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Nur Liebe lässt überleben
Nur Liebe lässt überleben
Ich sitze im weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer unterm Tannenbaum. Familienidylle. Vater und Mutter teilen die Geschenke aus – auch für mich ist etwas dabei, denn sie lieben mich ja. Wer geliebt wird, bekommt auch ein Geschenk.
Jetzt sitze ich im Knast, trister düsterer Raum, kahle Wände, Einsamkeit. Keiner kommt und bringt mir ein Geschenk. Ich werde nicht geliebt. Bin ich je geliebt worden? Vater, Mutter.... woran macht ihr die Liebe fest, die ihr austeilt? An Traditionen? An Gewohnheiten? An meinem Tun und Lassen? Als ihr sagtet ihr würdet mich lieben - wen oder was liebtet ihr da? Mich, euren Sohn? Wer bin ich? Womit kann ich mir eure Liebe verdienen? Indem ich so bin, wie ihr es euch vorstellt, dass ich sein soll? Indem ich mich so verhalte, wie ihr es von mir erwartet? Was erwartet ihr? Es sind Verhaltensmuster, die euch gefallen, die ihr für gut definiert habt. Und wenn ich das für euer Empfinden Böse tue? Dann ist sie zuende, die Liebe. Ich will ich sein – ich will das tun, was mich ausmacht – mich! – warum durfte ich niemals ich sein, ohne dabei eure Liebe einzubüßen?
Habe Menschen getroffen, etwas älter als ich. Kumpels. Ihr achtet mich hoch, weil ich so viel Mut habe. Zuerst durfte ich nur Schmiere stehen, aber dann habe ich es euch recht gezeigt, wieviel Mut ich habe.... habe dem Juwelier eins mit dem Wagenheber übergezogen und mit euch zusammen einen klasse Raub gemacht. Hei das war schön – ich war groß, ich war anerkannt unter euch, weil ich so viel Mut hatte. Ich dachte, diese Anerkennung, die ist Liebe. Ich durfte ich sein und ihr liebtet mich dafür. Wer bin ich? Bin ich mein Mut? Ich muss fürchten eure Liebe zu verlieren, wenn ich euch nicht immer neu beweise, was ich alles drauf habe und dass mich auch das riskanteste Räubermanöver nicht abschreckt. Doch beim Überfall auf die Tankstelle haben sie uns geschnappt. Ihr habt mich verleugnet: "Den da? Den kennen wir nicht! Wir haben mit dem nichts zu tun!" Liebe? Achtung? Wer bin ich?
"Du bist ein Verbrecher! Du bist nicht mehr unser Sohn!" sagen meine Eltern. Ein Verbrecher. Ich bin ein Knasti. Meine Knastbrüder behandeln mich abfällig, brutal..... für meine Wärter bin ich Abschaum. Es gibt keine Liebe auf der Welt. Ich bin schlecht. Ich habe es nicht verdient zu leben. Warum hat mir nie jemand die Chance gegeben zu sein, wie ich bin? Ich schaffe es, an eine Flasche Sprudel zu kommen, zerschlage sie an der Knastwand, schneide mir mit einer Scherbe tief die Pulsader auf. Ich will verbluten. Ich will nicht leben in einer Welt ohne Liebe. Der Wärter findet mich, schleppt mich ab ins Gefängnishospital. "Feigling!" "Versager!" "Schafft nicht mal, sich gescheit die Pulsadern aufzuschneiden!" Wo sind meine Eltern? Nicht da. Wo sind meine Kumpels? Mich kennt keiner mehr. Mich will keiner mehr kennen. Eine junge Krankenschwester kommt und wechselt mir regelmäßig den Verband und versorgt mich mit stärkenden Mitteln wegen des hohen Blutverlustes. Sie sagt: "Du hast schöne Augen!" Was? Ich schäme mich in Grund und Boden dafür, dass ich ein Versager und ein Feigling bin. Sie kommt wieder. Sieht mich immer wieder an mit ihren lieben Augen, lächelt. Warum lächelt sie? Lacht sie mich aus, weil ich ein jämmerlicher Versager bin? Nein, da kommt kein Spott und kein Hohn rüber. Aus ihren Augen strahlt Ehrlichkeit, und sowas wie Zuneigung. Liebe? Zuneigung zu mir, dem Knasti? Nein, das kann nicht sein, niemals. Mich haben alle verlassen, weil ich ihren Erwartungen nicht entsprach. Und jetzt bin ich vollkommen passiv und kraftlos... ich liege einfach nur da..... unfähig, irgendwelchen Erwartungen zu entsprechen, unfähig, irgend etwas zu tun, unfähig, geliebt zu werden. Ich bin ein Nichts. Aber sie kommt wieder. Immer wieder, bleibt lange an meinem Bett sitzen, streichelt meine Hände ganz sanft, schaut mir tief in die Augen. Wer bin ich? Ich nehme all meinen Mut zusammen und stelle ihr diese Frage: "Wer bin ich?" – "Du bist der Mann mit den schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe!" Sie schaut mich dabei direkt an und ich fühle, sie meint, was sie sagt. Sie meint es wirklich ernst. Am Abend vor meiner Entlassung aus dem Hospital und meiner Wiederverlegung in den Knast beugt sie sich runter zu mir und ihre weichen Lippen berühren meine....