Was ist neu

Nur noch 5 Minuten

Mitglied
Beitritt
22.07.2002
Beiträge
235

Nur noch 5 Minuten

Wenn sie pünktlich ist, sind es noch fünf Minuten, stellt er fest. Wenn sie pünktlich ist. Mit leicht zittrigen Händen streicht er sich die letzte noch immer widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Gummisohlen seiner Turnschuhe scharren über die Pflastersteine.
Wenn sie pünktlich ist, denkt er, sieht dabei auf die Uhr und stellt fest, dass es noch immer fünf Minuten sind bis sie kommen wird. Die Strähne fällt ihm wieder ins Gesicht.
Was ist, wenn sie mich nur trifft, weil sie nicht wusste wie sie „Nein“ sagen sollte?
Er streicht mit den Handflächen sein Hemd, das er an diesem Tag erst gebügelt hat, glatt. Ist es irgendwo zerknittert?
Nervös, sich hektisch umsehend tigert er zum nächsten Schaufenster. Nur noch einen letzten Blick, nur noch eine letzte Kontrolle, dann kann es losgehen.
Beiläufig, als wolle er die Schaufensterauslagen studieren, betrachtet er sein verzerrtes Spiegelbild. Warum will sie sich bloß mit dir treffen, fragt er sich und wirft einen prüfenden Blick auf seine Gesichtszüge, wird jedoch von dem dahinter hängenden Büstenhalter abgelenkt. Na super, ein Damenbekleidungsgeschäft.
Schnell dreht er sich um, wirft einen Blick in die Runde. Niemand schaut zu ihm herüber.
Wo bleibt sie bloß, fragt er sich wieder und schaut erneut auf die Uhr.
Nur noch etwas weniger als fünf Minuten.
Ich bin weder besonders beliebt noch sehe ich außergewöhnlich gut aus. Warum trifft sie sich nur mit mir?
Er streicht sich erneut die Strähne aus dem Gesicht, die sich diesmal hartnäckig wiedersetzt. Er kann fühlen, wie sein Herz von Schlag zu Schlag schneller wird.
Ich werde mich wie ein völliger Idiot aufführen und morgen lachen dann alle über mich, er sieht es schon kommen. Warum hat er sie bloß gefragt, ob sie ein Eis mit ihm essen gehen will, warum war er so naiv gewesen?
Er geht ein paar Schritte, lauscht dem unregelmäßigen Knirschen des Rollsplitts unter seinen Füßen. Kalter Schweiß rinnt seinen Rücken herab. Sein ganzer Köper zittert wie Espenlaub. Ganz toll, jetzt riechst du auch noch nach Schweiß.
Sie wird mich sehen, wird mich riechen, sie wird mich auslachen. Warum habe ich mich nur auf so was eingelassen? Wieder ein paar Schritte, irgendwie fühlen seine Beine sich taub und steif an.
Wenn sie ganz pünktlich ist, kann das nichts Gutes bedeuten, überlegt er sich. Es bedeutet wahrscheinlich, dass sie das als eine Art Pflichtveranstaltung sieht, möglichst spät kommen und schnell wieder gehen. Was könnte sie denn mit mir oder von mir wollen?
Vielleicht hat sie mit ihren Freundinnen einen Plan ausgeheckt mich bloßzustellen, so eine Art Freizeitvertreib. „Spiel mit dem ahnungslosen Jungen, der in dich verknallt ist.“ Warum bin ich nur darauf reingefallen? Ich bin ja so dumm, denkt er, während er erneut auf die Uhr sieht.
Nur noch ein wenig mehr als vier Minuten. Wenn sie pünktlich ist.
Er lehnt sich gegen einen Laternenpfahl, vergräbt die zitternden Hände möglichst tief in den Taschen seiner Jeans. Seine Augen zucken umher, verfolgen die Menschen, die an ihm vorbei gehen. Sie beobachten ihn. Aus den Augenwinkeln betrachten sie ihn abschätzend, ein zitternder, mitleiderweckender Junge, der gleich von dem Mädchen ausgelacht wird.
Sie wird mich auslachen. Plötzlich schießt ihm eine Vermutung durch den Kopf.
Sie beobachten ihn vermutlich schon, sie und ihre gesamte Schar von Freundinnen stehen hinter einer Ecke und lachen sich über ihn kaputt.
Vorsichtig sieht er sich um, dreht verstohlen den Kopf in alle Richtungen. Sie beobachten ihn, lachen über ihn, er weiß es.
Jetzt wären es noch genau vier Minuten, doch sie wird nicht kommen. Sie steht hinter einer Ecke und lacht über ihn. Alle lachen über mich. Wahrscheinlich ist die gesamte Klasse da, um das Spektakel des Jahres zu beobachten. Wie kann ich jemals wieder in diese Klasse zurückkehren?
Während er sich erneut versucht die widerspenstige Haarsträhne hinter die Ohren zu klemmen, weiß er plötzlich, was er zu tun hat. Jetzt nur die Ruhe bewahren, lass dir nichts anmerken, bleib locker, ermahnt er sich. Alle lachen über dich und sie hat es eingefädelt, alle lachen, geistert es durch seine Gedanken. Nur die Ruhe jetzt, du schaffst das.
Langsam stößt er sich von dem Laternenpfahl ab, geht ein paar Schritte, sich ausschließlich darauf konzentrierend möglichst entspannt und cool auszusehen. Nur weg hier, aber nicht überhastet aussehen. Er sieht wieder auf die Uhr, noch etwas mehr als drei Minuten.
Aber sie steht ja längst hinter einer Häuserecke und lacht über ihn, vielleicht hat sie ja sogar Karten für das Spektakel verkauft.
Die Strähne aus dem Gesicht streichen, einen Schritt vor den anderen setzten, gleich ist er von dem Platz herunter, dann kann er sich durch die engen Gassen nach Hause schleichen, sich vergraben. Vielleicht bin ich ja morgen einfach krank, denkt er sich. Ich könnte auch mit meiner Mutter reden und einen Schulwechsel ansprechen, nur nicht mehr das Lachen hören. Sie lachen über ihn, sie lacht über ihn.
„Hey hallo, bin ich zu spät?!?“ Sie lächelt warm.

 

Hallo Prodi, ich mag diese Geschichte. Du verstehst es, den Spannungsbogen Schritt für Schritt aufzubauen und ihn in der 2. Hälfte am Maximum zu halten. Die Beklemmung ist spürbar und überträgt sich auf den Leser.

Eine Ungereimtheit finde ich hier: "Wenn sie ganz pünktlich ist, kann das nichts Gutes bedeuten, überlegt er sich. Es bedeutet wahrscheinlich, dass sie das als eine Art Pflichtveranstaltung sieht, möglichst spät kommen und schnell wieder gehen" - das würde doch nur zutreffen, wenn sie ZU SPÄT käme, nicht wenn sie PÜNKTLICH kommt.

Geschmunzelt habe ich über die 2 Einfälle: "vielleicht hat sie ja sogar Karten für das Spektakel verkauft" und "mit meiner Mutter reden und einen Schulwechsel ansprechen" - diese beiden Ideen sind wie ein Sahnehäubchen auf deinem Text. Gruß Ernst

 

Hey Ernst,
als ich gerade nochmal meine älteren Geschichten durchgesehen hab, habe ich verwundert festgestellt, dass ich auf deine Antwort wohl nie reagiert habe. Ich entschuldige mich vielmals, ist auch normalerweise nicht meine Art.
Zumal ich auch froh sein kann, dass wenigstens einer etwas zu der Geschichte zu sagen hatte. Scheint ja nicht allzu kommentierenswert zu sein, die Geschichte.
Jedenfalls vielen Dank...auch noch Monate später.
Gruss Roman

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom