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Oben auf dem Dach

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21.04.2002
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Oben auf dem Dach

Das Thermometer zeigt dreiunddreißig Grad, oben auf dem Dach.
Von wo aus man die 70er-Jahre-Siedlung mit ihren häßlichen, viergeschössigen Wohnblocks genau überblicken kann.
Ob du noch weißt, wie wir als Kinder bis spät in die Nacht von hier oben in die Fenster der umliegenden Wohnblocks geblickt haben?
Kennst du sie noch, all die häßlichen und schmutzigen Geheimnisse der Nachbarn, die wir durch ihre Vorhänge erhaschen konnten?
Erinnerst du dich an Frau Hinz, die Alte mit den Jägerklamotten? Die jeden Abend besoffen von „Bielmann’s Eck“ durch das Viertel geirrt ist, bis sie eines Tages in dem kleinen Wäldchen lag?
In dem Wäldchen, das zwischen dem Viertel und der Autobahn liegt, der Autobahn, auf der Jörg Schütte mit neun Jahren von einem Schwertransporter überfahren wurde, als er seinem Foxterrier „Toni“ nachjagte?
Auf der sich die Tochter von Bielmann zwei Jahre später das Leben nahm, weil sie von zwei Jungen aus dem Block vergewaltigt worden war?
Erinnerst du dich an all die elenden Streitereien zwischen Frau Schmidt und Frau Jahnke auf dem Innenhof, dort, wo die älteren Jungen aus dem Block immer Fußball gespielt haben, bis die Stadt vor drei Jahren endlich in dem kleinen Beimler-Park, in dem die Bank steht, auf der Elsa Heitkamp’s Vater jeden Nachmittag seinen Rausch ausschläft, seitdem die Maschinenbaufabrik zugemacht hat, ein richtiges Fußballfeld eingerichtet hat?
Unsere Schule hat ja noch immer den alten Grandplatz, auf dem ich mir immer die Knie aufgeschlagen habe, wenn Robert Jahnke, der ewig blaue Flecken hatte, weil es bei Frau Jahnke kein Recht auf Faulheit gibt, mir wieder einmal mit ganzen Körpereinsatz und voller Absicht in den Rücken gesprungen war, wofür er dann am Ende jedes Jahres eine Eins in Sport bekommen sollte.
Du mußtest mehr unter den Mathematikstunden bei Herrn Resch leiden, weil du nicht verstehen wolltest, das Mädchen einfach an den Herd gehören.
Nach der Schule versteckte ich mich immer auf dem Dach.
Irgendwann warst du dann auch da.
So war es einfach, wie ein Naturgesetz.
Wir saßen in der prallen Sommersonne oder in unseren gelben Regenmänteln in Regen und Schnee hier oben, blickten uns um und sprachen nicht viel.
Vor allem sprachen wir nicht über das, was bei uns zu Hause geschah.
Du konntest nicht wissen, das mein Vater eigentlich nur mein Stiefvater ist, der mir meinen Bruder Alexander vorzieht, weil der sein leiblicher Sohn ist.
Nach Feierabend saß er immer vor dem Fernseher oder in der Küche, wo er meiner Mutter bei der Arbeit zusah, die sie nach einem langen Tag als Schreibkraft zusätzlich auch noch ganz alleine verrichten mußte, weil er keinen Finger krumm machte.
So sitzt er immer noch da, seitdem die Maschinenfabrik zugemacht hat. Ich habe auch nicht viel von dir gewußt. Du hast mal gesagt, das du mit deiner Mutter alleine lebst.
Ich habe dich nie weiter danach gefragt, auch als ich später erfahren habe, warum dein Vater nicht mehr bei euch lebt.
Es ging nicht.
Wir waren hier oben, konfrontiert mit der grausamen Realität, und doch im Schutze des Daches. Wir fühlten uns hier geborgen.
Und seit einiger Zeit wird mir immer klarer, das ich mich wegen dir hier geborgen fühle.
Deshalb wage ich nicht, dich auf diese Sache anzusprechen.
Weil es vielleicht die Geborgenheit zerstören würde, die wir hier oben auf dem Dach gefunden haben.
Deshalb wage ich auch nicht, dir meine Liebe zu gestehen.
Ich habe Angst, das dann alles zerbricht.
Du siehst schön aus, wie du dich mit geschlossenen Augen in der Sonne räkelst.
Ich lege mich ganz nah zu dir, so das ich deine warme Haut spüren kann, und lasse mich ein auf die bittersüße Melancholie dieses Sommernachmittages, hier oben auf dem Dach.

 

Hi Mad.

Einfach tolle Geschichte. Mir fällt irgendwie auch nicht mehr viel dazu ein - wow, hat mir wirklich gefallen. Ist schön geschrieben und halt... einfach toll. Bin ganz baff! :thumbsup:

Mehr dieser Art!

Gruß,
stephy

 

Mir gefällt die Geschichte eigentlich ganz gut. Ist zwar nichts Atemberaubendes, aber sie gefällt mir trotzdem.
Denn du hast es geschafft während dem Lesen Gefühle in mir zu wecken und trotz einiger sehr langen (zu lang wie ich finde) Sätze ist es mir beim Lesen nicht langweilig gewesen.
Durch deinen, ich will es mal "melancholischen Stil" nennen, hast du die Geschichte wunderbar "aufemotionalisiert" und das obwohl du in der Geschichte keinerlei Gefühle vom Protagonisten preisgegeben hast.
Auch das Ende war nicht schlecht.
Alles in allem kann man sagen, eine ganz gelungene Geschichte. :)

 

* fühlt sich geschmeichelt *

@stephy: Danke, das ist'n schönes Kompliment.
Man will ja immer etwas rüberbringen, entweder eine eindeutige Message oder man will mit Mehrdeutigkeiten dem Leser eigene Betrachtungsansätze entlocken (und nebenbei, da finde ich es für den Autor halt gut, wenn er entsprechend Rückmeldung zu seinem Werk erhält), und, wie ich an eurer Reaktion ja sehe, scheint mir das ja gelungen.

:teach:

 

Grandplatz? was ist denn ein Grandplatz? bitte um aufklährung. ansonsten schöne geschichte. packt meine phantasie auf eine rakentenrampe und drückt auf den zündknopf. wo die reise hingeht weiß ich noch nicht so recht, aber das ist ja das schöne daran, man kann sich das 'ende' dieser dachgeschichte immer wieder anders ausmalen, so wie mal halt gerade in stimmung ist. obwohl eigentlich nur negatives berichtet wird schafft es das bloße

Und seit einiger Zeit wird mir immer klarer, das ich mich wegen dir hier geborgen fühle.
die stimmung wieder in schwebe zu bringen. gelungen.

 

Wie lange habe ich warten müssen eine Geschichte völlig ohne Vorbehalt loben zu können.
Danke Mad für diese wunderschöne Geschichte.
Mehr gibt es nicht zu sagen. :)

[ 22.05.2002, 22:57: Beitrag editiert von: Marot ]

 

* wird schon ziemlich überheblich * fistelt:
"I LOVE YOU ALL" - "Ups" und bückt sich nach der ihm abgefallenen meterlangen Nasenspitze ;)

@ Sebastian: Grandplatz, diese roten Felder mit den fiesen kleinen Steinchen. Da sagt man glaub' ich Grandplatz zu.

@marot: :)

 

Zunächst einmal: Normalerweise HASSE ich Liebesgeschichten. Denn viele davon sind(für mich persönlich als Leserin, wohlgemerkt) Ausfluß des Negativen. Abhängigkeit wird mit Anhänglichkeit verwechselt und Verknalltheit mit Liebe. Menschen entblößen ihre Unfähigkeit, für sich selber geradezustehen, nach dem Ende einer Beziehung. Da wird um Mitleid gebettelt und gefleht, um etwas Nicht-mehr-Tragbares doch noch zu retten. Da wird mit Selbstmord gedroht und da werden Tränendrüsen massiert, und die Selbstachtung der Protagonisten bleibt auf der Strecke oder ist erst gar nicht vorhanden.

Doch diese kleine, in eine Geschichte verpackte Liebeserklärung hat mich ganz tief drinnen angenehm berührt. Sie zeugt von tiefen Gefühlen anstatt von überbordenden Emotionssalat, von zwei Menschen, die auch zusammen schweigen können ohne dass der eine von beiden sagt: "Warum redest du nicht mit mir - liebst du mich nicht mehr?" Von einer gemeinsamen Basis spüre ich hier etwas, von Geborgenheit, symbolisiert durch das schützende Dach, Gefühlen, die auf gemeinsamer Erfahrung und gemeinsamen Erinnerungen gewachsen sind ("Erinnerst du dich noch...?"), auch wenn die nicht immer angenehm und schön waren.

Weitab davon, übersüß, schwärmerisch, kitschig zu sein und dennoch ein Appell auch an die tieferen Gefühle, ist diese Geschichte für mich auch irgendwo eine Liebesgeschichte. Und zwar einige der wenigen, die wirklich beschreiben, was Liebe ist.

Mehr davon!

[ 23.05.2002, 11:46: Beitrag editiert von: Pipilasovskaya ]

 

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