Nur einen Wimpernschlag entfernt
Levin ist kein Freund. Er ist kein Junge, den man zum Fußballspielen anruft, noch jemand der dich ohne Grund zu sich nach Hause einlädt. Wenn er denn überhaupt jemals jemanden zu sich einlädt. Levin ist jemand, der viel kann. Und das ist nicht einfach so dahin gesagt. Levin hat viele verborgene Talente und die kennt er alle und versucht sie zu pflegen und auszubauen. Aber es sind eben alles Dinge, die Levin allein machen kann. Allein und bei sich zu Hause, wo ihn niemand sehen kann. Niemand außer mir. Ich bin übrigens Cora. Aber ich bin jetzt nicht so wichtig, wie es Levin ist. Denn über Levin hat bis jetzt noch niemand etwas geschrieben. Er glaubt, dass er nicht wahrgenommen wird, dass er nur trostlos wie ein Geist umher wandelt und sein Leben für sich selbst lebt. Doch da irrt er sich, täuscht sich gewaltig. Er wird wahrgenommen, er kann nicht durch Seelen hindurchgehen ohne eine Spur zu hinterlassen, noch kann er so tun, als ob er nicht bemerkt, was um ihn herum passiert. Und er kann nicht darüber hinwegsehen, dass sich jemand in ihn verliebt hat, dass ich mich in ihn verliebt habe. In ihn oder eben in sein, von seiner kleinen Schwester dargestelltes, Ich.
Zweimal in der Woche gebe ich Mira, Levins kleiner Schwester, Nachhilfe in der Rechtschreibung. Dadurch bin ich eben zweimal im Haus der Rieters. Doch in allen Wochen, in all den Malen der Nachhilfe habe ich Levin nicht ein Einziges Mal gesehen. Habe noch nie richtig zu ihm gesprochen, ihn lachen gehört oder gesehen wie seine Augen leuchten. Sicherlich fragst Du dich dann, wie es sein kann, dass ich in eine Illusion verliebt sein kann. Wie aus einem Reflex würde ich sagen, dass das ziemlich einfach zu erklären ist. Ich kenne Levin. Wenn ich am großen Holztisch im Wohnzimmer sitze kann ich auf das große Bild auf der gegenüberliegenden Wandseite blicken. Es zeigt ein ineinander geschlungenes Paar, welches zu einer vorhandenen Musik zu tanzen scheint. Die zarten Bleistiftstriche scheinen das Papier zu streicheln und die sanften rot und braun Töne schwingen in den Spannungen leicht mit. Links unten vom Bild ist unschwer die Unterschrift von Levin zu erkennen. Auf der anderen Wandseite, hinter mir jetzt, hängt ein anderes Bild, welches ebenfalls von Levin gemalt wurde. Es ist chaotisch, wirr und bunt. Die Farben scheinen ohne Sinn und Zweck an das Papier geworfen worden zu sein und doch kommt es mir so vor, als gehörten sie genau dort hin. Als gehörten sie dorthin, wie ein Docht in das Wachs gehört, sodass man eine Kerze erhält. Mein Blick wandert weiter umher, ich versuche alles zu erfassen, mir alles einzuprägen. Auf dem Kaminsims stehen zahlreiche Rahmen voller Bilder der Familie, aber auch andere Bilder. Bilder von idyllischen Orten, Orten zu denen jeder schon mal hin wollte.
Und diese Orte scheint Levin in den Fokus genommen zu haben. Wasserfälle und grelles Sonnenlicht, welches durch die Baumkronen scheint, buntes Laub und wilder Blumen, Insekten, Vögel und Fremde. All das findet sich auf einem Bild wieder und obwohl es ein wildes Durcheinander zu sein scheint, kehrt beim Betrachten eine gewisse Ruhe und Harmonie ein. Nichts ist überflüssig, alles ist wichtig. Fast bin ich dabei meine Augen zu schließen und mich in Gedanken unter den Strom des Wasserfalls zu stellen. Zu spüren, wie das Wasser auf mich niederprasselt. Doch ich bemerke Miras Blick auf mir haften. Er ist eindringlich und scheint mein Inneres mit nackten Händen zu berühren. „All die Bilder hat Levin gemacht.“, haucht Mira mir zu und ihre Stimme ist zart wie warmer Honig auf heißem Toast. „Er ist ständig mit Etwas beschäftigt, sitzt in seinem Zimmer und malt. Und wenn er dann raus kommt, haben wir ein Weiteres Bild zum Aufhängen.“ Ihre Stimme geht erneut hoch, wenn sie von ihm schwärmt. Ich muss schmunzeln. Ich fühle, wie ich die Liebe zwischen Mira und ihrem Bruder Levin spüre. Sehe Levin vor mir, wie er mit Mira spielt und sie mit Bedacht mit seinen Pinseln malen lässt. Doch ich merke, dass ich kein Bild von Levins Aussehen vor Augen hab. Die Bilder von ihm auf dem Kaminsims erscheinen mir fremd. Sie zeigen mir ein befremdliches Bild von Jemandem, den ich nicht kenne. Das Bild, was ich sehe entspricht nicht meinen Vorstellungen von Levin.
Miras Blick scheint meilenweit weg zu sein, vielleicht in Levins Zimmer, vielleicht auch unter dem Wasserfall. Ihre Rechtsschreibaufgaben brauche ich heute nicht mehr zu kontrollieren, ich weiß, dass sie sie kaum bearbeitetet hat. Aber das nehme ich ihr nicht übel. Vielmehr möchte ich mehr über Levin erfahren. Gespannt und innerlich vor Anspannung zerspringend warte ich auf Miras zarter Stimme. Und wie als wüsste sie, dass ich warte, beginnt sie zu sprechen. Ihre Stimme ist erneut so sanft und dünn, aber keineswegs piepsig, dass es in den Ohren nur so weh tut. Sie befördert mich augenblicklich an andere, fremde Orte, schöne und idyllische. Und obwohl sie nur ihren Bruder beschreibt befinde ich mich fern von ihrem Wohnzimmer, irgendwo an einem Fluss vielleicht, auf einer strahlend grünen Wiese und die Sonne, die glühend heiß auf mich hinab strahlt. Aber ich merke ihre Wärme nicht, vielleicht weil ich mich nur körperliche Dort befinden und meine Wahrnehmungen im Wohnzimmer geblieben sind.
Levin ist ein großgewachsener Junge mit dunkelblondem Haar und hellen, fast schon wilden grünen Augen. Sein Körper gleicht dem eines Athleten, eines Läufers, eines Schwimmers. Der Körper von Jemandem, der nach vorn will, der was erreichen will. Selbst wenn das, was er der Welt bietet seine Kunst ist. Und das ist schon mehr, als was die meisten anderen der Welt bieten können. Mehr als ich bieten kann. Mira erzählt mir, dass Levin nur malt, wenn es dunkel ist und am besten, wenn alle bereits schlafen. Wenn man ihn fragt, wieso er gerade dann so inspiriert ist, sagt er, dass es für ihn wie ein Zustand des Träumens ist. Und dort fühlt er sich eben am wohlsten. Freiheit ist für ihn die Möglichkeit zu Träumen, Träumen in jeglicher Form.
Eine kühle Hand legt sich mir auf die Schulter und holt mich geistlich wieder zurück in die Realität. Ich spüre wie ich mich panisch umschaue und merke erst, wenn ich weiß, wo ich mich befinde, dass ich total außer Atem bin. „Cora, Schatz, eure
Stunde ist schon seit 10 Minuten vorüber. Du kannst natürlich heute länger bleiben, aber Mira hat gleich noch Klavierunterricht und du bestimmt eine Menge für die Schule zu erledigen.“ Ich schaue auf und begegne den Blick von Frau Rieters. Das unsere nur bis 16:00 Uhr ging hatte ich längst vergessen, vielmehr war ich damit beschäftigt gewesen Levins Erscheinungsbild in meinem Gedächtnis zu erstellen und mir zu merken. Auch hatte ich gar nicht gemerkt, wie lange Frau Rieters schon hier stand und seit wann Mira aufgehört hatte zu sprechen. Zügig packe ich alles ein und nehme dabei auch Miras Heft mit, um es zu Hause zu kontrollieren, da dafür in der Stunde keine Zeit war. Da ich dafür keine Zeit haben wollte. Ohne mich noch einmal umzudrehen stürme ich hinaus und die kalte Luft schlägt mir ins Gesicht. Ich lasse den Einzigen Ort, der mir eine gewisse Nähe zu Levin verschafft, hinter mir und kehre zu meiner Illusion zurück.
Am Bahnhof schlage ich Miras Heft auf, um meine Arbeit schon einmal hier, während des Wartens, zu erledigen. Ich blättere hin und her, suche ihre Aufzeichnungen aus der heutigen Stunde und wie aus dem Nichts segelt ein weiß, verzierter Umschlag vor mir auf die Füße. Verdutzt hebe ich ihn auf und sehe wie Jemand meinen Namen ganz groß und mit einem schwarzen dünnen Stift aufgemalt hat. Ich schaue mich um, ob ich dort jemanden sehe, den ich kenne oder der mich kennt. Doch ich entdecke niemanden. Stirnrunzelnd und mit zittrigen Fingern öffne ich den Umschlag und entdecke zuerst den handschriftlichen Brief und daneben noch ein bemaltes Blatt. Ich hatte noch nicht einen Brief bekommen, oder besagt keinen, wo ich nicht wusste von wem der stammt. Noch hat schon mal Jemand für mich was gemalt. Ratlos welchen Zettel ich als erstes raus nehmen soll, schließe ich meine Augen, um blind zu entscheiden. Als ich spüre wie ein Blatt Papier zwischen meinen Fingern raschelt öffne ich meine schmerzenden Augen, die ich fest aufeinander gepresst habe und sehe wie ich mir selbst von der Zeichnung anlächle. Ich blicke genauer hin, um mich zu vergewissern, dass ich dargestellt sein soll. Und doch, ohne Zweifel, das Mädchen soll mich zeigen. Alles scheint zu stimmen, meine schmalen Augen und meine Lippen, an denen an der Oberlippe rechts mehr zu sein scheint. Selbst meine hoch gesteckten Haare passen und die einzelnen Strähnen die zufällig abstehen. Ungläubig suche ich nach etwas, was zeigt, dass nicht ich gemeint bin. Doch ich finde nichts. Plötzlich erkenne ich meine Schönheit, sehe endlich nicht nur das Schlimme und Dunkle an mir. Jemand hat hinter meiner Fassade mehr gesehen. Vorsichtig lege ich die Zeichnung zurück in den Umschlag, ohne dabei vorher die Unterschrift von Levin zu beachten. Schneller als zuvor schon schlägt mein Herz und ich hole den Brief heraus und als ich ihn überfliege, kann ich meinen Augen nicht trauen.
Cora ist ein Mädchen, was man schnell übersieht. Für gewöhnlich trägt sie nichts Auffälliges an sich, sie hat keine bunten Haare, noch einen ungewöhnlichen Kleidungsstil. Sie ist meistens still und ruhig, hört lieber gern zu als laut zu sprechen und sich in den Mittelpunkt zu drängen. Cora scheint Angst davor zuhaben was falsch zu machen, Angst davor entdeckt und erblickt zu werden. Sie will ihre gutdurchdachte Maske nicht fallen lassen. Cora glaubt, dass sie keiner wahrnimmt, dass sie nur umher wandelt und allein ist. Allein zu sein scheint. Denn das ist sie nicht. Ich nehme sie wahr. Am liebsten hab ich es, wenn sie ihre Haare offen trägt, aber wenn sie einen Zopf hat sieht man viel besser ihre Augen. Diese sind dunkel und ihr Blick ist eindringlich. Wenn ich von Mira nicht wüsste, dass sie mich mag, würde ich glauben, dass sie mich gar nicht kennt. Ich schaue sie gerne an, im Schulflur oder in den Pausen. Leise wie ihr Schatten bewege ich mich zu ihr hin und wieder weg. Ich bin unsichtbar und will nicht auffallen, so wie sie es auch nicht will. Aber eins will ich ihr sagen, doch ich traue mich nicht: Cora, ich kenne dich. So wie Du mich kennst. Und ich würde dich gerne zu dem Wasserfall mitnehmen, von dem du ständig träumst, aber ich kann nicht. Ich bin doch in meinem Traum gefangen, du müsstest doch wissen wie das ist. Wenn dich die Stimmen in deinem Kopf dazu zwingen alles was in dir herrscht aufzumalen, aufzuschreiben. Vielleicht irre ich mich auch nur und du weißt nicht wie das ist. Aber gerade dann kannst Du doch zu mir durch dringen. Mich aus den schrecklichen Träumen holen. Ich bin doch nur einen Wimpernschlag von dir entfernt. Cora, ich weiß, dass du das kannst. Und ich weiß ebenfalls, dass du das willst.
Dein Levin
Mit wild pochendem Herzen schaue ich auf, in der Hoffnung, dass Levin wie aus dem Nichts vor mir steht. Doch ich bin allein. Auch drehe ich mich um und blicke hinter mich, um mich zu vergewissern, dass auch mein Schatten zu mir gehört und an seiner Stelle nicht Levin steht. Immer und immer wieder gehe ich seine Worte durch. Dieses ich weiß, dass du das kannst scheint sich nicht nur auf den Kontakt mit ihm zu richten. Plötzlich fühle ich mich stark, es gibt jemanden der an mich glaubt, ohne wirklich zu wissen, was ich mich nicht traue zu tun. Ich hole tief Luft und beschließe gleich morgen früh zu Levin zu fahren. Vielleicht kann ich ihn ja wirklich aus seinem Alptraum rausholen, vielleicht kann er mit mir dann die schönen Dinge im Leben zeichnen und mit mir zu vorhandener Musik tanzen. Ich bin ja schließlich nur einen Wimpernschlag entfernt. Vielleicht.