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Nur noch ein Türchen
Mit dem Blick an die Decke gerichtet lag der Mann auf dem alten Ledersofa. Es knartschte bei jeder Bewegung und die braune Farbe war schon ganz verblichen. Mit den Fingern auf dem Bauch gefaltet, tippte er leicht den Rhythmus eines verträumten Klavierstücks von Chopin, welches eine so gelöste und doch gleichzeitig bedrückende Stimmung in ihm auslöste. Er hörte diese in letzter Zeit öfter, denn so konnte er sich am besten auf sein Vorhaben vorbereiten. Dieses klangvolle Musikstück verlieh ihm den Mut, den letzten Hass und den Tatendrang, all das zu tun.
Sein Blick wanderte zu seinem Schokoladenadventskalender, der an der kahlen, weißen Wand vor ihm hing. Schokoladenadventskalender. Noch nie hatte er diese gemocht. Schokolade die nach Pappe schmeckte und ihn an seine nicht gerade gelungene Kindheit erinnerte.
Es erinnerte ihn an den Schokoladenadventskalender, der früher in seinem Kinderzimmer hing. Damals starrte er auf die Abbildungen auf dem Adventskalender, um sich von dem Geschrei seiner Eltern abzulenken. Sie stritten oft. Fast jeden Tag. Aber an diesem Tag war es besonders schlimm gewesen. Auf seinem Bett, mit dem kuscheligen Teddy im Arm gekauert, hörte er den schrecklichen Schrei seiner Mutter. Und dann war Stille. Als nächstes sah er seinen Vater, mit einem Messer in der Hand, im Türrahmen stehen. Die Klinge des Messers war rot und das Blut tropfte auf den spiegelglatten Fliesenboden. Mit Tränen in den Augen wandte er seinen Blick von seinem Vater ab und schaute auf den Schokoladenadventskalender. An diesem Tag war der dreizehnte Dezember. Er hatte das Türchen noch nicht geöffnet und jetzt bereute er es, denn die Schokolade würde ihm nicht mehr schmecken. Sie würde ihm nie wieder schmecken. Denn er schmeckte nur eines. Rache.
Deshalb hatte er sich dieses Jahr einen Schokoladenadventskalender in dem Supermarkt um die Ecke gekauft. Einen mit Weihnachtsmännern, Engeln, Rehen und ganz viel Schnee. So wusste er genau welches Datum heute war und konnte sich wie ein kleines Kind freuen, wenn es nur noch ein Türchen bis zum nächsten Tag war. Nur noch ein Türchen. Ja, tatsächlich war es nur noch ein Türchen bis morgen und nur noch zwei bis übermorgen. Morgen konnte er sagen, nur noch ein Türchen, dann war der dreizehnte Dezember.
Grinsend stand er vom Sofa auf und legte das nächste Lied auf. Der Frühlingswalzer von Chopin, wie er in seinem tragischen Klang kaum zu übertreffen war. Ein Walzer für den Frühling und doch tänzelte der Mann beflügelt von dem Gedanken an übermorgen, im Winter durch sein Wohnzimmer in seine viel zu kleine Küche. Dort machte er sich ein Wurstbrot wie jeden Abend mit dem gleichen Fleischmesser, welches eigentlich viel zu schade war, damit Butter auf einem Brot zu verstreichen. Doch irgendwie musste er eine Bindung zu dem Ding aufbauen, denn das Messer erschien ihm gerade zu perfekt für übermorgen. Mit einem wehmütigen aber zugleich arglistigen Blick schaute er es an. Übermorgen müsse er es wohl austauschen und ein neues an seiner Stelle platzieren. Auf dem Weg zurück zum Sofa nahm er sich ein Bier aus dem Kasten, der neben der Küchentür stand und machte es sich bequem. In den Nachrichten kamen die üblichen, langweiligen Meldungen der ganzen Welt. Ihn interessierte viel mehr was in seiner Gegend geschah.
Morgen ist es nur noch ein Türchen, schweifte er mit seinen Gedanken ab und zwang sich, sich wieder auf die Nachrichten zu konzentrieren. Da, Eilmeldung. Ein vermisster Mann.
F. Schulz, 56 Jahre, nach dem Joggen nicht mehr aufgetaucht. Mit einem selbstgefälligen Grinsen biss er genüsslich in sein Wurstbrot. Wie er es doch liebte, dass er das alles schon vor diesen ach so schlauen Nachrichtensprechern wusste.
Am nächsten Morgen wachte er an der gleichen Stelle auf dem Sofa auf, auf der er eingeschlafen war. Mit einem Stöhnen richtete er sich auf und schaute aus dem Fenster. Weißer Schnee bedeckte die hässlichen grauen Hochhäuser und verlieh ihnen ein bisschen winterliche Atmosphäre. Einen Moment wollte er es schön finden, doch diesen Gedanken trieb er sich sogleich wieder aus. Nein, das war nichts für ihn. Kopfschüttelnd und ein bisschen sauer über sich selbst ging er zu seinem Adventskalender. Wo war die verflixte zwölf? Ah hier. Er drückte seinen dicken Daumen in die Lasche zum Öffnen der Tür, wobei er dem abgebildeten Reh das Gesicht eindrückte. Auf der Schokolade die zum Vorschein kam war eine Kerze mit Tannenzweigen abgebildet. Er betrachtete sie kurz, dachte dass diese Leute sich auch nie etwas neues einfallen ließen und steckte sich die Schokolade in den Mund. Das Gesicht angewidert zu einer Grimasse verzogen betrachtete er den Kalender. Nur noch ein Türchen. Der dreizehnte Dezember. Vermutlich war für seinen Vater der dreizehnte im Monat tatsächlich ein Unglückstag. Schade, dass er nicht auf einen Freitag viel.
Mit einem leichten Kribbeln im Bauch ging er zur Küchentür, nahm sich ein Bier aus dem Kasten, öffnete es und schlurfte zurück zum Sofa, auf welches er sich mit einem Seufzen fallen ließ. Heute würde er sowieso nichts mehr tun. Einfach nur warten bis es Abend war, Nachrichten schauen und sich dann schlafen legen. Nur noch ein Türchen.
Der gegen die Fensterscheiben peitschende Wind weckte ihn und er stellte mit Freude fest, dass er heute das dreizehnte Türchen öffnen könne. Es war neun Uhr. Er hatte noch eine Stunde um alles vorzubereiten. Mit viel mehr Schwung und Elan stand er vom Sofa auf, ging ins Bad und zog sich eine andere Jeans und einen warmen Pullover an. In der letzten Nacht hatte es noch mehr geschneit. Das passte ihm gar nicht, denn so würde es schwer, ja eigentlich unmöglich sein, die Blutspur zu verwischen. Die Haare kämmte er sich nicht. Er würde sowieso eine Mütze aufziehen.
Halb zehn, so langsam musste er sich beeilen. Schnell schlupfte er in seine Winterstiefel, zog sich seinen mit Fell besetzten Wintermantel und die Mütze an. Dann ging er in die Küche und holte sich das Fleischmesser, mit dem er sich zwei Abende zuvor die Butter auf das Wurstbrot geschmiert hatte aus der Besteckschublade. Er steckte es sich in die Innentasche seines Mantels, die eigentlich viel zu groß war, aber für ein Fleischmesser die perfekte Größe hatte. Auf dem Weg in den Flur nickte er seinem Adventskalender, nein, viel mehr dem dreIzehnten Türchen zu und dachte daran, dass er sich endlich an seinem Vater rächen könne.
Mit dem Gedanken das Türchen nachher öffnen zu können, nahm er sich seine Handschuhe von der Garderobe, steckte seine Schlüssel ein und ging ins Treppenhaus. Beflügelt, aber nicht zu glücklich, immer darauf bedacht keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ging er die Treppe hinunter. Vermutlich etwas zu beflügelt. Denn er rutschte auf den von Schnee nassen Stufen aus und viel mit dem Gesicht voraus die Treppe hinunter. Als er auf dem kalten, dreckigen Fliesenboden aufkam, spürte er nichts. Er spürte den tödlichen Schmerz und sein Fleischmesser, das sich den Weg durch seine Haut und seine Rippen gebahnt hatte und ihn an nichts mehr denken ließ. An nichts außer an den verfluchten Schnee, den Winter, den er schon immer gehasst hatte und Schokoladenadventskalender. An seinen Schokoladenadventskalender, mit der ekelhaften Schokolade. Wie gerne würde er jetzt diese Schokolade schmecken. Hätte er doch nur das Türchen schon geöffnet.
Nur noch ein Türchen.