meiner Angst vor der Zukunft zu tun. Ich wollte mich weiterentwickeln, blieb jedoch in einer Phase der Unzufriedenheit mit mir selbst stecken. Hatten Sie ähnliche Probleme?“
„Campbell hatte Recht: Ich war dickköpfig und unsympathisch. Aber er wusste nicht um meinen realen Background: Ich hatte Angst vor dem Spott der Vergangenheit, der meine Zukunft zerstören sollte. Ich war entsetzlich hässlich. Und das bereits in der Kindheit. Nicht auf diese niedliche Weise; Ich war einfach abstoßend hässlich. Die Erwachsenen schnitten mich deswegen und übertrugen ihre Wertvorstellungen, ihre Alltagsästhetik, auf ihre Kinder, die mich ebenfalls ablehnten. Was Wunder, dass ich ein Einzelgänger wurde? Ich geriet in einen verhängnisvollen Teufelskreis, der darin mündete, dass ich zum fast perfekten Misanthropen mutierte. Fast deshalb, weil es Menschen gab, die mir etwas bedeuteten, die ich mochte. Dann aber fiel ich in ein tiefes Loch, aus dem ich mich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Doch hier, befreit vom Joch des trägen Körpers, bin ich frei und voll der Liebe. Trotzdem muss ich zugeben, meinen endgültigen Schritt aus Ihrer Welt ein wenig zu bedauern. Versuchen Sie zu leben, Catherine. Ich will Ihnen keine Ratschläge erteilen, doch habe ich eine Lektion gelernt: Lebe so, dass du jeden Atemzug genießen kannst, ohne jemand anderem die Luft zum Atmen zu stehlen. So ich das beurteilen kann, leiden Sie unter der Angst, ständig Fehler zu begehen, und sich für diesen Fall vorab zu entschuldigen.
Wahrscheinlich sind Ihre Probleme sehr viel komplexer und auf eine Weise gelagert, die ich nicht erkennen kann, da ich nicht um Ihren persönlichen Background weiß.“
„Immerhin wussten Sie eine ganze Menge von mir. Unter anderem, dass ich meinen Vater früh ‚verlor’. Ich denke, ich war auf der Suche nach einem Ersatz väterlicher Stärke.“
„Dieser Clive?“
Catherine lachte, ehe sie sich eingestehen musste, dass dieser Gedanke gar nicht so abwegig war.
„Er ist ständig um mich besorgt, was ihn aber nicht daran hindert, mich für lange Zeit allein zu lassen. Merkwürdig. In diesem Licht sah ich ihn noch nie.“
Und es war tatsächlich die Wahrheit.
„Sie sind ein begabter Therapeut, Tom“
„Oh, ich schätze, ich würde Schwierigkeiten haben, eine Konzession zu bekommen. Warum ist es Ihnen eigentlich so verhasst, Cathy gerufen zu werden?“
Darüber musste sie eine Weile nachdenken. Ihre Aversion der Kurzform ihres Vornamens gegenüber war ihr so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie um den Grund dessen nicht mehr sicher zu berichten wusste.
„Ich weiß auch nicht genau. Es ist mir einfach unangenehm.“
„Oder Sie haben es verdrängt. Ein schlimmes Erlebnis, das damit in Zusammenhang steht.“
„Gegenfrage: Warum wühlen Sie in der Vergangenheit?“
„Weil ich daran gewöhnt war. Wissen Sie, ich hasste meine Vergangenheit. Bis zu meinem Tod verursachte diese schreckliche Vergangenheit Alpträume meines Herzens und Verstandes. Die Gespenster des Vergangenen, die mich nicht aus ihren Klauen ließen: Immer wieder erhoben sie sich und suchten mich heim. Und dabei wollte ich doch nie jemandem etwas Böses.“
„Ihre eigene Persönlichkeit ausgenommen.“
„Sie sind klug, Catherine, das imponiert mir. Ja, ich hasste mich und verpasste keine Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen. Mein letzter Kraftakt war symptomatisch hierfür.“
„Warum haben Sie es getan, Tom?“
In ihrer Vorstellung schloss ihr unsichtbarer Gesprächspartner die Augen, ballte die Fäuste, kämpfte gegen den starken Impuls an, die Flucht zu ergreifen, Schweiß auf seiner Stirn.
„Verzweifelte Einsamkeit, das Gefühl, eine Sprache zu sprechen, die niemand versteht. Manchmal wurde dieses taube Gefühl durchbrochen, kehrte dann wieder unvermittelt zurück. Ich war krank, Catherine, schwer krank, und die einzige Medizin, die mir hätte helfen können, befand sich in einem Schrank, zu dem ich keinen Zugang hatte. Meine letzten Kurzgeschichten umschrieben diese Medizin, die mir versagt blieb.“
Das Puzzle fügte sich ineinander. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte Catherine solche Emotionen verspürt, Mein Gott, dachte sie, wenn ich davon gewusst hätte! Ja, was dann? Da wäre also dieser Schriftsteller vor ihr gestanden, klein und hässlich, mit keinerlei Vorzügen ausgestattet, außer jenem, dass er ihre Schönheit wie ein Scheinwerfer in noch gleißenderes Licht gerückt hätte.
„Mal ehrlich“, dachte sie, „du hättest ihn ausgelacht und wärst ihm aus dem Weg gegangen. Interessant wurde er erst durch seine Nicht-Existenz“.
Die bittere, unschmeichelhafte Erkenntnis schmerzte sie.
„Du warst das Alpha und Omega meiner Gedanken“‚ stand plötzlich auf dem Display. „Vor dir verborgen habe ich es geflüstert, Catherine. Ich“
„Hallo“, dröhnte eine Stimme in den Raum.
Catherine sah erschrocken auf, erwartete einen absurden Moment lang, die Verkörperung der Worte zu erkennen, obgleich sie die Stimme sofort identifizieren hätte müssen.
Natürlich war es Clive. Der gute alte Clive, der sich Sorgen um sie machte, ewiglich und gründlich.
Sie hatte den Mund etwas geöffnet, sog Luft ein, um den schnellen Schlag ihres Herzens abzukühlen, wandte sich dem Display zu, denn sie wollte ‚es’ lesen. Entsetzen packte sie:
Sie musste den Text versehentlich gelöscht haben, als Clive eingetreten war. Die unscheinbare Berührung einer Taste und sie hatte vernichtet, was Tom ihr hatte sagen wollen. Hatte ‚es’ vernichtet, dessentwegen er sein junges Leben weggeworfen hatte. Clive hatte von dem kleinen Drama nicht einen Deut bemerkt.
„Ich bin gekommen, um dir zu helfen, Cathy“, sagte er mit ruhiger, aber betont autoritärer Stimme.
Und da wusste sie alles, die ganze Wahrheit. “Nenn mich nicht Cathy, verdammt noch mal!
Mein Name ist Catherine! “
Clive zuckte unmerklich zusammen, schritt jedoch weiter auf sie zu. “Okay“, meinte er besänftigend, als müsse er sie daran hindern, von der Brüstung eines Hochhauses zu springen.
Dabei streckte er ihr den dicken, muskulösen Arm entgegen.
„Komm, lass uns irgendwo hin gehen, nur raus aus dieser Stickigkeit.“
Sie starrte auf den Bildschirm, der so leer wie ihr Leben war, bevor Tom es durch die Hintertür betreten hatte.
“Du bist schuld, Clive“, flüsterte sie.
Clive zeigte sich erstaunt. “Woran?“
Heiser lachte Catherine. Es war ein künstliches Lachen.
„Willst du das wirklich wissen?“, fragte sie.
***
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er angenommen, sie würde unter Stresssymptomen leiden, oder, im schlimmsten Fall, an Depressionen, die sie mit Alkohol zu vertreiben versuchte.
Nachdem sie ihm die Geschichte ihres Wahns anvertraut hatte, geriet er zu der unerschütterlichen Auffassung, dass sie im Begriff war, völlig durchzudrehen. Sie reihte Wort an Wort, ohne Pause, und es klang kalt und hasserfüllt—Hass, den sie ihm gegenüber hegte; Hass, den er nie geschürt hatte.
„Das ist unmöglich, Cathy, ich meine, Catherine. Überleg mal: Bestimmt ist die Phantasie mit dir durchgegangen.“
Er setzte sich neben sie. “Ich hatte als Kind einen imaginären Spielkameraden. Er hieß Sid und—“
“Es interessiert mich einen Scheißdreck, was du in deiner verdammten Kindheit phantasiert hast!“‚ schrie sie ihn. “Ich bin nicht verrückt“
Sie fuhr sich durch die langen Haare, schluckte, schloss die Augen, wartete ab, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Dann fuhr sie fort und sprach bedächtig, als müsse sie einem Kind eine wichtige Lektion erklären.
“Clive, ich bin nicht verrückt. Aber es könnte sich rasch ändern, falls sich herausstellen sollte, dass ich durch deine Schuld den Kontakt zu Tom verloren habe.“
Ihre smaragdgrünen Augen fixierten ihn mit einer reptilienhaften Kälte, die er noch Sekunden zuvor für unmöglich gehalten hätte. Sah er sich hier etwa mit einer bösartigen Doppelgängerin konfrontiert? Sie wandte sich von ihm ab und dem Bildschirm zu. Der Cursor blinkte pflichtbewusst.
„Tom, bist du noch da?“, schrieb sie, da ihr im Augenblick nichts Besseres einfiel.
Dümmliches, elektronisches Blinzeln folgte diesem Satz. Sie schrieb ihn erneut nieder, einer Antwort unbelohnt. Sie bekam es mit der Angst zu tun.
„Bitte zeige Clive, dass ich nicht verrückt bin“ ‚ forderte sie.
Nichts.
Sie schlug die Hände vor ihr bleiches, ausgemergeltes Gesicht.
“Oh Gooott!“, kreischte sie jämmerlich.
Clive versuchte sie zu trösten, indem er ihr die Hand auf die Schulter legte, doch sie entzog sich dieser Geste.
“Catherine, du tust genau das, was er auch tat: Du zerstörst dein Leben, bis es keinen Ausweg mehr aus der Sackgasse gibt. Das lasse ich nicht zu, hast du das verstanden?“
Sie gab vorerst keine Antwort. Erst später sagte sie mit einer Stimme, die totale Hoffnungslosigkeit verriet: “Du hast mein Leben zerstört, Clive. Schon vor langer Zeit. Du kannst mit deiner Leistung zufrieden sein.“
“Das ist nicht wahr!“, herrschte er sie wütend an. “Um Himmels willen, wie kannst du das nur sagen! Wie kannst du nur so schlecht von mir denken? Ich liebe dich und würde dir niemals weh tun, und das weißt du, verdammt noch mal!“
Seine Worte fielen härter aus, als beabsichtigt.
“Ich weiß es eben nicht“, entgegnete sie wütend. “Welche Art Liebe ist es, jemandem das Kostbarste zu stehlen, das dieser besitzt?“
Verzweiflung ergriff Clive. Er musste schier ohnmächtig mit ansehen, wie sie ihm entglitt, sich kalt von ihm abwandte.
“Lass es uns nicht von der emotionalen, sondern von der nüchternen, logischen Warte aus betrachten. Du behauptest, du hättest mit diesem Gallaghan niemals zuvor gesprochen oder sonstigen persönlichen Kontakt mit ihm gehabt. Was, wenn du dich irrst? Ich will dir ein kleines Gedankenspiel präsentieren: Irgendwo, irgendwann, ob auf einem Drehset oder einer Party oder in einem Restaurant, hattest du eine flüchtige, wenig angenehme Begegnung mit Gallaghan.
So viel ich deinen Andeutungen ihm gegenüber entnommen habe, war er ein reichlich unsympathischer Mensch. Aber er ist von dir angetan und will dir dies mitteilen. Du weist ihn, möglicherweise schroff, zurück und kränkst ihn, bestätigst ihn in seiner Auffassung, ungeliebt zu sein, ein Stück Abfall, das niemand auch nur mit den Fingerspitzen berühren will. Gott weiß, ich bin kein Psychologe, aber ich kann mir eine ungefähre Vorstellung machen, wie ihm zu Mute gewesen sein musste.
Aus unbekannten Gründen stelltest du für ihn eine Art rettenden Engel dar. Für Gallaghan warst du plötzlich die Verkörperung, die Manifestation allen positiven Seins, eine Oase in der Wüste der Einsamkeit und der seelischen Abgeschiedenheit. Doch anstatt diese Erwartung zu erfüllen, enttäuschtest du ihn. Sein letzter Rest Lebensmut ist erschöpft, er resigniert. Du fühlst dich deshalb schuldig und erweckst ihn zu neuem „Leben“ - in deiner Phantasie, um dein Gewissen zu erleichtern.“
“Und warum kann ich mich dann nicht mehr an die angebliche Begegnung mit Gallaghan erinnern?“, wandte Catherine ein, wobei die Frage rein rhetorischen Charakter hatte, da sie nicht eine Unze von Clives dummer Theorie auch nur in Betracht zog, der Wahrheit nahe zu kommen.
“Du könntest betrunken gewesen sein. Oder du hattest eine Fugue.“
“Eine was?“, fragte Catherine lustlos nach, nur noch bestrebt, die Unterhaltung rasch zu beenden.
“Eine Fugue. Eine Art Blackout, das sich über Stunden hin ziehen kann. Man unternimmt etwas, sieht sich einen Film im Kino an, spricht mit Freunden, geht essen. Und kann sich wenig später nicht mehr daran erinnern. Als hätte man aus einem Buch ein paar Seiten herausgerissen.“
“Warum bloß werde ich das Gefühl nicht los, du hältst mich für verrückt? Ich kann deine Begründungen drehen und wenden, wie ich will: Das Ergebnis ist stets das gleiche.“
“Nein, das stimmt nicht“, verteidigte sich Clive und unterstrich dies mit seiner Trauriger-Junge-Mimik.
“Verschwinde“‚ zischte Catherine und bedachte ihn mit einem kalten Blick.
“Damit du dein Leben systematisch zerstörst? Ich wette, keine fünf Minuten, nachdem ich gegangen bin, wird sich dein Freund aus dem Reich der Toten bei dir zurückmelden. Nein, Catherine, das kann ich dir nicht gestatten.“
“Ach?“, spottete sie, ein maliziöses Lächeln auf ihren blassen Lippen. “Wie gedenken Euer Lordschaft dies zu unterbinden? Willst du mich in ein Sanatorium einliefern lassen? Ich werde alles bestreiten und dich vor Gericht zerren, Clive. Ich -“
Clive stand auf und sagte mit gelassener Stimme, die davon kündete, dass er zu seinem Selbstbewusstsein zurückgefunden hatte: “Ich werde deine Medizin sein und meine erste Wirkung wird darin bestehen, dass ich dich Abstand von deinem Wahn gewinnen lassen werde. Sieh her, was ich mache.“
Sie konnte es nicht verhindern.
Seine Hände schnappten schnell wie der Kopf einer Schlange zu. Ihr Opfer war der Laptop. Ehe Catherine reagieren konnte, klatschte das Gerät wuchtig gegen die getünchte Wand und verursachte ein beklemmendes Geräusch sinnloser Zerstörungswut.
Der Bildschirm zerbarst zischend und Glassplitter regneten auf den Parkettboden. Clive zeigte sich nicht zufrieden mit seiner destruktiven Arbeit und packte den Computer erneut. Dünnes Blech verbog sich wie Papier, als es kraftvoll wieder und immer wieder gegen die Wand geschlagen wurde.
Endlich löste sich Catherine aus ihrer wachen Ohnmacht. Sie sprang auf und stürzte sich auf Clive. Sie wollte ihm das leblose Metall entreißen, brachte aber nicht die Kraft hierfür auf, nachdem sie eingesehen hatte, dass es zwecklos war. Die Innereien des empfindlichen Apparates quollen wund aus dem Metallkörper heraus und es weinte Plastikstücke.
Catherine glaubte, in tiefe Ohnmacht fallen zu müssen, was nicht eintrat. Clive warf das Gerät zu Boden. Er keuchte hastig, feine Äderchen ästelten über sein gerötetes Gesicht. Löcher in der Wand zeugten von dem Akt vernichtender Gewalt.
Tränen in den Augen kniete Catherine nieder, betrachtete den geschlossenen Zugang in eine andere Welt und wusste nicht, wie ihr geschah. Sie schüttelte Clives barbarische Hände nicht ab, als diese sich behutsam über ihre Schulter tasteten.
Schlaflose Nächte und Nächte, die besser daran getan hätten, sich den Träumen zu verweigern. In einem ihrer schrecklichsten Alpträume hatte sie sich mit Clive in einer Hotelbar befunden und sie hatten über belanglose Dinge miteinander gesprochen. Plötzlich hatte sie sich erhoben und der Raum im Kreise gedreht, wie ein 360-Grad-Schwenk einer auf Schienen montierten Filmkamera.
Sie hatte sich über den sinnlose Worte brabbelnden Clive gebeugt und geflüstert: “Schließe deine Augen, Prinz, und öffne dein Herz, um mich an deinem Leben Anteil nehmen zu lassen.“
Fest und entschlossen hatte sie das Messer, das sie in Händen hielt, gepackt und genüsslich in seine Kehle gerammt. Blut, so viel Blut. Überall, an ihren Händen, auf Clives blütenweißer Krawatte, oh Gott, es hatte seinen Zweireiher getränkt. Keiner der anwesenden Bargäste hatte sich an dem morbiden Schauspiel gestoßen. Sie hatten englisch gesprochen; und dennoch war es kein Englisch gewesen, sondern eine fremdartige Sprache, die Catherine nicht verstanden hatte.
Tatsächlich hatte sie nicht nur einmal den Wunsch gehegt, diesem selbstgerechten Bastard Clive Schmerzen zuzufügen. Dann hatte sie sich selber verabscheut für diese grässlichen Gedanken.
Danach hatte sie Clive nur noch selten gesehen. Monate waren verstrichen und ließen Catherine ratlos zurück. Sie hatte Gallaghans Werke gelesen, nein, vielmehr aufgesogen, als wäre ihr Verstand ein Schwamm, der anstatt Wasser Gedanken und Worte, Gefühle und Buchstaben speicherte.
Es stimmte sie traurig, niemals die Wahrheit hinter dem Gedruckten erfahren zu können. Jede Seite war das brandende Tosen eines wilden Ozeans, der verzweifelt mit Wellen um sich schlug.
Monate verstrichen und Catherine fühlte sich gedrungen, ihr Leben wieder auf eigene Gefahr in ihre zarten Hände zu nehmen. Eine nicht unbedeutende Nebenrolle in einem Fernsehfilm hatte ihr Comeback bedeutet, das sie würdevoll einläuten wollte. An Angeboten mangelte es ihr nicht.
Und allmählich hatte sie zu einer Existenz gefunden, die man L-e-b-e-n buchstabierte. Sie verschmähte Alkohol und schöpfte Lebenskraft aus dem Brunnen der Selbsterkenntnis. Sie wollte Menschen nie wieder nach ihrem Äußeren beurteilen, was schwer fiel, wenn man gewohnt war, in ebendiesen Kategorien zu denken.
Sie veränderte ihr Aussehen, indem sie es nicht veränderte. Anfangs hatte sie sich etwas unsicher gefühlt, nur sich selbst zur Schau zu stellen. Doch gewöhnte sie sich überraschend schnell an argwöhnische Blicke, die über ihre Falten im Gesicht glitten.
Plötzlich gewann sie Freunde, die ein tatsächlicher Gewinn waren, wie zum Beispiel Camphell, der weder durch gutes Aussehen, noch durch Pseudo-Weisheit überzeugen wollte und konnte, aber sich als aufrichtiger Freund entpuppte, dem man sich anvertrauen konnte.
Fassadenmenschen wie Clive vermied sie tunlichst.
Die Alpträume wurden seltener und weniger intensiv. Ihre depressiven Phasen freilich konnten nicht binnen weniger Monate in den Orbit eines Planeten namens „Bedeutungslosigkeit“ verfrachtet werden. Der Unterschied zu damals bestand darin, dass sie wusste, nicht allein zu sein; dass sie wusste, ihre Worte würden nicht ungehört verhallen.
Und über ihrem neuen Leben wachte der Schatten einer Seele. Fortan lebte sie bewusster, aber nicht sorgenfrei. Sie war keine Prinzessin eines Märchens und keine gute Fee würde sie bis ans Ende ihrer Tage von Problemen abschotten.
Positiven Erlebnissen und Eindrücken standen negative gegenüber, was sie aber nicht verzweifeln ließ, sondern die schönen Momente des Lebens, die flüchtige Liebesschwüre des Seins waren, um vieles wunderbarer erscheinen ließen.
Catherine hatte die wichtigste Lektion menschlicher Existenz gelernt: Leben.
Niemand sollte ihr das streitig machen, was sie mühsam und peinsam zugleich am eigenen Leibe erfahren hatte. Oh, Leben konnte etwas so Phantastisches sein, wenn man seine Energien darauf verwenden konnte, jeden Moment zu genießen und dergestalt den Tod zu akzeptieren, aber nicht herbeizusehnen.