Nutte
Zigaretten und Kaffee waren kein gutes Frühstück, dachte sie. Zumal im Raucherabteil eines dreckigen Regionalzuges. Eva war müde und blickte regungslos aus dem gegenüberliegenden Zugfenster. Sie blickte stur geradeaus, so das die Landschaft, die draußen vorbeiraste zu einem breiten Band aus bunten Fäden wurde. So wie der Hintergrund eines Fotos aussieht, dass ein fahrendes Auto darstellt. In dem Moment wurde Eva schlecht und sie musste auf die Zugtoilette rennen, um sich zu übergeben. „Benutzen der Toilette während des Stopps in Bahnhöfen nicht gestattet“ stand auf einem weißen Schild. Dazu war es jetzt zu spät. Evas letzte Mahlzeit befand sich bereits auf den Schienen eines namenlosen Kleinstadtbahnhofs.
Als der Zug anfuhr musste sie sich festhalten und wurde trotzdem an die gegenüberliegende Seite der Toilettenkabine geschleudert, mit dem Bauch gegen das Waschbecken. Eva war schwindlig. Sie schaute in den Spiegel und betrachtete die dunklen Ränder unter ihren Augen. Sie hatte Glück mit dem Licht auf diesen Zugtoiletten. Oft sah man hier gar nicht so schrecklich aus. Eva jedenfalls hatte sich am Morgen schon in scheußlicherem Aussehen erlebt. Sie nahm einen Lippenstift aus ihrer Hosentasche und strich die fahlen Lippen zurecht. Es passte ganz und gar nicht zu ihrem blassen und müden Gesicht. Für einige Sekunden verharrte sie mit dem Blick auf dem Spiegelbild ihrer bonbonfarbenen Lippen in der Toilette des Regionalzuges. Was für ein scheiß Anblick, dachte sie und riss einige Blätter des grünen Papiers aus der Halterung neben ihr. Mit wütenden Bewegungen wischte sie die Bonbonfarbe aus ihrem Gesicht.
Im Abteil war der Kaffee umgefallen und als dunkler Fleck auf dem blau-grünen Polster zurückgeblieben. Sie setzte sich auf die andere Seite und lies sich zur Seite fallen. Alles begann sich zu drehen, als sie die Augen schloss, doch öffnen wollte Eva sie nicht. Irgendwann würde sie die Augen öffnen und an einem Frühstückstisch mit ihrer Tochter sitzen. Es gäbe frische Brötchen, Marmelade, Wurst, Käse. Blumen würden auf der blauen Tischdecke stehen und die Sonne würde warm durch die Scheiben ihrer Wohnung scheinen. So wie jetzt im Zug die Sonne auf ihr Gesicht schien, würde sie auf das Gesicht ihrer Tochter scheinen. Der Zug bremste. Es war Evas Bahnhof und sie erschrak, als sie merkte, dass sie schon da war.
Schnell nahm sie ihre Sachen und ging nach draußen. Es war kein unangenehmer Sommertag. Doch Eva war in die Großstadt gefahren um zu arbeiten. Neben dem Hauptbahnhof begannen jene dunklen Tunnel, die unter dem Verkehrschaos hindurch in die Stadt führten, einige erschienen kilometerlang. Fiel nur eine der Lampen aus, die alle hundert Meter angebracht waren, so verdunkelten sich die entstandenen zweihundert Meter Zwischenraum zu einer angsteinflößenden Atmosphäre. Selbst tagsüber wagten sich nur wenige Menschen durch die Tunnel um in die Stadt zu gelangen. Wem es möglich war, der nahm sich ein Taxi oder in Kauf minutenlang an den wenigen Ampeln mitten im Verkehrschaos zu stehen. Unten in den Tunneln, das war die Welt der Kleinkriminellen, Obdachlosen und Prostituierten. Es war beinah so, als würde sich hier, wo rundherum auf den Schienen und Straßen ständig Hektik und Bewegung war, als würde sich in diesem kanalisationsgleichen Gewölbe all das Schlechte und Abartige der Stadt ansammeln.
Den Arm fest um ihre Handtasche gedrückt, lief Eva durch die Unterwelt und blieb am Ende des Tunnels, dort wo schon wieder das Licht der Außenwelt hereindrang stehen. Sie griff in ihre Tasche und holte Zigaretten und Feuerzeug hervor. Es würde lange oder auch nicht lange dauern bis die Arbeit begann. Meistens dauerte es länger. Um in einem der guten Häuser in der Stadt zu arbeiten war sie zu hässlich. Dort würde man sie nicht nehmen. Also arbeitete Eva hier, wo die hingingen, die sie gar nicht in die guten Häuser der Stadt hereinließen. Das war gefährlich und zudem nicht rentabel, weil Oleg ihr Zuhälter war. Oleg war ein Arschloch, aber er kontrollierte die Szene rund um die Unterführungen des Bahnhofs. Und Oleg nahm über 50 Prozent des Geldes, dass Eva verdiente. Es lohnte sich fast nicht mehr zu arbeiten dafür, aber am Ende brauchten die meisten Mädchen den Zuverdienst doch für Drogen. Eva nahm keine Drogen mehr. Abgesehen von ein bisschen Koks, dass sie gebraucht hatte um die schlimmste Zeit durchzustehen, war sie auch nie süchtig gewesen. Die schlimmste Zeit war vorbei, denn Eva war hässlicher geworden als früher und Oleg hatte sie fast aufgegeben. Tatsächlich kamen weniger, immer weniger Freier mit der Zeit. Es lohnte sich fast nicht mehr zu arbeiten, wäre da nicht Evas Tochter. Sie dachte oft an die Kleine. Eva wollte genug Geld verdienen, damit sie in Ruhe groß werden könnte und all die Dinge nie sehen müsste, die Eva gesehen hatte. „Hey Du was ist los, geht hier heute noch was?“.
Der Kerl mit dem Evas Arbeit an diesem Morgen begann hieß Jens und er war so etwas wie ein Geschäftsmann. Das sagte er, aber Eva wusste, das er höchstens eine Würstchenbude hatte. Er war fett und stank. Aber Jens war erst mal netter als er aussah. Er bestand nicht auf Zungenküssen und werte sich nicht gegen Kondome. Er hatte sogar ein gutes Hotelzimmer ausgesucht, mitten in der Stadt.
Nachdem Eva ihm einen geblasen hatte und er für fünf Minuten im Bad verschwunden war, erwies er sich doch als einer der üblichen Perversen. „Komm Baby, jetzt kriegst du einen Arschfick“. „Vergiss es. Das mach ich nicht“. Widerwillen klang wie Ironie in ihren eigenen Ohren. Als hätte jemand wie sie noch etwas an Würde zu verteidigen. „Du spinnst wohl, du kleine Hure“, Jens ging auf das Bett zu und griff nach ihren Haaren und dem Hals. Er drückte sie zu Boden. Es tat weniger weh, wenn sie sich nicht wehrte. Das hatte Eva mit der Zeit gelernt. Sie wunderte sich selbst, wie sie es alles aushielt ohne die Drogen. „Ich fick dich ordentlich durch“, brüllte Jens. Eva wurde wieder schlecht und sie musste sich erneut übergeben. Jens erschrak und lies von ihr ab. „Scheiße man, was ist denn mit dir los“. Schnell zog er sich an und verschwand aus dem Hotelzimmer. „Scheiß Nutte!“ Eva nahm die Bettwäsche vom Bett und schmiss sie in die Wanne im Bad. Dann wusch sie sich. Sie zitterte am ganzen Körper. Das war ihr noch nie passiert. Ihr war schwindlig und sie hatte fürchterliche Bauchschmerzen.
Erschöpft lies sich Eva auf das Bett fallen. Wenn sie Glück hatte, war das Zimmer vielleicht noch bis heute abend reserviert. Dann würde sie schlafen können. Ihre Gedanken verschwammen. Sie hatte noch nichts gegessen heute. Das war nicht gut. Die kleine Anna macht diese Lebensweise nicht lange mit. Das hatte der Arzt nach dem Test gemeint. Sieht man denn, dass ich eine verdammte Nutte bin, hatte Eva den Arzt angebrüllt.
Nach einer halben Stunde schlief sie ein. Ein paar Tabletten hatte sie noch in ihrer Handtasche. Die Sonne schien jetzt in das Hotelzimmer. Und die Zimmerwände waren blau gestrichen. Sie hatte es bemerkt, kurz bevor sie einschlief. Blau wie die Decke auf Annas Frühstückstisch.