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Nur für den Fall
Sie geistert seit Jahren in den hintersten Ecken meines Kopfes herum, schnell wie der Tod und vollkommen geräuschlos. Ganz selten überwindet sie die erdachten Gitterstäbe und wird vom Gedanken zur Idee, manifestiert sich für den Bruchteil einer Millisekunde und löst sich wieder auf.
Immer dann wenn die aussichtslosen Ziele der inneren To-Do-List überhand nehmen und die leeren, quadratischen Kästchen für die Kreuze wie Messerstiche ins Gedächtniss jagen, immer dann wittert sie ihre Chance und bricht über mich hinein wie ein Sturm auf hoher See. Die Moral rebelliert, das Mitgefühl nimmt überhand und schließlich zieht sich der Mut weit in das Labyrinth aus Gedankengängen zurück. Die Idee wird zur theoretischen Möglichkeit und die Kreativität übernimmt das Steuerrad des Gedankenschiffs. Die einzelnen Praktiken werden durchgespielt, solange bis der Humor sich traut und die theoretischen Begebenheiten ins absurde treibt. Geschwächt durch den Humor unterwirft sich die Kreativität der Logik, welche sogleich die Hälfte der Pläne entfernt und die andere umstrukturiert. Die Effektivität steigt, der einfachste Plan steht. Aus Theorie könnte Praxis werden doch der Mut hat sich verlaufen und das Mitgefühl lässt niemanden nach ihm suchen. Das Schiff schwankt, die Emotionen haben ein Unwetter ausgelöst. Wogende Wellen weichen wütenden Wasserwällen, wechselndem Wetter und wirbelndem Wind. Der Mast bricht, die Segel gehen in Feuer auf und verbrennen die letzten Überreste der Rationalität. Das Mitgefühl droht über Bord zu gehen und klammert sich mit der letzten Fingerspitze an alten Erinnerungen fest, während der Mut sich langsam seinen Weg aus dem Labyrinth zurück kämpft. Die riesigen Stiefel aus Blei werden mit jedem Schritt schwerer, ebenso wie der Mut mit jedem Schritt schwächer wird. Die Kreativität bindet einen Blumenstrauß aus Erinnerungen und legt ihn langsam auf das Grab des Humors, einige Sekunden später legt sie sich daneben, während das Mitgefühl von den Wellen in den sicheren Tod gerissen wird. Der Mut ist jetzt sehr nah, und die Emotionen drehen noch einmal auf. Erst in letzter Sekunde stellt sich dem Mut ein kleines, verkrüppeltes etwas in den Weg, viel schwächer als er selbst. Doch trotz der augenscheinlichen Ungerechtigkeit dieses Kampfes wird der Mut langsamer, bis er schließlich völlig zum Stillstand kommt, und anfängt rückwärts zu laufen. Zurück in die verwinkelten Gänge der Gedanken, in der die letzten positiven Erinnerungen zuflucht gesucht haben und das Mitgefühl wieder aufbauen. Die Emotionen eskalieren ein letztes mal, doch die Wassermassen sind zuviel für den immer enger werdenden Raum der Praxis. Wie zwei große Stöpsel öffnen sich die Ausgänge und das Wasser beginnt abzufließen. Licht dringt ein und nährt das kleine, verkrüppelte Etwas bis es zur vollen Größe heranwächst und sich deutlich als Lebenswille zu erkennen gibt. Währenddessen hat die Logik einen Plan eingerichtet und der Wille beginnt sogleich daran zu arbeiten. „Bis zum nächsten Mal“, flüstern die Emotionen und ziehen sich langsam in die Tiefen des Labyrinths zurück. Ich öffne die Augen. Eine Träne läuft langsam an meiner Wange herunter doch ich lasse sie laufen, bis sie die Spitze meiner Lippen erreicht und auf meiner Zunge ihren salzigen Geschmack entfaltet. Heute nicht, denke ich mir und nehme die Zyankalie Kapsel vom Tisch. In der obersten Schreibtischschublade ist sie sicher. Nur für den Fall, denke ich mir. Nur für den Fall.