Mitglied
- Beitritt
- 16.04.2022
- Beiträge
- 30
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 21
- Anmerkungen zum Text
Hey community, ich habe eine Kurzgeschichte geschrieben und wäre ziemlich dankbar über euer Feedback Bitte lest und sagt mir, was eure Gedanken dazu sind!
Nur Erde und Gras
»Lass endlich die Feuerleiter hochsteigen!«, rufst du und schüttelst mich, dass ich zu dir hochschauen muss. Du machst übertrieben große Augen. Wir liegen faul im Gras herum, zwei Halbstarke. Gerade war ich noch damit beschäftigt einzelne Halme aus dem Boden zu rupfen, nach Leben zu suchen. Gefunden habe ich nichts weiter, nur Erde und Gras; nicht mal eine Ameise weit und breit. Und jetzt deine großen aufgeregten Augen. Was soll’s, denke ich und hebe mich träge aus dem Gras, Widerstand ist zwecklos. Wenn du einmal eine Idee hast, kann man nicht anders, als dir zu folgen.
Die Feuerleiter führt hinauf auf das Dach einer leerstehenden Fabrik. Wir haben sie einmal zufällig entdeckt, hinten am alten Bahnhofsgelände. Immer wenn wir schon unter der Leiter standen, haben wir die Sache wieder abgeblasen, zu windig, zu rutschig oder weil wir ein Geräusch gehört haben und sicher waren, Zeugen wären in der Nähe. Oder schlimmer noch, Polizei. Die Fabrik steht schon etliche Jahre da und zerfällt langsam, die Scheiben der meisten Fenster eingeschlagen, die Fassade verwittert, schmutzig, bewachsen. An einigen Stellen um die Fabrik herum sieht man, dass Gelage stattgefunden haben; Lagerfeuerreste, leere Bierflaschen, Kippenstummel. Einmal lag eine Matratze direkt unter einem der großen ausgeschlagenen Fenster und wir haben uns Geschichten ausgemalt, was wohl damit passiert war. Jedenfalls, immer wenn wir da sind, ist der Platz wie ausgestorben. Wir schauen hoch auf die Feuerleiter und die glühende Mittagssonne brennt uns dabei in den Augen. Die Leiter hängt gar nicht weit oben, ich könnte sie wahrscheinlich auch alleine herunterziehen, wenn ich mich danach ausstrecken würde. »Nach Plan?«, fragst du dann aber schlicht und ich nicke bloß, während du dich direkt in Position begibst. Wir haben das alles schon lange geplant, schon unzählige Male durchgesprochen. Zur Stabilität lehnst du deinen Fuß an der Fassade ab, gehst leicht in die Knie und verschränkst die Hände vor dir, sodass ich meinen Fuß darin abstoßen kann. Du zählst von drei runter - 3, 2, 1 - und dann stemme ich mich hoch. Im selben Moment greife ich nach oben, packe das Ende der Feuerleiter und ziehe sie mit einem lauten Knattern nach unten. Und dann stehen wir erst mal nur ziemlich dumm da, schauen uns an, schauen die Leiter an. »Na los!«, sagst du, der ewige Antreiber und zeigst mit dem Kopf nach oben, und dann steigen wir die Leiter hinauf, trotzdem irgendwie träge, irgendwie unaufgeregt, als hätten wir unsere Kindheit schon vor Jahren verloren. Wahrscheinlich haben wir das auch. Ich muss daran denken, dass ich dich in den letzten Monaten immer seltener gesehen habe, du immer seltener da warst und da kommt der Groll in mir hoch und irgendwie auch dumpfe Trauer, weil ich einfach nicht mehr weiß, wie ich dich noch dazu bringen soll, mit mir zu sprechen. Wir waren mal beste Freunde, zwei verknotete Gehirne, quasi eins.
Am Dach angekommen, sehe ich dich bereits an der Kante sitzen. Du lässt die Beine baumeln und schaust hinab, gefährlich weit nach vorne gebeugt. Du suchst den Nervenkitzel, findest ihn im Abgrund, starrst mit einer Faszination hinab, die mir Angst macht, das war schon immer so.
»Ich muss dir was gestehen«, sagst du. Doch ich weiß bereits, was du mir sagen willst. Du warst schon einmal hier auf dem Dach, ohne mich, hast unseren Pakt gebrochen, bist alleine hier hoch, saßt wahrscheinlich genau an der Kante und hast werweißworan gedacht. Aber ich weiß genau, woran du gedacht hast, dass wusste ich früher immer.
»Du hättest es nicht aufhalten können!«, sagst du dann. Ich zucke zusammen; wahrscheinlich nicht. Wieder kommt Groll in mir hoch, vermischt sich mit Trauer, wird zu Verzweiflung. Tränen steigen mir in die Augen und durch diesen nebligen Schleier schaue ich in die Ferne, sehe verschwommen die Häuserdächer unserer Stadt, sehe unseren Park, den Friedhof, den Wald; sehe uns beide zusammen, überall. Die erste Zigarette, der erste Suff; die erste Prügelei, unsere gleichzeitig gebrochenen Nasen, doch wir haben uns gegenseitig verteidigt, immer. Das war mal unsere Stadt; das ist längst nicht mehr so. Während ich mir über die Augen wische, um wieder klar zu sehen, muss ich erkennen, dass ich alleine auf dem Dach stehe. Du bist gar nicht da. Früher hätte ich dich blind am Klang deiner Schritte erkannt und ein bisschen wünsche ich mir, deine schlurfenden Schritte jetzt zu hören, dich noch ein bisschen länger für mich zu haben. Doch es passiert nichts weiter und ich steige schließlich ohne dich die Leiter des alten Fabrikgebäudes wieder hinab. Jetzt war ich also auch mal hier.
Ich liege im Gras und zupfe einzelne Halme aus dem Boden, suche nach Leben, finde nur Erde und Gras. Da spüre ich ein leichtes Kribbeln auf dem Handrücken und sehe eine Ameise, die über meine Haut krabbelt, dann sehe ich eine zweite und noch eine. Der ganze Boden voller Leben.