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Nur er
Sie saß an der Bushaltestelle und hielt ein Photo in der Hand. Ausdruckslos schaute sie auf das Photo. Nicht eine Regung war in ihrem Gesicht zu sehen.
„Ich habe doch nur ihn geliebt“, sagte sie als jemand sich neben sie setzte und offensichtlich war sie nicht daran interessiert ob der fremde Junge sich mit ihr unterhalten wollte.
„Ich habe doch nur ihn geliebt“, wiederholte sie. Der Blick der jungen Frau weilte weiterhin auf dem Photo.
„Ich hatte einen Mann, er war so wundervoll, so liebenswert. Wir wollten gemeinsam ein Kind haben. Unsere Zukunft miteinander verbringen.“
„Ich hatte einen Freund, so humorvoll und lebendig. Er wollte, dass wir nach meinem Studium zusammen ziehen und hat sich extra dafür eine größere Wohnung genommen.“
„Ich hatte einen Begleiter für mein Leben. Er war entgegenkommend und sexy gleichzeitig. Er hatte mir sogar eine Stelle in der gleichen Stadt verschafft, nur damit wir mehr Zeit miteinander verbringen konnten.“
„Ich hatte nur diesen einen. Meinen Liebhaber. Die Nächte mit ihm waren feurig und bewegt und an Schlaf haben wir nicht gedacht bis die Sonne aufging, und er arbeiten musste.“
Kurz hielt sie in ihrem Monolog inne, fast als würde sie über das Gesagte nochmals nachdenken wollen.
„Und dann kam sie. Diese Hexe. Das Biest. Ich könnte sie umbringen!“
Wie aus dem Nichts drehte sie sich zu der Person neben ihr um, beinah, als wollte sie ihren Nachbarn anfallen.
In diesem kurzen Augenblick war zu erkennen, dass das Photo einen Mann zeigte. Er war vermutlich zwischen fünfundzwanzig und dreißig und auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches an dem Bild. Doch bei längerem Hinsehen schien irgendetwas nicht zu stimmen. Beinahe als würden die Augen zu einer Person gehören, die Lippen zu einer zweiten und die Nase wieder zu einer anderen.
Und so schnell wie die offensichtliche Wut gekommen war, verrauschte sie auch wieder in das Nichts.
Die Frau drehte sich in die gleiche Position zurück und starrte emotionslos wie zuvor auf das Photo.
„Sie kam und hat Lügen verbreitet. Sie wollte ihn für sich haben, sie wollte ihn mir einfach nur wegnehmen – ich weiß es! Sie hat erzählt, ich würde mit anderen Männern schlafen. Würde ihn betrügen.
Und ohne mich auch nur zu fragen ob das stimme hat er ihr einfach geglaubt. Ist gegangen – von heute auf morgen. Und mit ihm mein Mann, mein Begleiter, mein Liebhaber.
Als wäre auch nur ein Fünkchen Wahrheit an der Geschichte.“
„Er wollte nicht mal mehr mit mir reden, als ich ihm einige Wochen später zum Geburtstag gratuliert habe. Er hat einfach wieder aufgelegt.“
In diesem Moment fuhr der Bus in die Haltestelle ein und der Fremde stand auf um einzusteigen. Doch bevor sich die Türen wieder schlossen hörte er sie noch ein letztes Mal sagen: „Ich habe doch nur ihn geliebt.“
Und während der Bus in der Ferne immer kleiner wurde, saß sie weiterhin auf der Bank und starrte auf das Bild. Ein Bild das selbst bei genauem Hinsehen nicht verriet, ob es einen Mann darstellte oder die Photomontage mehrere Männer war.