Nur ein Schritt
Nur ein Schritt
Geschichte eines Selbstmords
Nur ein Schritt. Ein winzig kleiner Schritt.
Ein Schritt, wie ihn tagtäglich jeder Mensch unzählige Male tut, es sei denn, er sitzt im Rollstuhl.
Warum fiel ihm dieser verdammte Schritt so schwer?
Es war so einfach. Es war das, was er wollte… und es war wirklich keine große Sache.
Nein, er log sich etwas vor!
Dieser Schritt war anders. Nach diesem Schritt würde es kein Zurück mehr geben… aber was machte es denn schon? Er wollte doch nicht zurück, sonst wäre er nicht hier.
Hier, am Ende seines Weges. Am Gipfel der Welt, von wo aus selbst die Millionenstadt so winzig klein aussah, und ihre Sorgen so nichtig.
Aber wären nicht diese „kleinen“ Sorgen, hätte er diesen Gipfel nicht erklimmen wollen beziehungsweise müssen. Menschen, die von hier aus wie Ameisen aussahen, hatten ihn im Grunde diesen hässlichen Wolkenkratzer hinauf gejagt. Der Ort, den er irrtümlicherweise immer „Zuhause“ genannt hatte, entpuppte sich als genau das: Ein schnöder Ameisenhaufen, in dessen Inneren der Hass brodelte.
Und nun stand er hier, an der Spitze dieses Ameisenhaufens; über der Stadt, deren zweiter Name „Ignoranz“ war. Von seinem einsamen Standpunkt aus erkannte er umso deutlicher, dass es eine sinnlose Maschine war. Ein perpetuum mobile, erschaffen von einem wahnsinnigen Wissenschaftler, der anscheinend schon beim Bau von diesem Mechanismus den Sinn und Zweck des Ganzen wieder vergessen hatte.
Dort unten herrschte Tag und Nacht reges Treiben. Die immerwährende Eile, die das Leben zu einem Wettlauf gegen die Zeit machte – die Zeit, die keiner hatte. Ein Leben lang Höchstgeschwindigkeit, so als wären die Menschen mit einem Terminkalender im Hinterkopf geboren, als wären ihre Atemzüge ein Countdown. Tröstlich war der Gedanke, es bald nicht mehr so eilig zu haben. Nie mehr, um genauer zu sein.
Doch wenn er das erreichen wollte, musste er sich jetzt umso mehr beeilen! Ein Augenblick des Zögerns – und seine Chance würde davon flattern. Sein Mut würde ihm den Stinkefinger zeigen, bevor sich das letzte Bisschen davon auflöste.
Dann würde dem Verzweifelten nichts übrig bleiben als zurückzukehren, sich wieder in diesen sinnlosen Mechanismus einzufügen.
Autos und Menschen, die sich stetig ihren Weg durch das Leben bahnten, durch dieses Labyrinth, wo es keinen Ausweg gab, dafür aber umso mehr Sackgassen. Und es schien, als sei er gerade in eine dieser Sackgassen getappt…
Der einzige Ausweg war der Sturz in den Abgrund… Nein! Da unten lauerte kein Abgrund, sondern wartete nur die Seligkeit. Umso besser, oder nicht?
Warum reichte dann allein schon ein Blick nach unten, damit sich seine Knie in Gelatine verwandelten? Er wusste nicht, wie viele Meter ihn von der Freiheit trennten. Kein Weg war ihm zu weit, wenn am Ende die ewige Ruhe winkte. Hier galt sogar: Je weiter, desto besser.
Er legte den Kopf in den Nacken und schaute ein letztes Mal zum Himmel hinauf. Zum Himmel, der ihn bestimmt nicht haben wollte. Aber wenn der Himmel immer so sein würde, wie er ihm jetzt erschien, dann wollte er selbst da nicht hin. Als Kind hatte er immer versucht, Bilder in den Wolken zu erkennen. Das Einzige, was er jetzt in den grauen Schleiern sah, die sich wie ein schmutziges Leichentuch über das Dach der Welt spannten, war ein abweisendes Gesicht. Eine verkniffene Miene (seiner eigenen nicht ganz unähnlich), die hinter zusammengepressten Lippen zu sagen schien: Du kommst hier nicht rein, du Verlierer.
Doch Angst vor der Alternative hatte er nicht, denn schon sein Leben war die Hölle, also kein Unterschied. Andererseits: War es denn nicht töricht, eine Hölle gegen eine andere auszutauschen? Nein, es war schlichtweg egal. Lediglich ein wenig Abwechslung.
Aber was brachten ihm diese ganzen philosophischen Überlegungen? Mit dieser Demagogie verschwendete er wohl nur seine Zeit! Hinter wichtig klingenden Gedanken versteckte er sich vor sich selbst, vor der Entscheidung. Er rannte seinem Glück davon – typisch, wie einige böse Zungen sagen würden. Doch waren sie wirklich böse? Viel mehr ehrlich; das Urteil von einigen wenigen, die ihn halbwegs kannten. Nicht wirklich natürlich, nur gut genug, um ihn als den Feigling zu entlarven, der er war.
So war er immer gewesen. Zu feige zum Leben, zu feige zum… Sein Magen drehte sich um, allein schon bei dem Gedanken. Seltsam, wenn sich „Erlösung“ so anfühlte, dann war dieser Begriff nur eine weitere Lüge. Eine von den vielen, mit denen Menschen leben, weil sie es nicht anders wissen – nicht anders können.
Lügen: klebrige, durchsichtige Fäden, die sich durch das Leben zogen und die man nicht loswurde, hatten sie sich einmal in die eigene Geschichte eingewoben. Scheinbar überflüssig, dennoch war für manch einen dieses Netz ein stabiles Gerüst, ohne das sein Leben zusammenbrechen würde wie ein Kartenhaus.
Konnte es einen schlimmeren Schock geben, als sich urplötzlich selbst in diesem Kartenhaus wieder zu finden? Noch dazu in einem, das nur noch ein Ruin war. Trümmer lagen überall, zerbrochene Träume und die Splitter, in die sein Herz zersprang. Wie leicht mussten es Leute haben, die seines zerstört hatten – denn sie selbst hatten keins!
Sein Leben war eine einzige Lüge. Der Tod blieb als der einzige Weg, die Wahrheit zu erkennen. Der Tod war die Wahrheit.
Aber woher wusste er, dass er sich nicht wieder etwas vormachte?
Inzwischen konnte er mit den Lügen, diesen Tentakeln, die sich um seine Seele geschlungen hatten, so verwachsen sein, dass er nicht mehr klar zwischen Wahrheit und… erwünschter Wahrheit unterscheiden konnte. Schwarz und Weiß gab es nur in Kindermärchen und schlechten Filmen, doch jetzt würde er das auf jedem Fall dem allgegenwärtigen Grau bevorzugen: Grau der Himmel, grau die Gebäude, grau die Gesichter der Robotermenschen, die sich unten tummelten – ebenso wie ihre Seelen. Noch ein Grund für seine Flucht.
Doch war Flucht die richtige Lösung? Was stimmte überhaupt noch in seiner kaputten Welt, wem konnte er noch sein Vertrauen schenken? In wessen Hände sein Leben legen? Er selbst würde es doch jeden Augenblick fallen lassen…
Verdammt, warum mussten sich ausgerechnet im entscheidenden Moment die Fragen in seinen leeren Kopf einschleichen?! Schwindlig war ihm doch ohnehin schon (Höhenangst: nur ein weiteres Symptom der Krankheit „Feiglingsein“), da ließen auch noch Zweifel seinen Kopf schwirren!
Er musste schnell handeln, ein einziges Mal in seinem beschissenen Leben Entschlossenheit zeigen, sonst würde dieser Albtraum ewig so weitergehen. Wenn er jetzt stehen blieb, diesen einen Schritt nicht wagte, würde er wieder, einem Hamster gleich, in das sich ewig drehende Rad steigen. In das Karussell der Verzweiflung.
Loslassen… darin war er sonst doch so gut, warum fiel ihm das dann jetzt so schwer? „Verlieren“ und „einstecken“, wie stark prägten diese Verben doch sein Leben. Dabei waren es nicht mal richtige Tätigkeiten. Noch ein Beweis dafür, dass er sein ganzes Leben lang im Kreis gerannt war.
Eine Linie, die sich für immer unterbrach, war besser als ein Kreis. Oder nicht?
Ihm wurde noch schwindliger. Zu schwindlig, um diesen Schritt zu wagen. Er hasste sich dafür, dass er sich selbst in Stich ließ.
Doch vielleicht war diese Art von Verrat – genau wie die Lüge freilich nur einer von vielen, die ihm das Leben zugemutet hatte – eine Ausnahme, etwas Gutes? Etwas, wofür er sich irgendwann womöglich sogar bedanken würde… bei wem eigentlich? Bei sich selbst, für seine Feigheit? Bei einem höheren Wesen, das ihm diese Zweifel eingeflüstert hatte? Die Macht, die seine Knie so weich werden ließ, dass sogar dieser eine Schritt zu anstrengend war?
Die Kraft verließ ihn. Stattdessen wirbelten immer neue Fragen in seinem Kopf, ein Kaleidoskop der Rhetorik. Sinnlos, gewiss, doch ließen sie ihn nicht in Ruhe. Weitere Dämonen, die sich in seine terrorisierte Seele krallen wollten, sie auseinander reißen und ihn verwirren, bis er nicht mehr wusste, wer er und was noch richtig war.
Die einzige Erlösung war eine Antwort, das wusste er wohl. Aber eine Antwort war zu schwer zu finden. Die Frage – ja, sie selbst war schon fast die Antwort. War denn ein Bewohner dieses Ameisenhaufens, der sich „Leben“ schimpfte, wirklich gut damit beraten, von dessen Spitze zu stürzen? Er war bestimmt nicht die einzige verwirrte Ameise, vielleicht war es besser, wenn wenigstens er zurückkehrte.
Ohne es zu merken, war er zurückgetreten vom Rande des Abgrunds. Die Entscheidung war unbewusst gefällt, und die Ameise machte sich auf den Heimweg.
Ja, er würde sich nach unten begeben. Aber nicht für einen, sondern für noch viele Schritte.