Mitglied
- Beitritt
- 11.09.2012
- Beiträge
- 6
Nur ein Spiel
Wieder hallten die Worte durch meinen Kopf: „Es ist nur ein Spiel.“
Immer und immer wieder hatte ich gesehen, wie Leute zitterten, wie sie während einem Turnier 10 Kilo abnahmen, wie ihre Welt zusammenbrach und sie in Tränen ausbrachen, wenn sie einmal nicht gewannen. Nie hatte ich es verstehen können. Niemals hätte ich so sein wollen. Nie im Leben hatte ich mir überhaupt nur vorstellen können, irgendwann genau so zu sein.
Doch jetzt war es anders.
Es ging um die Weltmeisterschaft.
Dieses Spiel würde die Entscheidung bringen.
Dieses Spiel würde entscheiden, ob mein Traum in Erfüllung geht.
„Es ist nur ein Spiel.“
Zumindest war es das mein Leben lang gewesen.
Mein Vater hatte mir, im Alter von 6 Jahren, sein altes Schachbrett gezeigt und mir die Regeln erklärt. Fortan war das königliche Spiel mein einziges Hobby gewesen. Mehr noch: Der Inhalt meines Lebens. Ich war fasziniert gewesen von den endlosen Kombinationen, die sich auf den 64 Feldern ergaben. Wenn ich spielte, blendete ich alles um mich herum aus. Es existierten nur noch 2 Dimensionen, 2 Farben aber unendlich viele Möglichkeiten. Ich versank in einer anderen Welt; einer Welt, die vollkommen logisch war, und berechenbar. Doch so tief man auch rechnete, so viele Möglichkeiten man auch berücksichtigte, war es doch immer möglich, noch einen Schritt weiter zu denken. Grenzenlos waren die Möglichkeiten, und grenzenlos war meine Begeisterung für dieses Spiel gewesen
- Für dieses Spiel!
„Es ist nur ein Spiel!“
In der Schule hatte ich mich deutlich von den anderen unterschieden. Kommunikation war nicht gerade meine Stärke. Ich scheute den Kontakt zu Menschen nicht, aber ich sehnte mich auch nicht besonders danach. So kam es, dass ich während meiner Schulzeit kaum Freunde gehabt hatte. Während die anderen in den Pausen Fußball gespielt, oder in Kleingruppen zusammengestanden und sich über das Wochenende unterhalten hatten, hatte ich allein auf einer Bank gesessen und mich in meine eigene kleine, schwarz-weiß karierte Welt zurückgezogen. Und das hatte mich glücklich gemacht.
In jeder freien Minute, hatte ich über neue Strategien und Taktiken nachgedacht. Ein Brett hatte ich nicht gebraucht; es war immer da gewesen in meinen Gedanken.
Schon in jungen Jahren hatte ich Turniere gespielt.
Meine Gegner waren allesamt hochbegabt. Sie wurden trainiert von den besten, sie beherrschten die Schachnotation, noch bevor sie ihren eigenen Namen schreiben konnten und sie rechneten wie Maschinen. Aber kaum einer hatte mich je besiegen können.
Was ihnen fehlte, war einzig und allein die Leidenschaft. Sie hatten gespielt, um zu gewinnen. Ich hingegen hatte gespielt, um zu spielen.
Eine interessante und lehrreiche Partie war für mich tausendmal mehr wert gewesen, als ein plumper Sieg, durch einen Eröffnungsfehler, seitens meines Gegners.
Es war eben nur ein Spiel.
Das Spiel hatte mich glücklich gemacht; nicht das Ergebnis.
Der amtierende Weltmeister holte mich mit seinem Zug aus meiner Geistesabwesenheit zurück. Er zog seinen Bauern auf f7 und griff meinen König an.
„Schach“ sagte er nicht. Es liegt nicht in der Natur eines Schachspielers, auf offensichtliches hinzuweisen. Bislang hatte noch keiner von uns ein Wort gesprochen.
Meine Hand bewegte sich in Richtung seines Bauers, um ihn aus dem Spiel zu nehmen, hielt aber kurz davor inne.
Sein Zug war unerwartet gewesen. Längst hatte ich alle Varianten berechnet. Ich war sicher gewesen, er sei ein Fehler. Warum hatte er ihn dennoch gezogen? Hatte ich etwas übersehen? Oder war ich ihm letztendlich tatsächlich überlegen? Der Schweiß tropfte von meiner Hand auf seinen Bauern. Mein Herz pochte wie nach einem 100-Meter-Sprint. Noch eine Minute auf der Uhr; noch zwei Züge bis zum 40sten, an dem ich wieder eine Stunde hätte.
Ich versuchte irgendetwas zu finden, was ich bisher nicht gesehen hatte. Es ging nicht. Ich konnte nicht mehr klar denken. Alle Varianten waren meinem Gedächtnis entfallen. Noch 30 Sekunden. Ich saß da wie ein Anfänger, der sich panisch fragt, ob er nun schlagen soll oder nicht. Normalerweise konnte ich mit Zeitdruck umgehen, aber nicht in diesem Spiel.
20 Sekunden. Die Figuren verschwammen vor meinen Augen. Mein Gehirn war kurz davor die Notbremse zu ziehen, was einen Nervenzusammenbruch bedeuten würde.
War es das was er wollte? Spielte er auf Zeit? Wollte er mich mit einem sinnlosen Zug in den Wahnsinn treiben? Oder war der Bauer tatsächlich vergiftet?
10 Sekunden. Eine Entscheidung musste her. Aber woher? Ich schloss meine Augen, die in diesem Moment sowieso nutzlos waren. Ein tiefer Atemzug; dann zog ich. Ich schlug auf die Uhr, als müsste ich eine Fliege mit der Hand erschlagen. Die Augen wieder geöffnet, sah ich meinen König auf f8 stehen; davor seinen Bauern. Gott allein weiß, warum ich dahin gezogen habe. Sei es Intuition oder reiner Zufall, egal, ich musste noch einen Zug machen. Und mir würden nur 3 Sekunden bleiben. Eine plötzliche Assoziation zu einer Stellung, die ich vor Jahren einmal auf dem Brett gehabt hatte, ließ das Gefühl in mir aufsteigen, dass mein Zug ein schwerer Fehler war. Natürlich. Er musste gewusst haben, ich würde mich nicht trauen.
Er hatte die Situation genutzt und den spielentscheidenden Fehler provoziert.
Urplötzlich führte er blitzschnell seinen nächsten Zug aus, als wäre er selbst in Zeitnot.
Es blieb keine Zeit um nachzudenken. Intuitiv zog ich meinen Läufer auf b6 und schrie „Schach!“, das erste Wort seit Stunden.
Nun war klar, dass ich verlieren würde. Zwar wusste ich nicht, was als nächstes passieren würde, aber was ich mit Bestimmtheit wusste war, dass es im Schach keine unüberlegten Züge gibt, die nicht verlieren - schon gar nicht zwei nacheinander! Einzig das Adrenalin verhinderte, dass mich das volle Ausmaß meiner Trauer, um meinen geplatzten Traum, traf.
Die Uhr zeigte jetzt eine Stunde Bedenkzeit für den Rest der Partie; Zeit für eine Tasse Kaffee. Eine galt noch nicht als Doping. Ich war im Begriff aufzustehen, als mein Gegner mir plötzlich seine Hand entgegenstreckte. Was sollte das bedeuten? Üblicherweise reicht man sich zweimal pro Partie die Hand: Einmal zu Beginn, im Sinne von „Möge der Bessere gewinnen!“ und einmal am Ende, um als Verlierer dem Überlegenen zum Sieg zu gratulieren, aber doch niemals völlig grundlos während der Partie. Sekunden verrannen, in denen ich abwechselnd die Stellung auf dem Brett anstarrte, und seine Hand, die wie ein Waschlappen in der Wüste vor mir hing.
Mit einem ruhigen „Ich verstehe nicht“ brachte ich meine Verwirrung zum Ausdruck. Offenbar nicht minder verwirrt, fügte der vermeintlich beste Spieler der Welt ein „Ich gebe auf“ seiner Handbewegung hinzu. Tausende Gedanken schossen durch meinen Kopf, während ich ihm verwundert die Hand schüttelte. Keiner machte Sinn.
„Würden sie mir verraten aus welchem Grund?“ fragte ich schließlich.
Er setzte diesen Du-mich-auch-Gesichtsausdruck auf und verließ den Saal.
Seitdem habe ich nie mehr eine Schachfigur angefasst.