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- 26.02.2003
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Der riesige Lastenaufzug trug sie rumpelnd und jaulend unermüdlich den Hauptturm empor. Jenseits der dicken Träger und des schützenden Maschendrahtes huschte das filigrane Fachwerk herab wie vernietete Spinnweben und ließ das helle Sonnenlicht flimmern. Hin und wieder stahl sich ein vorlauter Luftzug durch das verästelte Gebilde bis in den Aufzug, spielte mit der weichen, rotbraunen Locke, die sich aus ihrer engen Haube gelöst hatte, und strich ihr kühl über die Wangen und in den Kragen des Druckanzugs. Es roch nach feuchtem Sand, Meer und ein wenig nach Sonne. Natassja lächelte. Hinter sich spürte sie tröstend die Gegenwart ihrer Crew, die schweigend in ihre eigenen Gedanken versunken waren; sechs der fähigsten Männer und Frauen und die besten und verläßlichsten Freunde, die sie jemals gehabt hatte.
Natassja wandte leicht den Kopf, blickte an dem dicken Bündel Steigleitungen vorbei, das sie auf ihrem Aufstieg begleitete wie eine Eskorte aus flüssigem Wasserstoff, durch das verschwimmende Strebwerk des gigantischen Turmes hindurch und über das Panorama, das sich ihr darbot. Die späte portugiesische Morgensonne strahlte von einem wolkenlosen, porzellanblauen Himmel herab, zeichnete scharfe Schatten um die flachen Gebäude des Weltraumbahnhofes, ließ die Farben der unberührten Wiesen aufglühen und funkelte am Horizont auf den Wellen des atlantischen Ozeans. Eine Gruppe Möwen, die lautlos um die Startrampe kreisten, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Es waren drei. Schlanke graue Vögel, die gelassen mit reglosen Flügeln in der Luft lagen und sich in flachen Pirouetten in die Höhe schraubten. Die Anführerin krächzte einen Ruf, der vom Lärm des Aufzugs restlos verschluckt wurde, und führte die kleine Gruppe in einer schnellen Kurve hinter das Shuttle und außer Sicht. Natassjas Augen folgten ihr und blieben an dem gewaltigen Raumfahrzeug hängen. Vor ihr ragte die schimmernde, blau-weiße Flanke des Shuttles auf und nahm mit breitschultrigen Delta-Flügeln die beiden dunkelroten Flüssigtreibstoff-Booster unter ihre Fittiche.
Über ihr kam endlich die Unterseite der Versorgungsbrücke in Sicht.
Das ohnehin schon bedächtige Tempo des Schwerlastaufzugs sank noch weiter. Hinter dem Gitter aus dickem Maschendraht erschien die Stirnseite des Brückenbodens, die Kabine hob sich feierlich die letzten zwei Meter bis auf das Niveau des Zugangs und bremste noch einmal ab, pendelte sich ein und kam mit singenden Seilen und quietschenden Bremsbacken zum Stehen. Die Sicherheitsriegel fuhren knallend in die Passungen und die Warnlampe erlosch. Als die Gittertür zur Seite glitt griff Natassja nach dem Klimaaggregat neben ihren Füßen. Sie spürte ihr Herz zwischen den Rippen pochen.
Vor ihr lag die Hauptversorgungsbrücke, ein luftiger, breiter Korridor, zu den Seiten und nach oben von dem Fachwerk aus den gleichen schweren Doppel-T-Trägern begrenzt, die auch das Skelett des gesamten Turmes bildeten. Klares Tageslicht und eine frische, nach Salz und Meer duftende Brise strichen ungehindert durch die großen, nur bis auf Hüfthöhe mit Drahtgeflecht bespannten Dreiecke, so daß es schien, als spanne sich die Brücke direkt durch den Himmel.
Natassja atmete tief durch, schritt über die Schwelle des Aufzugs und ging los.
Der Druckanzug schmiegte sich wie eine schwere, flauschige Decke um ihren Körper, von ihrer Brust baumelten dicke Schläuche und verbanden sie mit dem Klimaaggregat in ihrer Linken, dessen Gewicht sie im Takt ihrer Schritte zu- und wieder abnehmen fühlte. Einer nach dem anderen setzten sich auch ihre Crewmitglieder in Bewegung und folgten ihr stumm, mit raschelnden, knisternden Anzügen und ruhigen Schritten.
Natassja sah alles um sich herum mit adrenalingeschärfter Klarheit. Sie sah die glänzenden Kacheln am Rumpf des Shuttles, die vier Techniker in den weißen Overalls, die die geöffnete Steuerbordluke flankierten und respektvoll auf ihre Ankunft warteten, um ihnen in die Raumfähre zu helfen. Sie hörte das Krächzen einer der Möwen und das nachhallende Trommeln, mit dem sieben Paar schwerer Gummisohlen fast im Gleichschritt auf die sandbeschichteten Stahlplatten trafen.
Ein sanfter Luftzug strich durch die Brücke. Er zerzauste die blonden Locken eines der Techniker und preßte ihr den Anzug noch enger um den Körper. Es roch nach trockenem Gras und warmen Maschinen. Sie erreichten die Mitte der Brücke und Natassja schauderte vor Erregung. Sie war auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde. Links vor ihr öffnete sich eine Tür und verbarg einen der Techniker. Die Sirene markierte dröhnend die letzten dreißig Minuten bis zum Start. Ein kleiner, dürrer Mann in Hemdsärmeln kam durch die Tür, witterte nach beiden Seiten und entdeckte sie. Natassja hielt die Augen auf die Luke gerichtet und fasste den Griff des Klimaaggregates fester. Der kleine Mann wieselte gestikulierend auf sie zu und trat gegen den Eimer mit Putzwasser. Eine Woge kalter Seifenlauge schwappte über sein Hosenbein und den kleinen Lackschuh und ergoß sich plätschernd über die Brücke, nahm fröhlich schillernd Besitz von den rutschfest lackierten Bodenplatten und spülte um die Sohlen ihrer ausgetretenen Turnschuhe.
Natassja blinzelte.
Ihr Chef stakste zeternd in der blasigen Lache umher und zog dabei mit spitzen Fingern seine Hosenbeine nach oben. Er trug klatschnasse Ringelsocken, die bei jedem Schritt quatschten. Natassja tat, was sie in solchen Fällen immer tat: sie glotzte. Nach einiger Zeit sah ihr Vorgesetzter schließlich ein, daß er nicht mehr nasser werden würde, stelzte beleidigt durch die nun sehr flache Pfütze und baute sich voller gerechtem Zorn vor ihr auf, fleckig rot im Gesicht. "Frau Chimkow!" keifte er, "Was fällt Ihnen denn ein, ihre Putzutensilien mitten auf dem Flur stehen zu lassen? Sehen Sie sich an, was passiert ist!" Er schüttelte fassungslos seine durchnäßten Hosenbeine. "Wie oft habe ich Ihnen schon Anweisung gegeben, ihre Utensilien an die Wände zu räumen? Das ist doch nicht so schwer!" Natassja senkte beschämt den Kopf aus seinem sauren Atem und ließ die Unterlippe hängen. Der stellvertretende Personalchef wetterte aus voller Kehle gegen ihre Untaten, umfaßte mit weit ausholenden Gesten den ganzen Bürotrakt, die fahlen Neonleuchten wie die sandfarbenen Wände, die stumpfen Fliesen ebenso wie die menschenleeren Büros und Natassjas mangelhafte Arbeit im besonderen. Natassja drehte schuldbewußt den Stiel ihres Mobs in den Händen und ließ die wütende Tirade über sich ergehen wie einen kalten Guß. Ihr Chef war ganz in seinem Element.Von der Bedeutung der Einhaltung der Vorschriften und Verfahrensregeln ging er über zu den drohenden Folgen, die sich aus der Mißachtung jener Grundlagen ergaben. Sie nickte. Mit dem Enthusiasmus des Berufenen übertrug er seine Schlüsse auf die menschliche Gesellschaft, formte mit wedelnden Händen und glühender Stirn das Bild vom Zusammenbruch der sozialen Ordnung. Natassja verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein und lauschte dem Untergang der Menschheit. Bis zum Bauch im Prinzip des Darwinismus und dessen Aushebelung durch Nichtbefolgung der sozialen Grundregeln blickte ihr Chef Natassja, die offensichtliche Mühe hatte, ihm auf seinem Höhenflug zu folgen, zufällig in die trüben Augen und verstummte abrupt. Schwer atmend fuhr er sich mit den Fingern mehrmals durch sein schütteres graues Haar und kehrte in die Realität zurück.
"Ja...", schnaufte er, "konnten Sie mir folgen?" Natassja nickte zögernd, die Unterlippe zwischen den Zähnen. "Gut! Dann passen Sie also das nächste Mal besser auf." Er steckte das Hemd, das während seines Vortrages herausgerutscht war, energisch zurück in den Leinengürtel und versuchte sich zu erinnern, was er hatte tun wollen, ehe er ihre Vergehen aufgedeckt hatte. "Also dann, halten Sie sich ran! Sie sind ohnehin zu langsam" Ein kurzes Nicken von Vorgesetztem zur Untergebenen, ein Schritt zur Seite und er hastete davon. Natassja drehte sich um, schloß den Mund und blickte ihm sinnend nach. Der schmal Rücken verschwand in einem Nebenflur.
Sie schüttelte schwach den Kopf, besah sich die riesige, flache Lache und begann sie langsam und methodisch aufzuwischen. Das Wasser war bereits zum größten Teil verdunstet und hatte eine furchtbar rutschige Seifenschicht hinterlassen.
"Halten Sie sich ran", murmelte sie, "Sie sind zu langsam!" Der Kerl war ein Idiot. Davon, daß er Wasser auf ihrem Boden verschüttete, ging es bestimmt nicht schneller. Sie steckte den nassen Mob in das grobe Sieb und wrang ihn etwas fester aus, als es nötig gewesen wäre. Von wegen zu langsam! Sie arbeitete zwar erst seit drei Tagen hier, hatte ihr Vorgehen aber schon so weit optimiert, daß sie nach 70% ihrer Schicht bereits 90% ihres Pensums geleistet hatte. Ihr Blick fiel auf den Wassereimer. Die Disc mit den Sondendaten schwamm schon wieder an der Oberfläche. Ein Stups mit dem Finger scheuchte sie wieder auf den Grund. Wenn man schon von ihr verlangte, daß sie die Forschungsdaten einer befreundeten Behörde lieferte, die zudem allesamt veröffentlicht werden würden, hätte man ihr wenigstens anständiges Material geben können. Natassja klatschte den Mob auf die Fliesen, daß es meterweit spritzte. Diese ganze Aktion war dämlich. Eine noch unerfahrene Agentin nicht gleich in einen der brodelnden Krisenherde zu schicken, leuchtete ihr noch ein, aber daß sie statt dessen die Putzfrau spielen und Daten der Marssonden stehlen sollte, war doch reine Schikane. Von wegen Bewährungsprobe in unkritischer Umgebung. Sie strich fahrig eine der schwarzen Fransen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinters Ohr und blickte wehmütig durch den verödeten Bürotrakt. Draußen schien sicherlich die Sonne und sprossen die ersten Frühlingstriebe. In einer Stunde war Feierabend, dann musste sie sich noch durch den Berufsverkehr kämpfen und die Disc im toten Briefkasten deponieren.
Sie seufzte resigniert.
Das Licht in einem der Bilderrahmen, die in großen Abständen an den Wänden hingen, flackerte. Natassja stützte beide Hände auf den Stiel des Mobs und das Kinn auf die Hände und wartete geduldig, ob das Flackern sich vielleicht wiederholte. Die meisten Bilder hatten astronomische oder technische Motive, wie man es in den Räumen einer Raumfahrtbehörde eben erwartete. Dieses spezielle zeigte die Marslandschaft am Landepunkt der jüngsten Sonde. Rauher Felsboden, von pulverigem, rostrotem Staub bedeckt, breitete sich vor dem Betrachter aus und brach in vielleicht fünf Metern Entfernung ab, formte dort eine Klippe von unbekannter Höhe. Dahinter war verschwommen und atemberaubend weit entfernt das tiefer liegende, von breiten Kanälen durchzogene Land zu sehen, daß am fernen Horizont in flache, geschwungene Hügel überging. Darüber und wie mit der matt roten Erde verschmolzen spannte sich ein glühender Himmel von so intensivem Rot, daß die nahe Sonne nur der Fokus eines allumfassenden Brennspiegels aus flüssigem Rubin zu sein schien. Das Licht war warm und still und drang mühelos durch ihr polarisiertes Visier. Nur das leise Zischen der Sauerstoffversorgung und das Rascheln ihres aufgeblasenen Druckanzugs waren zu hören.
Natassja streckte einen Arm der Sonne entgegen.