Nur Worte
Eine Wimper links oben auf dem Papier wird von seinem Hauch erfasst, taucht ein ins Dunkel, wo der Lichtkegel der Tischlampe endet, um das tadellose Weiss freizugebend. Es sind die Kleinigkeiten, die ihm so viel Freude bereiten. Makelloses Papier, selbstverständlich importiert, aus den Highlands, einer kleine Manufaktur, deren Geschäftsführer er persönlich kennt. Der Regen lässt nach, der Rhythmus aufschlagender Tropfen auf das Fenstersims geht von forte zu piano über.
Die Feder in seiner Hand gleitet mit einem leichten Kratzen über das Papier. Seine Augen sind auf die Spitze der Feder fixiert. Jeden Schwung mit einem inneren Wohlbehagen folgend, formen seine Lippen ein zartes Lächeln, diese kleinen Falten bildend, die er so gerne im Spiegel betrachtet. Für seinen Geschmack trocknet die tief blaue Tinte heute viel zu schnell. Hier gilt eine andere Zeit. Keine Geschwindigkeit geißelt ihn, die er täglich erdulden muss, draußen, außerhalb seiner Welt. Von der Zigarre steigt Rauch auf, reagiert auf sein Atem mit immer neuen Formen. Er verabscheut das Rauchen, doch empfindet er den Duft der Zigarre als angenehm und irgendwie verband er in seiner Vorstellung schon immer Schreiben mit Rauch. Papier, Tinte, Punkte, Linien. Diese vier Elemente bilden die Grundlage seines inneren Zusammenhalts. Genussvoll formt er die Worte. Reit sie aneinander, hält nach jedem Punkt inne, um für einen kurzen Augenblick sein wahres Wesen in ihnen zu erkennen. Es sind nur Worte, erinnert er sich jemanden gesagt zu haben. Nichts weiter als Worte. Seine Nachbarin über ihm schleift mit ihren Hausschuhen über das Parkett. Gleich schlägt sie den Holzlöffel gegen den Suppentopf. 20 Minuten und das Schleifen wird aus der Küche im Wohnzimmer enden. Unbemerkt schleichen sie sich in unser Leben; tägliche Rituale.
Beinahe tänzelnd schwingt sein Körper leicht zu der Melodie der Worte, die die Feder wie ein Taktstock zu einem Konzert im Stillen erklingen lässt. Für ihn sind es nicht nur Worte, es sind materialisierte Gefühle. Jeder Satz steigt aus ihm empor, verborgen für jeden, dennoch existent. Worte des Schmerzes, Worte der Sehnsucht, Worte der Verzweiflung. In seinen Worten durchlebt er Liebe. Durchlebt Momente der Verwirrung, des Findens und Verlierens. Leid, Trauer, Glück und Freude wechseln nahtlos ineinander über. Er beschreibt Augenblicke, wo er Erfüllung erfährt. Wieder welche, in denen er Sinnlosigkeit vorfindet. Bilder von Erinnerungen. Eine Ameise bewegt die Oberfläche in seinem Wasserglas. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkt er sie. Ähnlich der Ameise strampelt auch er seinem inneren Tode entgegen, mit dem einzigen was ihm geblieben ist, der Liebe zu ihr. Die Tinte auf dem Weis bildet Abende. Warme Winde. Ihr Gesicht, das sich im Chrom der Radkappe spiegelte, im Urlaub, irgendwo in Italien, als der Reifen von einem Nagel durchbohrt wurde. Der Kastanie, die sie später in ihrer Tasche fand, an dem Tag im Park. Von dem widerspenstigen Härchen ihrer Augenbraun, das egal wie oft er es versucht hatte zu glätten, herausragte, so als ob es sagen wollte: "Schaut her, ich bin anders". Anders, wie sie es ist. Von all denen die seinen Weg kreuzten, war ihres, das seines veränderte. So saß er an seinem Schreibtisch, in irgendeinem Zimmer, irgendeiner Stadt, irgendwann zwischen gestern und morgen. Glücklich und erfüllt, denn er liebte und liebt. Ein letzter Punkt, der den Brief und diesen wundervollen Abend vollendet, folgt dem Namen, der seine Seele berührte: "Ich vergesse Dich nie, Maria!"
Er schreibt die Adresse auf den Umschlag. Die Treppe nach unten knarrt, Tropfen suchen sich an den Fenstern ihren Weg, die Lampe im dritten noch immer dunkel. Morgen wird sie den Brief in Händen halten, von seiner Liebe lesen. Wieder an seinem Schreibtisch schließt er das Tintenfass. "Morgen.", sagt er zu sich und liest die Zeile, auf die sein Finger zeigt, "Morgen, da liebe ich Silvia.", schlägt das Telefonbuch zu und geht befreit zu Bett.
[Beitrag editiert von: avni am 02.03.2002 um 23:28]