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Nur ein weiterer Tag...
9:00 Uhr morgens:
Kurt rannte durch die Stadt. Er hatte verschlafen. Aber wen wundert das, hat er doch die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Erst gegen vier Uhr morgens ließen ihn seine Gedanken endlich zur Ruhe kommen. Frieda hatte ihn gestern Abend verlassen. Es wäre nicht seine Schuld, sagte sie. Sie bräuchte einfach ein wenig Zeit für sich alleine. Sie könnten ja trotzdem Freunde bleiben, sagte sie.
Natürlich gab es einen anderen Mann. Alles, was Kurt über ihn wußte, war der Vorname, Klaus. Nie würde er diesen Namen wieder aus seinem Kopf bekommen.
Aber all das änderte nichts daran, daß er heute unwiderruflich zu spät kommen würde. Andererseits war es vermutlich niemandem aufgefallen, daß er noch nicht da war. Niemand auf der Baustelle beachtete ihn, hatte ihn jemals beachtet.
Er bog um eine Ecke des Geschäftsviertels und hörte einen dumpfen Aufprall. Ein Mann landete zwei Meter vor Kurts Füßen auf dem Gehweg, auch wenn man das seltsame Gebilde, das dort in einer großen Blutlache lag, nur noch schwerlich als Menschen bezeichnen konnte. Er mußte sich aus großer Höhe von einem Hochhaus gestürzt haben.
...
Vier Stunden später:
„Polizei! Lassen sie die Waffe fallen und kommen sie mit erhobenen Händen da raus!“
„Wie bitte?“
„Soll ich es wiederholen?“
„Nein... nein, ich war nur verwirrt.“ Und dazu hatte Herbert jeden Grund. Immerhin war er selber es gewesen, der vor nunmehr einer Stunde die Polizei gerufen hatte. „Ich habe sie schließlich geholt und bin unbewaffnet...“
„Oh, das tut mir leid. Reine Gewohnheit.“, entschuldigte sich der Polizist.
Herberts Frau Grete lag in einer abstrakten Position auf dem Küchenboden, tot. Herbert war es nicht gewesen, aber er hatte mit dem Gedanken gespielt. Das zu diesem Zweck erstandene Rattengift befand sich immer noch in seiner Manteltasche, als sie ihn abführten. Das Pulver sei Beweis genug, sagten die Polizisten, ihn zumindest zum Verhör mitzunehmen.
Herbert hatte es nicht getan. Das Schicksal war ihm zuvor gekommen.
...
Zwanzig Stunden zuvor:
Grete war alleine zuhause. Und sie langweilte sich. Wie immer eigentlich. Seit zehn Jahren waren sie jetzt verheiratet, aber nach so langer Zeit kehrte irgendwann Routine in ihre Ehe. Sie liebte ihren Herbert, aber in letzter Zeit gab er ihr nicht mehr das Gefühl, ihre Liebe zu erwidern.
Seit Jahren brachte er ihr keine Blumen mehr mit, es waren diese kleinen Aufmerksamkeiten, die einfach fehlten. Statt dessen saß er nach der Arbeit stundenlang in der Kneipe und trank sich dort um den Verstand.
Grete saß am Küchentisch und blickte stoisch nach draußen, als könnten die Tagethes im Balkonkasten irgend etwas an ihrer Lage ändern. Wie gerne hätte sie jetzt einen der Bauarbeiter bei sich. Die waren seit einigen Wochen dabei, den Sparkassenrohbau an der Ecke hochzuziehen. Aber das würde sie nie tun, auch wenn sie sich nach einem echten Mann sehnte. Grete hatte einfach nicht den Mut, sich zu nehmen, was sie wollte.
In diesem Moment hörte sie Schritte im Treppenhaus. Sie kannte diesen Gang genau. Es war ihr Nachbar Klaus, der sich leichten Schrittes die Treppen hinaufbewegte. Gretes Herz schlug höher, als sie durch den Türspion blickte und ihren Nachbarn sah, der seine Wohnungstür aufschloß. Heute müßte es einfach sein. Grete öffnete kurz entschlossen die Tür.
„Hallo, Herr Nachbar...“, sagte sie mit einem lasziven Unterton in ihrer Stimme.
„Ha.. Hallo. Ihr Bademantel ist offen.“
„Ja, ich weiß.“
„Und sie tragen nichts drunter.“
„Ja, ich weiß.“
„Aber ihr Mann...“
„Der ist nicht da...“
...
Einundzwanzig Stunden später:
Seine Mittagspause näherte sich ihrem Ende. Und mit Kurts Leben verhielt es sich ebenso. Was hatte es schon für einen Sinn, in dieser Welt zu leben. Seine Freundin hielt ihn für einen impotenten Asozialen, womit sie vermutlich recht hatte, sein Chef würde ihn feuern. Er hatte niemals richtige Freunde gehabt, denen er sich jetzt anvertrauen konnte.
Es gab einfach niemanden, der ihn daran hinderte, die Pistole an seinen Kopf zu halten und den Abzug zu drücken. Es gab auch niemanden, der seinen Tot bemerkte, bis auf eine weiße Taube, die von dem Knall aufgeschreckt wurde und sich in die Lüfte erhob.
...
Sechs Stunden zuvor:
„Können sie mir das bitte erklären?“
„Was denn, Herr...“
„Wir sind eine renommierte Apotheke! Da können sie nicht so einfach... Gott, ich weiß gar nicht, was ich da noch sagen soll!“
„Aber... ich...“
„Gar nichts haben sie! Sie haben einem Kunden in unserer Apotheke Rattengift verkauft! Wir führen gar kein Rattengift! Sie können doch nicht einfach fremde Waren in unserem Geschäft verkaufen.“
„Woher...“
„Was glauben sie denn, woher ich das weiß? Wir haben Kameras, sie Trottel!“
„Aber, ich habe Frau und Kinder... ich muß sie ernähren...“
„Wollen sie mir sagen, sie wollen eine Gehaltserhöhung?“
„Wenn es sich unter Umständen machen ließe...“
„Raus! Und kommen sie ja nie wieder! Sie sind gefeuert!“ Gesenkten Hauptes verließ Willi das Büro seines Chefs.
...
Vierzehn Stunden zuvor:
„Grete! Was machst du denn da? Und wer sind sie?“ Herbert war erschüttert. Seine Frau lag mit ihrem Nachbarn im Bett und war gerade dabei... Herbert wollte gar nicht dran denken, was sie da gerade machte.
„Ich bin ihr Nachbar.“, sagte Klaus.
„Das weiß ich auch verdammt!“
„Warum fragst du dann?“
„Halt die Klappe, Grete! Und sie verlassen auf der Stelle meine Wohnung.“
„Darf ich noch meine Hose...“
„Hauen sie schon ab!“ Klaus verließ, so schnell ihn seine Beine trugen, nackt das Bett und dann die Wohnung seines Nachbarn. Herbert wandte sich seiner, ebenfalls nackten aber noch auf dem Bett liegenden, Frau zu.
„Das hätte ich niemals von dir erwartet, Grete.“
„Aber, du warst nie da... und Klaus... er gab mir wieder das Gefühl...“
„Jetzt sag bitte nicht, er gab dir wieder das Gefühl eine Frau zu sein, das kannst du dir gleich sparen. Hör auf, bei jeder Gelegenheit Hera Lind zu zitieren!“
„Verdammt Herbert, ich liebe ihn nicht! Ich brauchte nur mal wieder...“
„Sex?“
„Ja. Das war es, was ich mal wieder brauchte... Herbert, komm zurück! Wo willst du denn hin?“
Herbert konnte es wirklich nicht fassen. Seine eigene Frau betrog ihn in seinem eigenen Bett mit seinem eigenen Nachbarn. Was hatte er nur falsch gemacht? Hatte er sie nicht immer geliebt? Hatte er jemals eine andere Frau auch nur angesehen? Grete war immer die Einzige in seinem Leben. Nein, es konnte nicht sein Fehler gewesen sein! Diese... Schlampe... ja, eine Schlampe wie sie hatte seine Zuneigung gar nicht verdient. Er würde ihr einen Denkzettel verpassen, der sich gewaschen hat. Ja, das würde er tun!
...
Dreizehn Stunden später:
Willi öffnete seine Apotheke. Er hätte sie vielmehr geöffnet, wenn dieser Mann nicht vor der Tür gestanden hätte.
„Machen sie auf?“ fragte der Mann.
„Wenn sie mich durchlassen würden, gerne.“
„Oh, das tut mir leid.“ Herbert machte einen Schritt zur Seite und ließ den Apotheker die Tür aufschließen. Er war die ganze Nacht durch die Stadt gewandert und hatte nachgedacht. Hatte das Für und das Wider abgewogen. Letztlich gab es aber nur eine Lösung, sie hatte den Tod verdient. Diese Entscheidung hatte Herbert bereits nach fünf Minuten Überlegens gefällt.
Den Rest der Nacht überlegte er, wie er es tun sollte, sie umbringen. Schußwaffen fielen von vornherein aus, da er keine besaß. Äxte, Messer und ähnliche Dinge stünden zwar zur Verfügung, aber er hatte keine Ahnung, wie man seine Frau mit einer Axt erschlägt. Außerdem konnte er kein Blut sehen. Und für perfide Mordpläne, wie Bremsleitungen am Auto durchschneiden, das Haus anzünden oder ihre Badewanne mit Piranhas füllen, fehlte ihm schlicht die Phantasie.
Eigentlich blieb da nur noch vergiften. Herbert folgte dem Apotheker in das Geschäft.
„Was kann ich denn dringendes für sie tun?“
„Haben sie starke Schlafmittel?“
„Nur auf Rezept. Haben sie ein Rezept?“
„Nein... verdammt... Irgendwelche fiesen Medikamente, die bei Überdosis tödlich wirken?“
„Nur auf Rezept. Wollen sie ihre Frau umbringen, weil sie fremd gegangen ist?“
„Was?“ Herbert fühlte sich ertappt „Wie... wie kommen sie denn...“
„Ich bin Apotheker. Was meinen sie, wie viele Männer wie sie ich schon hier hatte?“
„Siebzehn?“ Herbert war zu perplex, um zu bemerken, daß die Frage rhetorisch gemeint war.
„Das ist korrekt... wirklich, siebzehn... woher wußten sie das?“
„Haben sie jetzt irgendwas für mich?“
„Naja... natürlich habe ich da was... aber das... ist etwas kompliziert, wenn sie verstehen...“ Willi schenkte seinem Kunden ein verschwörerisches Zwinkern.
„Nein, ich verstehe nicht.“
„Eigentlich darf ich das nicht machen. Ich könnte meinen Job verlieren... verstehen sie jetzt?“
„Tut mir leid...“
„Mein Gott, sie sollen mir Schmiergeld anbieten!“
„Sagen sie das doch gleich.“ Herbert holte einige Scheine aus seiner Brieftasche. Er hatte immer sein gesamtes Bargeld bei sich, da er Banken nicht traute. „Reicht das?“
„Wissen sie normalerweise mache ich das ja nicht, aber ich habe Frau und Kinder. Und von diesem Hungerlohn hier, kann ja kein Schwein leben.“ Mit diesen Worten holte Willi eine braune Flasche unter seinem Tresen hervor. Sie trug einen Aufkleber mit einem Totenkopf. Mit der anderen Hand ließ er die Geldscheine unauffällig in seinem Mantel verschwinden.
„Das ist konzentriertes Rattengift. Tötet in fünf Minuten und ist sehr schwer nachweisbar...“
„Danke, Herr...“
„Mein Name tut nichts zur Sache.“
„Er steht auf ihrem Schild.“ Herbert beugte sich ein wenig nach vorne, um den Namen lesen zu können. Willi nahm das Namensschild ab und steckte es in eine Tasche.
„Gehen sie.“, sagte er dann „Ich wünsche viel Glück... ach ja, ich habe sie nie gesehen und werde alles abstreiten.“
„Ich war auch noch nie hier...“
...
Sechseinhalb Stunden später:
Klaus war immer noch ein wenig verunsichert wegen seiner gestrigen Begegnung mit dem Nachbarn. Er hatte es eigentlich gar nicht gewollt. Vor drei Wochen hatte er Frieda kennengelernt und sich sofort in sie verliebt. Sie wollten zusammenziehen, sobald sie sich von diesem... wiehießernoch Kurt trennt.
Das mit der Nachbarin war ein Ausrutscher und er hoffte, Frieda würde davon nichts mitbekommen. Jeden Morgen fuhr Klaus mit seinem Wagen an der Baustelle vorbei, auf der Kurt seine Arbeit verrichtete. Jeden morgen trafen sie sich, ohne sich zu erkennen.
Kurt hatte Mittagspause. Und er war in Gedanken. Wie konnte er noch weiterleben? Sein Vorarbeiter hatte ihm soeben mit Kündigung gedroht, wenn er noch einmal zu spät käme. Aber wen kümmerte das schon. Frieda war weg, saß jetzt bestimmt mit diesem... wiehießernoch Klaus in einem Cafe und machte Witze über ihn.
Als die Wolkendecke für kurze Zeit aufriß und ein Sonnenstrahl Kurts Augen blendete, faßte er einen Entschluß. Er würde heute noch sterben. In einem Film hatte er einmal gesehen, wie ein Mann sich mit einer Pistole selber hinrichtete. Aber woher sollte er eine Waffe nehmen?
Einen Häuserblock weiter war die Polizei gerade dabei, Herbert festzunehmen. Sie schliffen ihn in ihren Wagen und fuhren los. Unterwegs bekam einer der Beamten Hunger. Sie hielten also an einer nahegelegenen Pommesbude, um einen Happen zu essen. Von allen unbemerkt, fiel einem der Polizisten die Waffe aus dem Halfter, da er sie nicht richtig festgeschnallt hatte. Als später der Fall des toten Bauarbeiters, der sich mit dieser Waffe getötet hatte, verfolgt wurde, fiel die Spur auf ihn zurück und er verlor wegen dieser Unachtsamkeit seinen Job.
Als der Wagen wieder losfuhr, fand ein Bauarbeiter, der sich gerade in der schlimmsten und letzten Krise seines Lebens befand, die Pistole auf dem Gehweg liegen.
...
Anderthalb Stunde zuvor:
Herbert betrat seine Wohnung. Er war heute nicht bei der Arbeit, sondern hatte sich Mut angetrunken. Grete schien nicht da zu sein, machte vermutlich Einkäufe. Es war totenstill, als Herbert die Wohnungstür hinter sich ins Schloß fallen ließ. Er hatte einen Plan. Er würde Grete zu einem Gespräch überreden und ihnen dazu einen Kaffe kochen. Nur, daß Gretes Kaffe eine zusätzliche Zutat enthalten sollte.
Zu diesem Zweck betrat Herbert die Küche auf der Suche nach Kaffeepulver. Dabei stolperte er über die Leiche seiner Frau. Sie war vollständig bekleidet, im Gegensatz zu gestern und trug Laufschuhe und einen Mantel. Ein wenig enttäuscht aber zugleich glücklich, daß ihm irgendjemand diese Arbeit abgenommen hatte, griff er zum Telefon und holte die Polizei.
...
Fünfzehn Stunden zuvor:
„Es ist nicht deine Schuld, Kurt. Ich brauche nur ein wenig Zeit für mich alleine.“
„Aber... du... ich... wir beide...“
„Es gibt kein wir mehr, Kurt. Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.“
„Warum... ich meine... wir...“
„Nein Kurt, es ist vorbei. Wir sollten es nicht so dramatisch machen. Laß uns doch Freunde bleiben...“ Frieda formulierte diesen Satz, als wäre er das Selbstverständlichste auf der Welt. War er ja auch. Die meisten Beziehungen enden mit ihm.
„Freunde...“
„Ja.“
„Gibt es einen anderen Mann?“
„Wie kommst du jetzt auf Klaus?“
„Soso, es gibt also einen Mann?“
„Nein... ja... vielleicht...“
„Das reicht. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Und Kurt ging nach Hause.
...
Elf Stunden später:
Grete wachte auf. Ihr Mann lag nicht neben ihr im Bett. In diesem Moment kamen ihr die Ereignisse von gestern Abend wieder in den Sinn. Die Sache mit Klaus. Das war wirklich ein Ausrutscher. Sie hatte es nicht gewollt...
Herbert ist sicher die ganze Nacht durch die Stadt gelaufen, und hatte nachgedacht. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen. Dazu ging sie in die Küche, um ihn mit einem richtigen Frühstück zu empfangen. Zunächst einen Schluck Milch zum Wachwerden. Sie mußte eine neue Tüte öffnen. Dann zog sie sich an und wollte sich auf den Weg zum Bäcker machen. Kurz bevor sie die Wohnungstür öffnete, fiel ihr ein, daß ihr Radio noch lief. Grete ging wieder in die Küche.
„...bitten wir um ihre Aufmerksamkeit. Ein Erpresser hat gestern die Supermarktkette KaufRausch erpresst. Er drohte, sämtliche Milchtüten der Marke MilchFit mit Rattengift zu versetzen. Wir bitten die Bevölkerung, keine Milch besagter Marke zu trinken, sondern sie zurückzubringen. Wir danken für ihre Aufmerksamkeit. Das Wetter. Es wird stürmisch...“
Mit fahlem Gesicht starrte Grete fassungslos das Radio an. Sie brauchte nicht nachzusehen, es war ihre Marke. Sie schaltete das Gerät aus und kippte noch in dieser Bewegung nach vorne über.
...
Zwei Stunden später, 9:00 Uhr morgens:
Willi stand auf dem Dach des Hochhauses. Es hatte keinen Sinn mehr. Ohne Job konnte seine Familie nicht überleben. Und mit dieser Geschichte am Hals würde er nie wieder Arbeit als Apotheker finden. Das Beste wäre, er würde springen, damit seine Frau wenigstens die Lebensversicherung zugestanden bekam. Das war alles, was er für sie tun konnte.
Willi breitete die Arme aus und sprang. Er landete genau vor den Füßen eines Bauarbeiters, der auf dem Weg zur Arbeit war...