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Nur eine Stunde
„Scheiße! War das eben ein verdammter Fisch? Nick, hast du das gesehen?“
Nick Temple hatte nicht gesehen, was gegen die Scheibe des Helis geklatscht war. Sein Blick klebte an den Wettertabellen und Diagrammen auf seinem Laptop.
„Nick!?“, wiederholte Alexander.
„Kann schon sein.“, murmelte er. „Der Hurrikan zieht sie aus dem Wasser und so.“
„Jesus, ich mache drei Kreuze, wenn wir erst im Superdome sind!“, sagte Alexander.
Nick widmete sich wieder den Wetterdaten. Wäre es nach ihm gegangen, wären sie in der meteorologischen Fakultät auf dem Campus geblieben. Dort war es bestimmt sicherer als in diesem fliegenden Schuhkarton.
Miguel hätte es sicherlich auch begrüßt, auf dem Universitätsgelände zu bleiben. Nicht, weil er dem Sturm mit trotziger Gelassenheit entgegen sah, sondern weil ihm das Gefährt raus aus New Orleans nicht zusagte. Der Flug glich dem Ritt auf einem betrunkenen Erdbeben – und Miguel hatte so schon eine verteufelt heftige Flugangst. Nick drehte sich zu ihm um. Der Teint seines Hiwis hatte sich bedenklich dem eines Frosches angenähert.
„Hey, Colega, wie ge-“
Wie ein rasender Güterzug überrollte die Böe den Helikopter und riss Nick die Worte aus dem Mund. Alexander fluchte ein ganzes Wörterbuch herunter, während er versuchte gegenzusteuern. Doch der Sturm ließ nicht locker, wirbelte sie herum wie Wäsche im Trockner. Und dann, ganz plötzlich, war da nichts mehr. Nur noch das extreme Gefühl von Schwere. Und dann: Dunkelheit.
Von tierischen Schmerzen durchzuckt kam Nick wieder zu sich. Hatte er verschlafen? Wo? - Verdammt! Sie waren abgestürzt wie ein verfluchter Stein. Mit einem Mal war er wieder hellwach. Nick sah sich um. Sein Magen zuckte spasmisch, als er Alexander entdeckte.
Sie waren in einer Baumkrone hängen geblieben und einer der Äste hatte die Frontscheibe durchstoßen. Der Kopf des Piloten war geplatzt wie ein überreifer Granatapfel. Stücke des Gehirns klebten in einer blutigen Soße über das gesamte vordere Cockpit verteilt. Irgendwie schaffte es Nick, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten.
Sein nächster Gedanke ritt auf der plötzlichen Adrenalinwelle zu Miguel. Hastig versuchte Nick sich umzudrehen, doch ein heißes Stechen durchfuhr ihn und lähmte seine Bemühungen. Mühsam schob er den Arm über seinen Bauch und schaffte es zumindest, den Sicherheitsgurt aufspringen zu lassen.
„Hey Miguel! Colega! Bist du da?“
Ein Ächzen aus der hinteren Sitzreihe erklang zur Antwort und deutete an, dass der Hiwi sich ähnlich miserabel befand, wie Nick selbst.
„Kannst du dich bewegen?“
Miguel erwiderte nichts und Nicks Pumpe erhöhte augenblicklich ihre Drehzahl. Er stieß die Cockpitluke auf und rollte sich aus dem Heli. Draußen schüttete es wie aus Eimern und Nicks Kleidung klebte ihm fast sofort am Körper. Auf allen Vieren kroch er voran und rüttelte an der hinteren Tür. Aber es tat sich nichts. Das Mistding musste sich beim Absturz verzogen haben. Nick zog sich am Griff hoch, aber noch ehe er durch das Fenster spähen konnte, glitt die Tür doch noch zur Seite auf und er landete erneut unsanft auf dem Boden. Wieder war ein Stöhnen von Miguel zu hören. Ein Glück, er war also noch da. Kaum auf den Knien, zog sich Nick in den hinteren Teil des Helikopters hinein. Da lag Miguel und beinahe hätte man meinen können, er würde schlafen und hätte unruhige Träume. Geronnenes Blut klebte an seiner Stirn.
„Scheiße, wie lang sind wir weg gewesen?“, fragte sich Nick. „Miguel! Alter, wach auf!“
Doch der Hiwi kam nicht über das Höchstmaß an Aktivität der letzten paar Minuten hinaus. Hilflos ließ Nick seinen Blick durchs Cockpit schweifen. Er fand aber nichts, das ihm in seiner momentanen Lage hilfreich erschien. Nur einen spitzen Kasten an der Decke, an dem Blut klebte. Vermutlich hatte sich Miguel daran den Kopf gestoßen.
Es blieben ihm also nicht viele Möglichkeiten. Nick raffte alles an Kraft zusammen, was er gerade aufbieten konnte und hievte Miguel irgendwie aus dem Heli. Dann sackte er neben ihm zusammen, den Rücken an das Wrack gelehnt. Das Atmen fiel ihm auf einmal unendlich schwer und der Regen prasselte hernieder wie Schotter. Aber er durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Alles, nur das nicht. Zwei bewusstlose Akademiker im Auge des Sturms – das wär's dann wohl! Nein! Klar im Kopf bleiben, dass war jetzt die Devise. Zunächst einmal: Wo zum Geier waren sie?
Nick wischte sich das Gemisch von Wasser und Schweiß aus den Augen. Sein Gesichtsfeld wurde jedoch nicht viel schärfer. Der Baum, dessen Krone ihren Sturz so unglücklich gebremst hatte, ging genau über ein Flachdach. Wären sie einen Meter früher runter gekommen, wäre Alexanders Kopf vielleicht nicht zur Piñata geworden.
Ansonsten sah man nicht viel. Nach ein paar Yards verschwand alles hinter einem grauen Vorhang. Neben dem Gebäude, auf dem sie gerade lagen, befand sich ein zweistöckiges Wohnhaus. Das Dach war zum größte Teil bereits entblättert. Der Hurrikan schien sie arg vom Kurs abgebracht zu haben. Hatte Alexander nicht gesagt, sie müssten einfach nur nach Süden? So wie es aussah, schienen sie nun aber in der Nähe vom Pontchartrain Park zu sein.
Allmählich ging Nicks Atem wieder gleichmäßiger, auch wenn ihre Situation kaum Anlass zur Beruhigung bot. Neben ihm zuckte Miguel noch immer wie ein Träumender. Seine Lippen bewegten sich und schienen Worte zu formen. Doch das Brüllen des Sturms fegte jeden anderen Laut hinfort.
Nick ging mit seinem Ohr genau vor Miguels Mund.
„...y bendito es el fruto de tu vientre, Jesús. Santa María, Madre de Dios ruega por nosotros, pecadores, ahora y en la hora de nuestra muerte. Amén.“
„Miguel! Miguel, komm schon! Wach auf, du speckiger Latino!“
„Eres un hijo de puta, Temple!“, erwiderte Miguel, die Augen glasige Murmeln hinter den Lidern.
„Oh Mann. Du glaubst nicht wie froh ich bin, das von dir zu hören!“
„Temple, ich glaube du hast den Sinn einer Beleidigung noch nicht ganz kapiert.“
Kein Zweifel, Miguel kam zurück. Auch wenn er noch wie eine kaputte Bauchrednerpuppe wirkte. Sein Rechenzentrum nahm langsam wieder die Arbeit auf. Wenn sie nicht so tief drin gesteckt hätten, hätte sich fast ein Lächeln auf Nicks Lippen gestohlen.
„Was ist passiert, Mann?“, meldete sich Miguel wieder.
„Wir sind runter. Wie ein Albatros mit Durchfall!“
„Alex?“
„Frag nicht, Mann! Frag nicht!“
„Scheiße! So schlimm?“
„Schlimmer...“
Das war's. Mehr gab es nicht zu sagen. Die Karten lagen auf dem Tisch und mit einem so saumäßigen Blatt konnte man nur passen.
„Wie weit noch bis zum Superdome?“, fragte Miguel.
Nick lachte hysterisch auf. Der alte Hundesohn war Matsch und gab doch nicht auf.
„Keine Ahnung, bestimmt noch vier Meilen. Wenn nicht sogar mehr...“
„Dann sollten wir zusehen, dass wir unsere Ärsche in Bewegung kriegen!“
Nick schob sich das Ziffernblatt seiner Uhr unter die Brauen.
„Das wird eng, Colega. Wir haben nur noch eine Stunde, bis Katrina genau über der Stadt ist. Eine verdammte Stunde.“
Die Diskussion, wie sie die ganze Sache angehen sollten, hatte nicht allzu lange gedauert. Optionen waren ja auch rar gesät. Wenn Nick recht hatte und sie sich tatsächlich in der Nähe von Pontchartrain befanden, waren sie mitten in einem Wohngebiet und der Schauplatz ihrer Bruchlandung vermutlich eine protzige Garage. Die Frage lautete nur: Wie hinein kommen? Das Wasser stand schon zu hoch in den Straßen, als dass man das Tor oder eventuelle Türen hätte auf bekommen können. Und alles, was auf dem Dach nach Belüftungsschacht aussah, war viel zu winzig, um auch nur an ein Hindurchpressen zu denken.
Nick umrundete das Dach, dessen Sims ein wenig erhöht war, so dass auch hier schon das Wasser stand. Miguel lehnte noch immer an den kläglichen Überresten ihres Helikopters, während Nick nach einem Weg in das Gebäude suchte. Er hangelte sich halb über den Dachsims, wie ein Trinker beim Erklimmen einer Treppe am Geländer.
„Ha! So ein verdammter Hurensohn!“, brüllte er plötzlich auf.
Bevor noch Miguel genug Spucke für eine Reaktion gesammelt hatte, stürmte Nick aufgeregt an ihm vorbei und wühlte im Innenraum des Wracks herum. Nur ein Blinzeln später lachte er erneut hysterisch auf und hielt dem wütenden Himmel einen Schraubenschlüssel entgegen, als hätte er grade Excalibur dem Stein entrissen. Dann eilte er zurück zum Dachrand und kurz darauf vernahm Miguel das Splittern von Glas.
„Madre de dios! Das vermutlich einzige unvernagelte Fenster von ganz New Orleans!“
Nick ging als erster. Irgendwie schaffte er es, sich durch das Fenster zu hangeln, ohne sich an den im Rahmen stehen gebliebenen Scherben die Eier abzuschneiden. Drinnen stand eine Werkbank hinter dem Fenster. Nick segelte direkt darüber hinweg und landete klatschend im Wasser. Es drückte durch sämtliche Ritzen der Garage und stand bereits Hüfthoch. In der Garage herrschte finsterste Nacht. Blind fischte Nick in dem eiskalten Wasser nach seinem Schraubenschlüssel. Einen Moment später wurde ihm klar, dass er genauso gut den Hammer von der Werkbank nehmen konnte. Verfluchte Hektik.
Nick schlug die Scherben aus dem Fensterrahmen und rief Miguel. Der rollte sich unter einer Reihe spanischer Verwünschungen vom Dach, bis seine Beine vor dem eingeschlagenen Fenster baumelten. Nick kletterte auf die Werkbank, umschlang Miguel an der Hüfte und zog ihn hinein.
„Temple, ich muss dir ganz ehrlich sagen: Ich hätte nicht gedacht, dass das klappt!“, sagte Miguel.
„Ach, halt die Klappe! Lass dir lieber was einfallen, wie wir hier drinnen etwas Licht machen!“
Ein breites Grinsen zeichnete sich auf Miguels Gesicht ab. Er fingerte in dem Meer aus Taschen an seiner Weste herum und zauberte ein Benzinfeuerzeug hervor. Nick erwiderte das Grinsen. Funken stiebend wurde die Flamme entfacht.
„Madre de dios!“
Vor einem ganzen Waffenschrank voller Angelruten lag ein Boot wie festzementiert im Wasser. Ein gutes, altmodisches Holzboot mit Außenborder.
Nick und Miguel hätten vor Freude über so viel Glück im Kreis tanzen sollen. Doch Miguel war zu erschöpft und Nick spürte nur, wie sich alles in seinem Unterleib verhärtete. Er musste an Alexander denken. Dieses arme Schwein. Nein, Glück hatte nichts mit der Sache zu tun. Dies hier war blanker Zynismus.
Trotzdem hatte Nick sich als Erster wieder in der Gewalt. Er schob sich durchs Wasser und zerrte an dem verdammten Ding.
„Nichts. Bewegt sich kein Stück.“
„Nur vertäut, oder...“
Nick umrundete das Boot. Scheinbar war es wirklich nur mit den Stricken auf dem Anhänger fixiert. Das dafür aber bombenfest.
„Wir brauchen irgendwas um die Stricke durch zu bekommen!“
Miguel betrachtete kurz sein Feuerzeug und reichte es ihm dann unsicher hinüber.
„Nein, vergiss es Colega! Damit dauert das viel zu lange. Lass uns mal die Schubladen durchwühlen.“
Miguel widmete sich, da er ja nun mal schon darauf geparkt hatte, der Werkbank, während Nick in aller Eile den Werkzeugschränken ihren Inhalt entriss. Doch Nick fand nichts Brauchbares. Dieses Mal sollte es Miguel sein, der triumphieren konnte.
„Oye!“
Nick bekam gerade noch zu fassen, was ihm Miguel zugeworfen hatte: ein recht anständiges Taschenmesser. Hastig stürzte Nick sich auf die Bootsvertäuung. Mit Hacken und Sägen rückte er den Stricken zu Leibe, die so fest gespannt waren, dass sie knallend auseinander flogen.
Endlich schwamm das Boot frei und Nick fiel erst da auf, dass das Wasser in der Garage ihm nunmehr bis zum Bauchnabel ging.
„Wir müssen es drehen.“, sagte er schließlich.
Miguel ließ sich von der Werkbank gleiten und versuchte redlich, ihm zu helfen. Trotzdem war es Nick, dem es irgendwie gelang, dass vermaledeite Boot zu wenden. Glücklicherweise hatte es jemand für notwendig gehalten, der Garage die Ausmaße eines Luxus-Doppeltrailers zu geben. Dadurch ließen sich störenden Zusammenstöße mit Schränken und anderem Interieur vermeiden.
Doch kaum war das Boot bereit, standen sie vor der nächsten Schwierigkeit: Wie wieder hinaus kommen?
Draußen stand das Wasser bestimmt 12 Zoll höher. Selbst wenn sie das Tor irgendwie öffnen konnten, würde eine kräftige Welle durch die Garage fegen.
Es blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig als es zu versuchen. Mit einer Spaltaxt und einem Hammer bewaffnet standen Nick und Miguel vor dem Tor. Entschlossenheit war jetzt ihre einzige Chance. Ein Nicken und dann droschen sie auf das Tor ein. Splitter flogen im hohen Bogen durch die Garage. Dreckiges Wasser quoll gierig durch die sich auftuenden Spalten. Das einzig Gute war, dass sich so der Drang des Wassers, die Pegel auszugleichen, nur langsam entladen konnte. Keiner von ihnen hätte darauf vertrauen wollen, dass das Boot einen Wellentango in der Garage ohne Schäden übersteht.
Zu ihrem großen Glück schien der Besitzer der Garage ausgerechnet beim Tor gespart zu haben. Es bestand nur aus billigem Sperrholz und in kürzester Zeit hatten sie ein Loch geschaffen, welches groß genug war. Miguel ging vor und zog von draußen am Boot, während Nick von hinten schob.
Ein Einstieg ohne Kentern erwies sich als weitaus schwieriger. Nicht nur, weil das Wasser bereits so hoch stand. Es herrschte zudem noch ein höllischer Wellengang.
„Komm schon, du verdammtes Mistding! Wehe du hast keinen Sprit mehr oder springst nicht an“, murmelte Nick, während er an der Reißleine des Außenborders zog. Hinter ihm betete Miguel auf Spanisch, vermutlich weit weniger unflätig, doch mit dem gleichen Anliegen.
Wer auch immer sich den Verdienst zuschreiben konnte, es funktionierte. Der Motor sprang an, wenn auch stotternd, und ihr Boot begann sich trotzig eine Schneise durch die Wellen zu erzwingen. Nicht nur wegen des Wellengangs kamen sie sich vor wie auf dem offenen Ozean. Nick und Miguel blickten zurück. Der Ort ihres Absturzes wirkte völlig deplatziert in dieser überzeugenden Imitation des Atlantiks. Eine bizarre Erinnerung an die menschliche Zähmung der Natur, die langsam hinter den trüben Regenschleiern verschwand.
Miguel schrie panisch auf. Das Boot hatte etwas gerammt.
„Ruhig, Colega! Das war nur ein Dach.“
„Die Leute hätten wenigstens ihren Müll noch verschwinden lassen können.“
Und tatsächlich stank es ganz plötzlich nach faulen Eiern.
Eine Weile bahnten sie sich schweigend ihren Weg. Es war auch reichlich anstrengend, gegen Sturm, Regen und Wellengang anzuschreien. Miguels Körpersprache deutete an, dass er erneut die Jungfrau Maria pries. Nick suchte nach aufmunternden Worten, als sich sein Hiwi unvermittelt umdrehte. Sein Gesicht sah glatte zehn Jahre älter aus.
„Wir werden es nicht mehr rechtzeitig schaffen, oder?“
Nick sah auf seine Uhr. Als er wieder aufsah, brauchte er nicht mehr zu antworten. Sein Blick sprach Bände.
„Hm. War ja klar.“
Sie fragten sich gar nicht, warum es immer noch nach faulen Eiern stank oder auch nur, wie sich bei dem Wetter überhaupt ein Geruch in der Luft halten konnte.
„Okay, weißt du was. Dann müssen wir uns was anderes suchen“, erwachte Miguel wieder aus der im Boot herrschenden Lethargie.
„Was?“, erwiderte Nick.
„Irgendein Gebäude, das hoch und stabil genug ist, um dort den Sturm auszusitzen, Temple!“
In Nicks Kopf setzten sich die Rädchen wieder in Gang. Sie mochten inzwischen eine Viertelmeile Richtung Südwesten geschafft haben. Wo konnten sie hin? Auf Sichtweite stach nichts wirklich überzeugend aus dem Wasser hervor. Das musste aber auch nichts heißen. Der Regen, der immer noch zuzunehmen schien, schnitt die Reichweite auf wenige Yards herunter. Dann machte es klick bei ihm.
„Gentilly Woods Mall!“, sagte Nick.
Vielleicht waren sie schon auf Höhe der Dreux Avenue. Ach was, bestimmt sogar. Das hieße, an einem besseren Tag hätten sie das Shopping Center sogar schon gesehen.
Eine leise Ahnung von Zuversicht wollte sich bei Nick ausbreiten, doch Miguel verhinderte es.
„Hast du das eben gespürt?“, fragte er.
Nick hatte es gespürt. Sie hatten wieder etwas gerammt.
„Wird ein Auto gewesen sein“, sagte er.
Aber Nick war selbst nicht ganz überzeugt. Denn es roch immer noch nach faulen Eiern.
Nick hatte es eine Weile erfolgreich vermieden, sich Gedanken über den seltsamen Geruch zu machen. In etwa, bis sich im Regengrau langsam die Umrisse der Mall abzeichneten. Da sprang Miguel plötzlich aufgeregt an den Bug.
„Mira!“
Etwas trieb vor ihnen im Wasser. Miguel hing schon über der Reling und kübelte ins Wasser, bevor Nick erkennen konnte, was sie da aufgetan hatten. Als er es sah, wollte er es auch gar nicht mehr wissen.
Wie eine Boje trieb der klägliche Rest eines Menschen in der grauen Brühe und klopfte im Gleichklang der Wellen gegen die Außenwand ihres Bootes. Der Mann sah aus, wie von einem überdimensionierten Gebiss attackiert. Nur sein Kopf, der linke Arm und ein kleines Stück des Oberkörpers waren von ihm übrig geblieben. Gerade genug um die Teile zusammen zu halten.
Nick musste arg mit sich kämpfen, um es Miguel nicht gleich zu tun. Durchhalten! Einer von ihnen beiden musste stark bleiben. Wenn Nick allen Rest von Beherrschung zusammennahm und ehrlich war, hatte er heute schon Schlimmeres gesehen.
Aber da war ja noch dieser absurde Gestank nach faulen Eiern. Schwefel. Faule Eier rochen nach Schwefel. Aber warum zum Geier sollte es im von den Vorboten des Hurrikans gepeinigten New Orleans nach Schwefel riechen? Einbildung konnte es nicht sein, Miguel roch es ja auch. Warum also...
Ein heftiger Ruck durchfuhr das Boot. Miguel schrie auf. Brackiges Wasser klatschte über die Bordwand. Ein sumpfgrüner Pfeil schoss aus der Brühe und landete krachend auf dem Boot.
Nick und Miguel fanden sich plötzlich im eiskalten Wasser wieder.
„Venga! Venga!“, brüllte Miguel und schwamm in hektischen Kraulbewegungen auf den schemenhaften Kasten im Dunst zu.
Gedankenfetzen wirbelten hinter Nicks Stirn im wilden Reigen. Irgendwie funktionierte er einfach und folgte Miguel.
In dem perversen Wirrwarr aus Pech und Glück, welches sie an diesem Tag bereits erlebt hatten, hatte Nick keine Idee, wie er es bewerten sollte, dass sich just an jener Seite der Mall, auf die sie nun zu schwammen, eine Feuerleiter befand. Es war auch egal. Sie hielten einfach Kurs.
Nick erreichte sie als Erster und kletterte nach oben. Hinter sich hörte er Miguel folgen. Aus irgendeinem Grund sah er sich um. Und seine Augen weiteten sich vor Schreck. Das trübe Wasser schäumte, als ein plötzlich ein zähnestarrendes Maul aufsprang und kurz vor Miguels rechtem Bein wieder zuschnappte.
Nick begriff, dass Miguel nur noch in einem Stück war, weil er ihn instinktiv am Kragen hoch gezerrt hatte.
„Que, en su nombre? Ein Alligator?“
In Nicks Kopf spukte als Antwort „Hölle ja! Und ein verdammt großer noch dazu!“ herum, aber was er sagte war: „Komm schon! Sehen wir zu, dass wir rein kommen!“
Er schob Miguel vor sich her, weiter die Leiter hinauf. Aber er löste seinen Blick nicht von der Wasseroberfläche. Er verschwendete auch keinen Gedanken daran, ob die Brandschutztür am anderen Ende offen sein würde. Woran Nick dachte, war, dass er noch nie von einem grauen Alligator gehört hatte.
Natürlich war die Brandschutztür von außen nicht zu öffnen, aber Nick machte keine Anstalten, sich darüber aufzuregen. Er kletterte einfach direkt aufs Dach weiter und Miguel blieb nur, ihm zu folgen.
Nick hatte das akute Bedürfnis möglichst viel Entfernung und solide Bausubstanz zwischen sich und dem offenen Wasser zu bringen.
Auf dem Dach fanden sie eine ganze Reihe von Fenstern. Sie boten nicht viel Widerstand.
Durch das Dachfenster waren sie in einen Versorgungsflur gelangt, der zu den sonst unsichtbaren Bereichen einer Mall gehörte. Der angenehm beruhigende Geruch von frisch gebohnertem Linoleum stieg Nick in die Nebenhöhlen. Den Manager wollte er gern sehen, der so blöd war, kurz vor einem Jahrhundertsturm noch mal die Böden polieren zu lassen.
Nun, da sie in Sicherheit waren, stürzte der Schock mit voller Wucht über Miguel herein. Er sackte mitten auf dem Flur zusammen.
Nick sprang ihm bei und richtete ihn, an die nächste Wand gelehnt, wieder auf.
„Hey Colega!“
„Was für ein Tag, oder Temple?“
„Ja, du sagst es, Mann! Ruh dich einen Moment aus und ich sehe mich mal ein bisschen um.“
„Bring Twinkies mit! Ich könnte jetzt sterben für Twinkies“, rief Miguel ihm hinterher.
Nick verließ, nicht ohne eine gehörige Portion Magenschmerzen, den Flur. Im öffentlichen Teil der Mall war bereits das Erdgeschoss überflutet. Der Pegel war zwischenzeitlich offenbar um weitere Zoll gestiegen. Eine Couchgarnitur schwamm, eine Rotte Eisberge imitierend, durchs Foyer und würde jeden Moment mit einem Hot-Dog-Stand kollidieren.
Nick lenkte seine Schritte die Galerie entlang und ertappte sich dabei, eine Einkaufsliste zusammen zu stellen. Taschenlampe, Funkgerät, Wasser oder besser noch Cola, Twinkies, viele Twinkies. Und dann nichts wie zurück. Der Anblick der trüben Wellen unten im Foyer gefiel ihm gar nicht.
Und dann war der Gestank wieder da. Nur ein schwacher Hauch. Schwefel.
Nick rannte zurück zum Flur.
Ein Schrei. Als hörte man einen Hund, der gerade überrollt wird. Miguel!
Nick schlitterte durch die letzte Tür, stolperte in die Dunkelheit hinein und setzte hart auf dem Fußboden auf. Die Deckenbeleuchtung war ausgefallen. Und es stank in bestialischem Ausmaß nach faulen Eiern.
Mit flatterndem Atem tastet Nick sich zu der Stelle, wo er Miguel wähnte. Und griff in etwas Schleimiges. Es brauchte nicht viel Phantasie, aus den darunter liegenden Konturen einen menschlichen Schädel zu erraten. Magensäure schoss seine Speiseröhre hinauf.
Um ihn herum tröpfelte Wasser geräuschvoll von der Decke. Dazwischen erklang ein Gemisch aus Schlürfen und Kriechen.
In Nicks Kopf übernahm etwas Älteres und Routinierteres als der Verstand die Kontrolle. Er sprang auf und stürmte zurück auf die Galerie.
Etwas Schweres schlug gegen die zurück federnde Flurtür. Und Nick rannte schneller.
Nick folgte noch immer dem Kommando seines Instinkts: Flucht! Mit wachsendem Abstand zum Flur, stieg der rationale Anteil in seinem Denken jedoch wieder an. Wo wollte er eigentlich hin? Er konnte ja schlecht bis zum Ablaufen des Wassers auf der Galerie herum rennen. Und sich zu verstecken ginge nur in einem der Geschäfte. Dazu hätte er aber ein Schaufenster einschlagen müssen und das wäre ja nun alles andere als unauffällig und damit dem Ansatz des Versteckens eher hinderlich. Neben diesem Gedankenwirrwarr wurde ihm bewusst, dass seine Kondition rasch nachließ. Das Lauftempo würde er nicht mehr lange durchhalten. Also doch verstecken.
Nick wagte einen Blick über die Schulter, sah in der verlassenen Mall aber nichts außer der flackernden Beleuchtung. Ein paar Schritte weiter war die Auslage eines Modegeschäftes. Soweit Nick es beurteilen konnte, der vermutlich größte Laden, den er bisher hier gesehen hatte.
Nun, besser wurde sein Blatt heute wohl nicht mehr.
Das Klirren der berstenden Fensterscheibe fuhr durch Nick wie ein Kreissägenblatt. Er hastete durch die Kleiderständer, die Augen wild herum jagende Murmeln, auf der Suche nach einem Versteck. Sein erster Impuls ging in Richtung der Umkleidekabine, doch dann entschied er sich doch für den Kassentresen.
Nick lag unter dem Tresen und setzte alles daran, seine Lunge zur Ruhe zu zwingen. In seinen Ohren klang jeder seiner Atemzüge wie ein Leck im Rumpf einer Linienmaschine auf Flughöhe. Die andere Hälfte seiner geistigen Kapazitäten war auf das Lauschen ausgerichtet.
Doch irgendwo in den hinteren Windungen seines Gehirns begann sich ein Gedanke zu formen. Lauter und lauter beanspruchte er Nicks Aufmerksamkeit: Was zum Geier versuchst du hier? Denkst du wirklich, was auch immer Miguel erwischt hat, wird dich hier drinnen nicht finden? Bei dem riesigen Loch in der Scheibe?
Nick schritt auf die Galerie hinaus, wie ein zum Tode Verurteilter – die Augen bereits verbunden und eine glimmende Zigarette im Mundwinkel – zur Exekution. Draußen kam ihm der Schwefelgeruch entgegen. Sehen konnte er nur ein paar Meter weit, denn die Elektrik, und damit auch das Licht, brachen unter den in die Stadt dringenden Wassermassen zusehends zusammen. Vage nahm er das Brüllen des Sturms wahr.
Zwischen dem vibrierenden Stöhnen des Gebäudes, welches vom machtvollen Zerren des Hurrikans kündete, war es wieder zu hören. Dieses Geräusch, als würden Tonnen von zähflüssigem Küchenabfall durch einen kolossalen Abfluss gespült. Nick stand mitten auf der Galerie, in einer der letzten flackernden Inseln aus Licht, die es in der Mall noch gab. Selbst wenn er es sich noch einmal anders überlegt und sein Heil doch in der Flucht hätte suchen wollen – keine Chance. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr.
Er verspürte einen stumpfen Schmerz, irgendwo zwischen Herz und Lungenflügeln. Das sich nähernde Geräusch hatte nun annähernd rhythmischen Charakter. Nicks Ohren waren taub für das Wüten des Hurrikans. Sein Atem ging laut und schwer.
Nicks Hirn hatte in Sekunden einen wahren Strauß an Absurditäten und Abscheulichkeiten ausgebrütet, die jeden Moment aus dem Dunkel treten mussten. Doch nichts reichte an das heran, was er zu erblicken verdammt war.
Was auch immer es nun wirklich sein mochte, gewiss stammte es aus den fauligen, lichtlosen Tiefen des Ozeans. Aufgeschreckt vom Wüten des Hurrikans, der es vor sich hergetrieben und schließlich in die verfluchte Stadt gespült hatte.
Es hatte annähernd menschliche Proportionen, doch war leicht vornüber gebeugt und völlig grau. Es schien weder Haut noch Fleisch zu haben, vielmehr erinnerte es an Schlick. Und dann die Augen. Diese Augen wie blasse, weiße Laternen.
Die graue, schleimige Karikatur einer Hand streckte sich nach Nicks Gesicht aus. Völlige Stille. Die Mall lag im Auge des Sturms.
Ein Schrei zerriss die Nacht in New Orleans. Aber niemand war dort, um ihn zu hören.