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Nur mit Papier und Tinte
NUR MIT PAPIER UND TINTE
Sie tunkte mit der Spitze des Füllerhalters in das Tintenglas und hob es wieder heraus. Zwei Tropfen tiefblauer Tinte tropften wieder zurück in das Glas.
Sie striff die Spitze am Rand ab und kleine Tintentropfen flossen daran herunter.
Sie starrte kurz in die Luft, völlig in Gedanken versunken und kritzelte dann auf das Blatt Pergament, das frisch vor ihr lag.Völlig unberührt und unschuldig weiß.
Die Feder flog nur so über das unbeschriebene Pergament und füllte es mehr und mehr mit krakeligen Buchstaben. Die Worte flossen nur so aus ihr heraus, über den Füllerhalter bis hin auf das Pergament. Aus Buchstaben wurden Wörter und aus Worten Sätze. Sie musste nicht ein einziges Mal inne halten um nachzudenken. Es war, als würde jedes Wort bereits in ihr abgespeichert sein, fast so, als würde sie einen auswendiggelernten Text niederschreiben.
Die Worte gehorchten ihr, sie musste nichts tun und nichts lernen, es geschah einfach so, wie von alleine.
Andere Menschen besaßen ein Schwert oder ein Messer, doch sie besaß einen Füllerhalter, ein einfaches Schreibinstrument. Es war ihre Waffe. Sie erschuf damit Figuren, eigene Welten, eigene Gesetze. Sie konnte damit Menschen töten, zwei Menschen in einander verlieben und ihnen Flügel verleihen, sie mutig machen und schüchtern, schön und hässlich.
In ihren Augen war das die stärkste Waffe. Die Worte. Und sie taten was sie wollte. Meistens wusste sie selbst nicht, wie sie es machte, es überkam sie und sie begann zu schreiben.
Hinter den letzten Buchstaben setzte sie einen Punkt, legte den Füller daneben und öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtisches. Sie holte eine Holzkiste aus Eibenholz heraus und öffnete es mit einem kleinen, verrostetem Schlüssel.
In dem Kästchen stapelten sich unzählige Pergamentblätter vollgeschrieben mit dunkelblauer, königsblauer Tinte.
Sie sog genüsslich den Duft des Pergaments ein. Für sie roch es wie frisch gehacktes Feuerholz und sie konnte die Gefühle der Geschichten riechen. Sie schloss die Augen und hörte das Gewisper all der Figuren denen sie das Leben eingehaucht hatte.
Sie hielt das Holzkistchen immer verschlossen, den sie wollte nicht, dass jemand ihre Geschichten las.
In jeder einzelner steckte ein Teil von ihr. Ein Teil ihrer Seele, ein Teil ihrer Gefühle und Gedanken. Sie schrieb alles nieder, sie fasste alles in Worte, machte ihre Gedanken lebendig. Verlieh ihnen Arme, Beine, Augen, Haare, Gefühle und ließ sie auf ihren Pergamentblättern leben.
Sie öffnete die Augen und sah auf ihre Werke. Es war, als läge Magie in der Luft.
Jeder Mensch hätte sie für vollkommen verrückt gehalten, vielleicht auch für eine Hexe.
Sie beherrschte Magie. Sie konnte Menschen mit nichts weiter als Papier und Tinte den Kopf verdrehen, zum Lachen und zum Weinen bringen.
Man konnte diese Fähigkeit durchaus als Magie bezeichnen, als Zauber.
Auch wenn sie kaum redete, beherrschte sie jedes Wort.
Sie selbst hatte unzählige Bücher gelesen.
Bücher, die aus den Köpfen irgendwelcher Menschen stammten.
Gefühle, Gedanken, ein Teil einer Seele. Meisterwerke voller Romantik, Drama und Trauer.
Sie formte aus ihren Sätzen ihre Geschichten, wie der Töpfer eine Vase aus seinem Stück Ton.
Sie legte das frisch beschrieben Pergament zu den anderen Geschichten, verschloss die Kiste und legte sie zurück in die unterste Schublade.
Irgendwann würde jemand ihre Geschichten lesen, und dieser jemand würde alles über sie wissen.
Der Gedanke ließ sie erschüttern.
Sie schraubte das Tintenfässchen zu und legte den Füllerhalter zurück an seinen Platz und alles sah aus wie zuvor.....