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Nur zufällig
Nur zufällig
„Der Tag fängt gut an“, dachte sie voll Hohn. Von ihrem herabgezogenen Mundwinkel fiel ein Regentropfen in ihren Kragen. Schaudernd wich sie weiter unter das Dach der Halle zurück, in das Gedränge der Wartenden. Wieder einmal ein Zug mit Verspätung.
Eingepfercht zwischen den Menschen, die sie nicht kannte, versuchte sie, niemanden zu berühren und richtete ihren Blick leer ins Dunkel wie all die anderen.
An diesem regnerischen Morgen fror sie längst, als endlich ein Rumpeln und Zischen das Einfahren des Vorortzuges ankündigte. Mit geübter Pendlerstrategie machte sie schon vom Bahnsteig einen leeren Sitzplatz in einer Ecke aus und schüttelte das Wasser von ihrem Schirm. Der gewohnte Schwall gewärmter, verbrauchter Luft und der Geruch nasser Kleidung überwältigte sie jeden Morgen aufs Neue. Sie versuchte, flach zu atmen, während sie sich durch den Gang an gesichtslosen Menschen vorbeischob.
Das freie Sitzpolster war noch feucht von einem unbekannten, regendurchtränkten Vorgänger und sie rutschte unbehaglich hin und her, bis ihre Körperwärme durch den Mantel gedrungen war. Nach einem prüfenden Blick auf die Glasscheibe lehnte sie ihren Kopf an die kühle Fläche. Verschwommen blickte ihr aus der beschlagenen, schmierigen Scheibe das eigene Gesicht entgegen. Die Regentropfen, die außen herunterrannen, bildeten ein hypnotisches Muster, mal waagerecht, mal schräg, je nach Geschwindigkeit des Zuges. Draußen nur dunkle Schemen und fliegende unbestimmte Lichter.
Auf dieser Strecke kannte sie jeden Stein, jeden Busch, jede kümmerliche Pfütze. Sie verabscheute dieses tägliche Einerlei und doch war sie völlig unfähig, etwas daran zu ändern.
Der tägliche Widerwille war wie ein Halt gebendes Ritual. Jenseits der Rituale, auch wenn sie sie kaum noch ertragen konnte, standen Ungewissheit, Einsamkeit und Angst. Soldaten in der Morgendämmerung, bereit zum Angriff. Der Widerwille war erträglicher. In Gedanken bei dem Tag, der vor ihr lag wie ein ewig gleicher verschlissener Teppich, über den man drüber musste, ob man nun wollte oder nicht, starrte sie blind auf das Tropfenspiel. Was erwartete sie schon am Ziel? Andere Gesichtslose, für die sie nur eine der vielen Arbeitsbienen war, die man oft gar nicht erst wahrnahm. Die meisten dort taten seit Jahren, als sei sie unsichtbar. Jede Zurückweisung ein weiterer Stein auf ihrer Seele. Es war ihr recht so. Ihre Resignation
hatte ein Maß erreicht, das ihr erlaubte, sich ganz darin zurückzulehnen.
„Sie sind schön.“
Irritiert blickte sie auf. Aus den Gesprächsfetzen und dem Stimmengewirr der Mitreisenden hatte sich der Satz so überraschend deutlich abgehoben wie eine schroffe Felsnadel in einem bewegten Meer. Zunächst wusste sie nicht, wer gesprochen hatte noch wer gemeint war. Ein schneller Blick sagte ihr, dass sich der Zug inzwischen geleert hatte, die Vierersitzgruppe in der Ecke war nur noch von ihr und einem Mann gegenüber besetzt. Es war ihre Art, im Zug niemandem ins Gesicht zu blicken. Wozu auch, sie kannte keinen der Reisenden und hatte auch nie das Bedürfnis verspürt, mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Sie hasste diesen morgendlichen Smalltalk, der sich immer um das Wetter und die üblichen Verspätungen drehte. Und nun so ein Satz, der überhaupt nicht in die grau-grelle Neonwelt passte.
„Sie sind schön.“
Es war ihr Gegenüber, der sie anlächelte. Wenn sie nicht so sehr in ihrer eigenen dunklen Gedankenwelt versunken gewesen wäre, hätte sie sich niemals in seine Nähe gesetzt. Er war alt, schlecht oder gar nicht rasiert und dick. So dick, dass sich niemand neben ihn gesetzt hatte, aus Angst in einer Kurve an ihn gedrückt zu werden. Vielleicht roch er auch schlecht, mutmaßte sie. Auf grauen fettigen Strähnen, die halb über kleine Schweinsaugen fielen, saß ein zu kleiner brauner Hut. Wurstige Finger lagen verschränkt auf einem ausladenden Bauch, den ein grau-grüner Parka schlecht sitzend umspannte.
Angewidert tat sie, als habe sie nichts gehört. Sie blickte demonstrativ auf ihre Uhr am Handgelenk und stellte fest, dass sie noch über zwanzig Minuten Fahrzeit vor sich hatte.
„Ja, Sie meine ich!“
Er ließ nicht locker.
„Ein Spinner, betrunken“, dachte sie und sah hartnäckig aus dem Fenster. Sie und schön! Was für ein lächerlicher Gedanke. Ihre alte Mutter fand bestenfalls, dass sie sich „nett“ zurechtmachen konnte, wenn sie wollte. Aber wollte sie noch? Sie war jetzt Mitte Vierzig und hatte sich längst mit einem Leben zwischen Büro, kleiner Wohnung in der Vorstadt und einer Mutter im Altersheim abgefunden. Sie wollte es so und nicht anders. Ihr Leben lief in den verhassten aber vertrauten, weil selbst geschaffenen Bahnen. Träume vom Glück waren mit der Zeit zerronnen wie die Tropfen außen am Abteilfenster. Der Mann starrte sie unverwandt an. Sein Blick war erfüllt von einer Art Verehrung, mit der sie nichts anfangen konnte.
„Wollen Sie Geld? Lassen Sie mich doch zufrieden!“
Sie hatte gehofft, ihn mit diesen schneidenden Worten zum Schweigen zu bringen, doch unerwartet lachte er. Voll wütender Abneigung blickte sie ihn jetzt an. Er machte sich lustig über sie, das war es. Die Demütigung brannte hellrote Spuren in ihr Gesicht.
Die meisten Fahrgäste waren inzwischen ausgestiegen. Einerseits war sie froh darüber.
Wohl keiner der wenigen Übriggebliebenen hatte dies peinliche Geschehen in ihrer
Ecke mitbekommen. Andererseits wollte sie nicht allein mit diesem ... diesem Individuum hier sitzen. Sie würde einfach aussteigen, selbst wenn sie dann zu spät zur Arbeit kam.
„Warum stört es Sie, dass ich Sie schön finde?“
Der dicke Mann legte den Kopf schief und wirkte nun doch von ihrer Abwehr ernsthaft betroffen. Vielleicht war er Ausländer, überlegte sie, und kannte die herrschenden Regeln nicht? Sofort fühlte sie sich ihm wieder überlegen, doch ihr Misstrauen wich nicht:
„Also zu mir hat so was jedenfalls noch keiner gesagt.“ Sie horchte ihren Worten hinterher. Wie das klang! Sie musste den Kopf abwenden, weil es ihr plötzlich nur mit Mühe gelang, das überraschende, brennend hochsteigende Gefühl von Tränen zu unterdrücken. Verwirrt schluckte sie tief und versuchte, ein Zittern der Stimme zu vermeiden.
„Wie kommen Sie denn darauf, dass ich schön bin?“, fragte sie und wärmte sich doch an dem Wort. „Als schön wird jemand bezeichnet, der jung ist, der modisch ist, schlank und gebräunt, was auch immer – all das bin ich nicht.“
Sie war sich ihrer Sache jetzt wieder sicherer und ihre Stimme nahm den gewohnten harten Klang an. „Schön nennt man Fotomodelle und Mannequins, meinetwegen auch Sonnenaufgänge, Sternenhimmel ...“
Sie brach ab, fand die Situation absurd.
Seine struppigen, grau-weißen Augenbrauen hoben sich.
„Warum lassen Sie sich vorschreiben, was schön ist? Nur wer sich aufgegeben hat, nimmt alles hin.“
Seine Stimme war eigentlich nicht unangenehm, fand sie. Überhaupt wirkte er nun harmloser auf sie, ein wenig entspannter sprach sie weiter, als hätte er sie nicht unterbrochen: „... und schöne Menschen sind glücklich!“ Spott war immer ihr bester Schild, auf ihn konnte man sich verlassen.
Der Mann schüttelte so energisch den Kopf, dass der braune Hut bedrohlich ins Rutschen kam.
„Oh nein“, protestierte er, plötzlich sehr ernst. „Das Glück im Leben hängt von den eigenen Gedanken ab. Schönheit und Glück begegnen sich nicht zwangsläufig. Nur zufällig.“
Er rückte seine merkwürdige Kopfbedeckung gerade, stemmte sich nicht ohne Mühe aus der Sitzbank, nickte ihr noch einmal zu und ging zu einer der Türen, die sich gerade fauchend und zischend geöffnet hatten.
Verblüfft, sprachlos, ohne Gruß schaute sie ihm hinterher.
Mit einem Ruck fuhr der Zug wieder an und der Bahnsteig verschwand aus ihrem Blickwinkel. Bis zuletzt hatte er sein lächerliches Hütchen in ihre Richtung geschwenkt. Nachdenklich blickte sie an ihrem dunkelgrauen Mantel herunter, unter dem die unauffällige schwarze Hose und die flachen grauen Winterstiefel hervorsahen.
Sie fühlte sich leicht benommen.
Ihr Herz klopfte wie am Vorabend einer wichtigen Entscheidung, wie am Rand einer neuen Erkenntnis. Schmetterlinge im Bauch. Inzwischen war es draußen hell geworden. Ihr Gesicht schaute ihr als blasse Spiegelung in einer gerahmten Reklametafel an der Abteilwand entgegen. Sich selbst in die Augen sehend hob sie zögernd die Hand und berührte mit einem behutsamen, fast zärtlichen Streicheln die eigene Wange.
Aus ihrer Umhängetasche kramte sie ein zerknittertes buntes Tuch, das sie schon eine Ewigkeit unbenutzt in einem Seitenfach mit sich herumtrug. Beinahe verstohlen band sie es um ihren Kragen. Eine kleine Weile noch saß sie regungslos in ihrer Ecke, vor sich ins Leere blickend, den Worten des Mannes hinterherlauschend. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. Doch als sie wenig später ihre Haltestelle erreichte, ausstieg und die Treppe herunterlief, hatte sie den beschwingten Gang einer jungen Frau, deren Leben noch voller Verheißung ist.
Susafee 2004