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Objektiv gesehen

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25.07.2018
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Objektiv gesehen

Du merkst erst, dass du betrunken bist, wenn man du aufs Klo muss, aufstehst und hoffst, dass andere den kleinen Schwenker im Gang nicht sehen. (tun sie natürlich nicht) Im Badezimmerspiegel guckt dich dann ein etwas träges, müdes Gesicht an, das nichtsdestotrotz davon überzeugt ist, dass alles liefe und du seinetwegen noch die ganze Nacht lang feiern könntest. Joy Division drängen sich gedämpft durch die Tür. Im Gästebad reflektierst du den Abend, das Leben. Dramatisch, ich weiß. Ich hab’ einen Hang zur Dramatik, hat Josie mir irgendwann mal gesagt. Ich spritze mir Wasser ins Gesicht. Nein, ich sollte gehen, denn seien wir mal ehrlich: Seitdem Klaas die Schule gewechselt und keiner mehr das riesige Haus seiner Eltern zur Sauf-Kathedrale konsekrieren konnte, waren die Jahrgangsparties auch nicht mehr dieselben. Vielleicht liegt’s auch nur an mir. Es ist erst halb eins, aber Paul und Swenja werden es mir schon nicht übelnehmen, sollte ich entscheiden zu gehen. Zu mir nach Hause ist es nicht gerade ein Sprung; ich sollte ein Taxi rufen. Just in dem Moment ging die Tür auf (nicht abgeschlossen, scheinbar). Es ist Paul. „Na, wie läuft’s? Willst du schon gehen?“ „Ne, wieso?“, gab ich verdutzt zurück. „Das Taxi, das du gerufen hast? Mensch du bist ja voller als du aussiehst und das soll was heißen.“ Na vielen Dank auch. „Komm jedenfalls gut nach Hause. War geil dich mal wieder zu sehen.“ Ich hatte wohl was missverstanden: „Was für ein Taxi?“ Die Frage ging praktisch ins Leere bzw. in Pauls Rücken während er die Badezimmertür hinter sich schloss. Gut, dann muss ich das wohl vergessen haben. Ich bin angetrunken, das passiert mal, richtig? Oder, jemand hat ein Taxi fürmich gerufen. Sehe ich wirklich so fertig aus?
Den meisten anderen Gästen erfolgreich ausgewichen, taumelte ich straßenwärts, wo tatsächlich ein Taxi bereitstand. Die mir zugewandte Hintertür schon geöffnet, strahlte mich das Innere des Wagens einladend gelblich an, woraufhin ich es mir auf dem äußersten, rechten Sitz bequem machte und kurz meine Taschen auf Schlüssel und Handy überprüfte. (Alles check)
Ich schloss die Tür und das Auto setzte sich in Gang. Paul muss dem Fahrer wohl meine Adresse schon gegeben haben. Etwas eigenartig, dass er (der Fahrer) bisher noch nichts von sich gegeben hat, aber ehrlich gesagt ist es mir auch lieber so. Auf den gezwungenen Smalltalk beim Friseur könnte ich auch verzichten.
Wir nähern uns dem Ende des Wohngebietes und in der Fensterscheibe hängt mein träges, müdes, etc. Gesicht halbtransparent über den dunklen Einfamilienhäusern, periodisch erleuchtet durch Straßenlaternen, deren gelblicher, dem Taxi-Inneren nicht unähnlicher Schein ab und zu diverse vagabundierende, oder heimkehrende Gestalten dem Auge sichtbar macht; die solidarische Dunkelheit, den Schleier der Nacht, für einige Sekunden unterwandert. Ein kompliziertes Gefühl machte sich in mir breit. Die Gegend kam mir nicht mehr bekannt vor. Etwas war nicht richtig und doch gefiel es mir, wie wir papierschiffchenartig durch die Straßen trieben. Dann irgendwann hielten wir an. „Wir sind angekommen, steigen Sie bitte aus.“ Das war das Erste was der Fahrer zu mir gesagt hat und kurz danach stellte sich heraus, dass es auch das Letzte war. Wahrscheinlich um weitere Leute abzuholen, die nicht drum gebeten haben und irgendwo am Arsch der Welt abzusetzen. Warum bin ich überhaupt ausgestiegen? Ich wohne hier nicht, aber ich wollte nicht diskutieren und außerdem hat er mich nicht auf seinen Tarif aufmerksam gemacht. Des Weiteren klang er sehr entschlossen und hat mir ehrlich gesagt auch Angst gemacht. Ich habe sein Gesicht nie gesehen.
Wo ist das hier überhaupt? Mein Handy ist alle. Ich hätte nach Hause gehen sollen; jetzt bin ich hier irgendwo mitten im Industriegebiet. Parallel zur Straße auf beiden Seiten verläuft ein hoher Maschendrahtzaun hinter dem sich eine scheinbar verlassene Fabrik befindet. Auf dem Gelände finden sich Container und schräg nach oben laufende Transportbänder, die zu einem riesigen Trichter führen, große Lagerhallen und Garagen, wovon einige offenstehen. Mir blieb nichts Anderes übrig, als der Straße zu folgen und zu schauen, wo mich das hinführen sollte. Vielleicht finde ich auf dem Weg ja jemanden, dessen Smartphone ich benutzen kann um meine Eltern anzurufen, oder einen Blick auf eine Karte zu werfen, oder schlicht und einfach nachzufragen wo ich gerade bin.
Ich ging also los. Die Stille war beinahe erdrückend. Kein einziges Auto fuhr mir entgegen und die einzigen Lichtquellen waren die zuvor erwähnten Straßenlaternen (spendeten Licht, Trost aber keinen). Ist das so der Moment an dem man reflektieren sollte? Wäre ich jetzt in einer Serie, wie wäre die Stimmung? Eher unheimlich und düster, oder so indiemäßig-gloomily-hip-ich-laufe-nachts-nachdenklich-durch-unbekannte-straßen-esque? Ich trat einen Stein weg und lehnte mich etwas zu sehr in den Tritt, wie man es aus Filmen kennt (Hände in den Hosentaschen, Kopf unten). Macht man das wirklich, oder ist das nur so ein Filmding? Ich mache das hier doch richtig.
Ich erschrak fast zu Tode als ich plötzlich eine Stimme von rechts hörte. Sie kam vom Gelände der stillgelegten Fabrik. „Junge, hast du mal eine Minute?“ Mein erster Instinkt war sofort loszurennen, aber stattdessen drehte ich mich zu der Stimme hin und sah in ungefähr zehn Meter Entfernung einen Mann mit Arbeitshose und Hemd (…glaube ich, man konnte es von dort kaum erkennen) mit Zigarette im Mund, auf einem Klappstuhl sitzend. Zuerst konnte ich mich nicht vom Fleck bewegen und für einige Sekunden gab ich auch nichts von mir. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich dann wieder zu mir kam und mit brüchiger Stimme ein „Hm?“ hervorbrachte. Das ist dann der Moment, an dem Zuschauer den Bildschirm anschreien, oder das Buch wegschmeißen. Bist du komplett durchgeknallt? Jeglicher Realismus geht flöten, niemand würde sowas machen etc. Aber die Wahrheit ist: Manchmal handelt man irrational, besonders unter Stress. (Vielleicht auch aus einer Mischung aus Neugier und Lebensmüdigkeit im entferntesten Sinne) Außerdem ist Realismus langweilig. So das war’s mit der Rechtfertigung.
Der Mann schien meine Rückfrage zu ignorieren und ich versuchte es nochmal eloquenter: „Was wollen Sie?“ „Ich möchte reden“, gab er mit einer Stimme zurück, die mehrjahrzähntiges Rauchen und Trinken suggerierte. Es klang als wäre es ihm wichtig. Nicht sicher, wieso es mich scheren sollte, was ominöse alte Männer auf verlassenen Fabrikgeländern mir für Weisheiten zu erzählen haben, aber ich hatte das Gefühl, dass ich hier sowieso gar nicht in unserer Welt war, sondern irgendwo anders, wo alle Regeln des selbsterhaltenden, logischen Handelns bis auf Weiteres auf Eis gelegt sind. Ich wollte schon fragen, wie ich zu ihm kommen sollte und erspähte kurz darauf eine Lücke im Zaun. Isn’t that convenient? Vorsichtig kletterte ich hindurch und bewegte mich langsamen Schrittes auf den glühenden Punkt zu. Jetzt konnte ich den Arbeiter genauer ausmachen. Viel fällt mir zu seinem Aussehen nicht ein, außer dass er sehr alt aussieht, obwohl er das wahrscheinlich nicht ist und ein trauriges Gesicht hat. (Er guckt jetzt aber nicht traurig) Ihm gegenüber steht ein zweiter Klappstuhl derselben Sorte und ich nehme Platz, mich vollständig mit meinem Schicksal abgefunden.
„Du also auch?“ Wovon redet er? „Ja, so hab’ ich damals auch reagiert.“, fuhr er fort. „Ich verstehe nicht.“, gab ich zurück, woraufhin er belustigt Luft aus der Nase stoß. „Du weißt es also noch nicht? Du armer.“ „Bin ich tot?“, fragte ich instinktiv, man wie blöd bin ich eigentlich. (Lachend: ) „Nein, aber so ähnlich. Du wirst sehen, es ist gleichzeitig besser und schlimmer zugleich.“
Was passiert hier gerade? Ich fahre mit einem nicht von mir gerufenem Taxi, ohne zu bezahlen, in ein Industriegebiet, das ich nicht kenne, in dem sich keine Menschenseele mehr tummelt (oder je getummelt hat?) und rede mit einem ‚Arbeiter’ auf einem dunklen Fabrikgelände, der mit erzählt ich sei zwar nicht tot, aber ganz lebendig sei ich nun auch nicht. Da traf es mich wie ein Blitz. Das muss es sein. In Wahrheit bin ich auf der Party eingepennt und liege gerade besoffen auf der Couch oder auf dem Boden. Luzide Träume. Wenn du im Traum realisiert, dass du träumst, dann kann es sein, dass du Bewusstsein erlangst und Kontrolle über den Traum an dich nimmst. Du wechselst von Automatik- zu Handschaltung. Als ich ungefähr 14 Jahre alt war hatte ich so einen Traum mal. Ich konnte durch die Gegend fliegen und auf Wasser laufen. Du spürst den Wind oder das Wasser nicht, aber es fühlt sich dennoch irgendwie echt an. Als ich aufwachte war ich jedoch in einem Zustand gefangen, den man als Schlafparalyse bezeichnet. Grausame Sache. Der Körper ist noch gelähmt (das ist im Schlaf sinnvoll, damit man Bewegungen im Traum nicht tatsächlich ausführt), aber du selbst bist wach. Furchteinflößend wird es, wenn die Halluzinationen anfangen. Stell dir vor, du liegst völlig reglos und wehrlos im Bett. Du kannst nicht schreien. Aus dem Augenwinkel siehst du eine schattenhafte Gestalt im Raum stehen. Nein, du kannst nicht hingucken, du bist gelähmt, vergiss das nicht! Du siehst diesen Schatten, oder ist es ein Clown, ein Dämon, näherkommen und du kannst ihn dennoch nicht genau erkennen. Wem das zu verrückt klingt, der stelle sich vor, dass das ganze eigentlich recht abstrakt ist. Du siehst nicht genau was, aber da steht was Schwarzes im Raum und sieht dich an. Auf deiner Brust sitzt zudem eine schwere Last und macht dir das Reden und Atmen schwer (unmöglich). Füsslis „Der Nachtmahr“ ist die perfekte Darstellung einer üblichen Schlafparalyse, wen es interessiert. Nach einigen grauenvollen Minuten, die sich wie Stunden anfühlen, ist es dann auch vorbei und du wachst auf, schweißgebadet. Seitdem habe ich nie wieder luzide geträumt und war nie wieder beim Aufwachen paralysiert gewesen.
LR, kS: Ich musste gerade träumen und dadurch, dass mir das bewusst ist, sollte ich Kontrolle erlangen. (Mir war vorher nicht klar, dass ich keine hatte, aber gut) Ich konzentrierte mich auf meine Beine. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragte der Mann. Ich schloss die Augen und Tatsache: Ich spüre wie mein Körper ganz leicht wird und die Krümmung der Raumzeit eine Ausnahme macht, nur für mich, und ich anfange mich zu erheben. Eine Welle der Erleichterung überkam mich. Ich öffnete die Augen. Der Mann, von dem ich nur noch, sein glimmendes Zigarettenende erblicken konnte sagte nichts und guckte mir nach. Von hier oben erstreckt sich das dunkle Industriegebiet immer noch in alle Richtungen und ich flog (es war eher ein Schweben) einfach geradeaus, den zunehmenden, über die Straßen wachenden, Mond in meinem Rücken.
Es dauerte nicht allzu lange bis ich bestimmte Straßenverläufe, Kreuzungen und Häuser wiedererkannte. Was würde passieren, wenn ich zurück zu Paul fliegen würde? Wird irgendjemand da sein? Ich muss sagen, dass die anfängliche Begeisterung über den Erwerb/Entdeckung meiner ätherischen Fähigkeiten langsam in Unbehagen umschlug. Es fühlte sich nicht anders an als vorher. Alles war genauso, nur dass ich jetzt wohl fliegen konnte. Was ich wohl noch alles konnte? Vielleicht liege ich gerade auch gar nicht bei Paul zuhause, sondern in meinem Elternhaus. Dann hätte ich die Party ebenso geträumt, wie alles danach. Trotzdem kommt es mir nicht richtig vor. Ich sehe keinen möglichen Schnittpunkt; keine Stunde null. Wie lange bin ich schon so gewesen? Jetzt wo ich drüber nachdenken, ist es schon seltsam, dass mich Josie überhaupt eingeladen hat. Wir waren eigentlich kaum befreundet und hatten auch in der Schule wenig miteinander zu tun. Ich könnte ja erstmal gucken, was bei Paul los ist. Damit sollte sich alles etwas aufklären. Mit seinem Haus schon in Sichtweite, bereitete ich mich auf eine Landung vor und verlor graduell an Höhe, bis ich mich nur noch wenige Meter über dem Boden befand.
Aus Entfernung sah man durch das Türfenster noch Licht scheinen und wenn man genau hinhörte, dann konnte man auch leise Musik wahrnehmen. Es waren also noch Gäste da. Ich klingelte doch niemand machte auf. Ich klingelte ein zweites Mal und dann ein drittes Mal. Nichts. Mir viel wieder ein, dass ich ja träumte und stellte mir vor wie ich Pauls Haustürschlüssel in der Tasche hatte und griff danach. Bingo. Was mich drinnen erwartete war nicht sonderlich überraschend, wenn man sich mit Traumlogik auskennt:
Stille. Und Dunkelheit. Ich bewegte mich den Flur entlang und bog rechts ins menschenleere Wohnzimmer ab. Ich schloss kurz die Augen und beschwor das Bild einer Party hinauf, es läuft Musik. Alle sind da. Josie, Paul, Swenja, Friedrich, Jakob, Lisa und selbst Klaas. Ich öffnete die Augen und… nichts. Korrektur: nichts. Gar nichts. Schwarze Leere in der ich auch nicht einmal mehr stand, sondern einfach nur war. Ich spürte den Traum unter mir zusammenbrechen und riss meine Augen auf. (Wenn man träumt kann man seine Augen auch noch öffnen, wenn sie gar nicht geschlossen sind. Nicht, dass es an diesem Nicht-Ort einen Unterschied zwischen offen und zu, oder zwischen etwas und nichts gab.)
Ich blickte panisch um mich und war zutiefst verstört, als ich feststellen musste, dass ich nicht etwa in meinem Bett aufgewacht bin, sondern auf einem Klappstuhl auf einem dunklen Fabrikgelände. Nicht ganz so dunkel, wie vorher, denn nun schien mir ein kleiner 4:3 Fernseher ins Gesicht zu scheinen, der auf dem Klappstuhl gegenüber von mir stand und mit von einem Kabel mit Strom versorgt wurde, das sich bis ganz nach hinten in eine der offenen Garagen schlängelte. Ich brauchte einige Momente um überhaupt wahrzunehmen, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Es war ich selbst, gefilmt von schräg-hinten und es war anscheinend auch eine Live-Übertragung, denn die Kamera näherte sich mir langsam. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Ich will meinen Kopf drehen aber ich kann nur wie betäubt sitzen bleiben und auf den Bildschirm starren. Nun ist die Kamera direkt hinter mir, was genau der Moment ist, in dem der kleine Fernseher mit einem sternförmigen Blitz einen Abgang macht. Ich komme augenblicklich zu mir und schaffe es endlich hinter mich zu blicken. Es folgt ein kurzes close-up auf mein entgleistes Gesicht. Cut to black, roll credits.

Ich speichere die Datei und fahre das MacBook herunter. Bin ich zufrieden? Nicht sicher, aber als der Bildschirm erloschen ist und ich mein eigenes Spiegelbild auf mich zurückstarren sehe, erblicke ich noch etwas Anderes direkt hinter mir. Ich drehe mich nicht um.

ENDE

 

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