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Oasis
Die Schwüle des Tages ließ jeden klaren Gedanken verstimmen, denn die Sonne schien zu diesem Zeitpunkt – es war gerade Mittag – mit einer solchen Inbrunst, einer solch ungehemmten Kraft und Wut, dass jeder, ganz gleich wie unempfindlich eine Person auch sein mag, unweigerlich zu Schaden kam. Doch war es kein solcher Schaden, der den Körper plagte und unmittelbar erkennbare Wunden, in diesem Fall flammende Wundbrände verursachte, die als Krankheitsbild deutlich erkenntlich waren - nein, dieser Schaden war mentaler Natur und deshalb umso verheerender, da die ausdruckslosen Blicke der Passanten keinerlei Anzeichen darüber vermittelten, in welchem Zustand sich die jeweilige Person befand.
Stattdessen zwang sich ein jeder dazu, das eigene Befinden missachtend, in sturer und pedantischer Manier dem zugeteilten Treiben nachzugehen; dabei stets bemüht, die Maske eines vorgespielten Stolzes aufrechtzuerhalten, denn nur so ließe sich erklären, weshalb kein Stöhnen, kein einziger Klagelaut den Kehlen der Menschen entrang, ganz gleich wie sehr sie sich auch abmühten, in der sengenden Hitze umherzuirren. Man sah Kinder, vollbepackt mit schweren Waren, die in gekrümmter Haltung umherkrochen, die dünnen Arme fest die Pakete ergreifend, die sie auf ihren Schultern transportierten. Der Schweiß floss ihnen über die Stirn, die Augen blickten, es war ein unbeschreiblicher Anblick, trotz der Last geradeaus, so als wollten sie damit signalisieren, dass die kleinen Körper noch aufrecht stehen, kein Gewicht sie zu Boden drücken konnte - ihr noch allzu junges Leben verwirken. Alte Damen, kaum mehr als wandelnde Gerippen, die in weite Laken gekleidet allen Schmutz des Bodens mit sich zogen, liefen in einer nicht zu erahnenden Geschwindigkeit umher, so als kräftige sie die Sonnenstrahlen, anstatt ihnen das letzte bisschen Kraft zu rauben, welche sie nicht nur für diesen heutigen Tag aufwendeten, sondern in ihrem gesamten verbliebenen Leben noch aufwenden konnten. Herren, ungeachtet der Hitze in fein geschneiderte Anzüge gekleidet, liefen mit ihren Damen, die sich meist prachtvoll und bis zur Unkenntlichkeit gepudert und geschminkt an die Arme ihrer Begleitung klammerten, in geraden Bahnen durch den Platz.
Das gesamte Treiben glich dem einer Schaustellerfamilie, die sich einen Tag frei nahm, um gemeinsam durch die Straßen der ihnen unbekannten Stadt zu wandern, indes sie irgendwelche notwendigen Arbeiten verrichteten, die eigentlich nur am Zirkus anfallen würden, die jedoch auch hier, inmitten dieser weiten, von Säulen umringten Straße, doch noch erledigt werden mussten; gerade deshalb zwangen sie sich bis ans Äußerste, schließlich wussten sie den Schein zu wahren, auf der Tribüne jeden Zweifel zu verwerfen, um dem Publikum nur keinen Einblick zu gewähren, in die menschlichen Herzen, die doch fern der ihnen unbekannten Zivilisation überleben mussten, von Stadt zu Stadt treibend und nur in abgeschiedener Kollegialität vereint. Auf diesem kuriosen Platz, der von allen Orten am hellsten beschienen wurde - schließlich drangen die Lichtblitze der Sonne beinahe ungehemmt zwischen die stählernen Säulen hindurch, die längst nicht mehr als Fundamente dienten, sondern bloß wertlos emporragten, so als hätte man sie gänzlich vergessen und nur deshalb seither nicht entfernt, weil sie schon zu ihrer Entstehungszeit obsolet und unbrauchbar gewesen waren –, auf diesem Platz ertrank jede Finsternis und jeder Schatten unweigerlich in einer strahlenden Sturmflut.
Der Boden war aus einem hellen, sandsteinartigen Material beschaffen, auf dem sich vereinzelt Dreck und Staub ansammelte. Grundsätzlich lag überall Unrat umher, so als wäre der eigens dafür angefertigte Eimer, der sichtbar und doch unangetastet an einer Säule befestigt war, gänzlich transparent oder zumindest von keiner materiellen Beschaffenheit, obwohl doch auszuschließen wäre, dass dieser Eimer sich tarne; zu sehr stach seine grünliche Gestalt aus der eintönigen Umgebung hervor, die gerade im ungetrübten Sonnenschein, wie eine grau-gelbe, blendend grelle Oasis erschien, die unwirklich und verschwommen in der Luft vibrierte, so als wolle sie jeden Moment verschwinden. Vielleicht wurde der Eimer auch bewusst gemieden, denn tatsächlich, und daher rührte vermutlich das unfeine Verhalten der Passanten, der Müll entfernte sich auf andere Weise, die, angesichts der seltsamen Umstände auf diesem Platze, doch noch als allgemeine Kuriosität hervorstach.
Man sah einen Herrn am Boden knien, wie er, gemeinsam mit einer zweiten Person – einer kleinen Frau mit dunkelbraunen Haaren – den Müll aufhob und in eine bläuliche Tüte beförderte, die bereits prallgefüllt schon bald ausgewechselt werden musste. Der Herr war, ungeachtet seiner niederen Tätigkeit, ähnlich wie die anderen Passanten in einen Anzug gekleidet; dabei stach sein fein säuberlich zurechtgeschnittener Sakko, unverkennbar von außerordentlicher Qualität – das Maßwerk eines Schneiders, vermutlich ein Vermögen wert –, besonders hervor. Wie kam es nun dazu, dass diese Person sich im Dreck wälzte, sich so sehr reduzierte, als wäre es ihm gänzlich gleichgültig, so erkannt zu werden?
Wäre er nun so reich, sodass seine Finanzen ihm ohne weiteres ermöglichten, sich weitere Sakkos ähnlicher Qualität schneidern zu lassen, so würde man sich die Frage stellen müssen, weshalb eine so finanziell abgesicherte Person sich dazu entschließen konnte, die Profession eines Müllsammlers anzunehmen; wenn doch mit Bestimmtheit andere Tätigkeiten, oder gar die vererbten Vermögen der Eltern, oder auch die Zinsen seiner Investitionen ihn vor dem Zwang befreiten, sich solch widern Tätigkeiten zu widmen. Und wenn es sich nun so verhielt, der Herr tatsächlich arm war, einst jedoch in gehobenen Kreisen verkehrte und seine Kleidung nur noch ein Zeugnis seiner alten Position darstellte, so musste man sich wiederum die Frage stellen, weshalb sich keine andere Tätigkeit auffinden ließ, er auf keinerlei Ersparnisse zurückgreifen konnte, weder die Familie noch Freunde in seinen wirtschaftlichen Ruin miteinbezog, die ihn zumindest von den größten Konsequenzen hätten bewahren können.
Diese Schmach – und nichts anderes stellt das Sammeln von Unrat dar – war ein Armutszeugnis ohnegleichen, und zusätzlich wurde dieser Herr noch dadurch entwürdigt, gänzlich sinnlos dieser Tätigkeit nachzugehen, denn ein Mülleimer befand sich nur wenige Schritte von ihm entfernt an einer Säule, wenngleich in einem vollkommen unangetasteten Zustand. Was nun niemand wissen konnte, denn niemand fragte ihn danach, weil es auch niemanden zu interessieren schien, ist, dass dieser Herr dieser Tätigkeit gänzlich freiwillig nachging und dass es ihm tatsächlich nichts bedeutete, seinen Anzug zu verschmutzen, denn der Schmutz war mitnichten ein Umstand der ihn angesichts seiner Freuden bedrückte. Er arbeitete beflissen und in einem ambrosischen Zustand an seiner Sache, die er kaum beachtete, da seine Freude nicht daher rührte, dass es ihm vergönnt war, den Unrat zu entsorgen, sondern der Person zu verdanken ist, mit der er gemeinsam dieser Tätigkeit nachging.
Sein gesamtes Treiben war demnach weder an offizieller Stelle angemeldet noch wurde er auf eine ersichtliche Art und Weise dafür vergütet. Er tat weiter nichts als unentwegt, jedoch in heimlicher Diskretion, mit verlegenen Blicken auf seine Begleitung zu starren. Romantisch erschien ihm dieser Augenblick im Schmutz; ihm war, als befände er sich in der unendlichen Weite des Elysiums, die sein Herz aufleben, pulsieren und gleichsam krampfhaft erbeben ließ, so als schwane ihm ein baldiger Herzschlag. Er starrte in die braunen Augen, in das lächelnde Antlitz seiner heimlichen Liebe, die noch nichts von seiner Verehrung ahnte, denn sie sprachen noch kein Wort miteinander. Seit Wochen schon zieht es den Herrn auf diesen Platz, auf dem er, stets in schönster Montur gekleidet, gemeinsam mit der ihm fremden, gänzlich unbekannten Person am Boden herumkriecht, um vollkommen zweckentfremdet jedes bisschen Unrat zu entsorgen, das seinen Weg zu ihnen bis auf den Boden fand. Bisweilen wurde ihm der Müll auch persönlich gereicht, woraufhin er stets nur lachte und ihn geschwind in seine Tüte tat.
Heute jedoch, an diesem entsetzlich heißen Tage, wurden sie bei ihrer Arbeit nicht gestört, denn jeder wollte eilends erledigen, was es denn zu erledigen gab. Die Hitze setzte auch ihm zu, er wollte nicht zu Boden blicken, nur das schöne Abbild vor ihm anstarren, weshalb er kläglich und mit viel Mühe seinen Kopf aufrichten musste, um in die Augen der geliebten Präsenz zu blicken. Doch anstatt ihrer liebreizenden Gestalt sah er oft nur Wellen und verschwommene Partikel vor seinem Auge umherschwirren, die sein Sichtfeld verzerrten und seinen Geist betrübten. Bald schon, als er schon mehrere Stunden auf diesem Platz damit zubrachte, dieser unendlichen Tätigkeit nachzugehen, verschwamm das Bild gänzlich zu einer formlosen Karikatur, die sich wie Rauch langsam auflöste und bald vollends verschwand. Er jedoch hatte sich das Bild in sein Gedächtnis eingraviert, wo es auf ewig fortwähren und ihn mit funkelnden Empfindungen durchziehen würde. Als er nun fertig damit war, den gesammelten Unrat zu entsorgen und die Nacht langsam hereinbrach, da machte er sich auf zu seiner kleinen Wohnung, wo er bald einschlief, den nächsten Morgen erwartend, an dem er erneut hierherkommen würde, um der Oasis zu begegnen, deren Wellen ihn – so hoffte er - auf ewig begleiten würden.