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Nur ein Nichts und ein Niemand

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14.10.2001
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Nur ein Nichts und ein Niemand

Nur ein Nichts und ein Niemand
Die Luft im Klassenzimmer war dumpf und verbraucht, obwohl die Stunde gerade erst begonnen hatte. Die Fenster standen offen, aber von draußen kam nur drückende Schwüle herein.
Lähmende Langeweile lastete auf den vielen Schülern im Raum. Nur ganz von Ferne hörten sie die einschläfernden Geräusche des Unterrichts: die dunkle, gleichmäßige Stimmer des Lehrers, das Scharren von Füßen, leises Rascheln von Papier, gewisperte Gespräche und ab und zu die stockend vorgetragenen Antworten von Klassenkameraden. Einige Schüler hatten sich mit halb geschlossenen Augen zurückgelehnt, andere sahen zum Fenster hinaus oder starrten mit leeren Augen vor sich hin. Alle waren sie mit ihren Gedanken ganz woanders.
Guido gähnte. Er fühlte sich unendlich erschöpft. Kein Wunder, wenn man an letzte Nacht dachte! Wie von selbst zeichnete seine schlanke, kräftige Hand bizarre Muster auf das weiße Blatt, das vor ihm lag. Hinter seiner Stirn raste es. Wenn sie wüssten - oh, wenn sie alle nur wüssten!
"Guido!"
Er fuhr zusammen. Eine dunkle Gestalt türmte sich vor seinem Tisch in der ersten Reihe auf.
"Wie ist Ihre Meinung dazu?"
Er konnte sich gar nicht so schnell aus seinen Gedanken befreien.
"Haben Sie mir überhaupt zugehört?"
Er versuchte sich zu sammeln. "Könnten Sie die Frage noch einmal wiederholen?", stieß er mit seiner zittrigen Stimme hervor. Leises Kichern ging durch die Reihen, so wie fast jedes Mal, wenn Guido nur den Mund aufmachte.
"Sie wissen, dass ich Fragen grundsätzlich nicht wiederhole!"
Guido hielt den Blick gesenkt. Seine roten Wangen brannten.
"Wenn Sie so weitermachen, sehe ich wirklich schwarz für Sie! Reißen Sie sich doch ein bisschen zusammen!"
Guido schwieg. Seine Mundwinkel begannen zu zucken.
Der schwarze Schatten war verschwunden, aber Guidos Herz klopfte immer noch schnell und heftig. "Du auch - du auch - du auch ...", dachte er im hämmernden Rhythmus seines Herzschlags.
Sein Blick glitt an den dunklen Hosenbeinen des Lehrers hoch bis zu seinem weißen Hemd. Er stockte ungefähr da, wo sich das Herz befinden musste. Guido stellte sich vor, wie sich die Spitze seines scharfen Messers langsam, ganz langsam durch den weißen Stoff, durch die Haut, durch das Fleisch bis tief hinein in den zuckenden Muskel bohrte. Er sah das dunkelrote Blut, wie es aus der Wunde in das Hemd sickerte, wie es auf den Boden tropfte, spürte förmlich seinen süß-metallischen Geruch. Ein leises Lächeln umspielte seine vollen Lippen.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ihm die stechende Hitze aus dem Gesicht gewichen war und er vorsichtig zu dem Lehrer aufschauen konnte. Erschrocken sah er, wie ihn sein dunkler Blick traf. Schnell blickte Guido wieder auf sein Blatt hinunter.
Aus dem Augenwinkel sah er seinen schwarzen Rucksack. Wenn sie ahnen - oh, wenn sie alle nur ahnen würden, was darin verborgen war! Und wenn er es hervorholen sollte - wenn er ihn hervorholte - dann würden sie nicht mehr über ihn lachen! Im Gegenteil! Dann würden sie zittern, betteln, schmeicheln - und er würde es genießen, in vollen Zügen genießen, so wie er gestern genossen hatte. So wie er noch genießen würde.
Guido lehnte sich zurück. Dabei streckte er seine braungebrannten, wohlgeformten Beine aus - und erschrak. Mit dem Fuß hatte er den Rucksack umgestoßen. Aber zum Glück waren nur ein paar unverfängliche Gegenstände herausgefallen. Möglichst unauffällig räumte er die Sachen wieder ein. Seine Hand suchte dabei verstohlen das kühle schwarze Metall.
Er dachte wieder an die Lehrerin, diese Ratte. Er wusste jetzt schon, dass er mit der Note für seine Klausur nicht einverstanden sein würde. Er konnte machen, was er wollte. Die Ratte war nie zufrieden. Es war so ungerecht, so gemein von ihr, dass sie ihm immer wieder eine Fünf gab. Seine mit spärlichen dünnen Bartfäden bewachsene Oberlippe kräuselte sich voll Abscheu. Man hätte ihr lieber das Gehirn aus dem Schädel blasen sollen, so wie man ein Ei ausblies. Zwei Löcher im Kopf - eins rechts, eins links - aus denen das Gehirn austrat, so wäre es richtig gewesen! Und ihre Todesangst, ihre Schreie - heiser, wie ein Tier - waren wie kühle Salbe für seine Schmerzen gewesen.
Er fuhr wieder zusammen. Jemand hatte mit einem klatschenden Geräusch Papier vor ihm auf den Tisch geworfen. Seine großen erschrockenen Blauaugen hinter der Intellektuellenbrille richteten sich auf Sylvia. Sie teilte Texte aus. Schon wieder hatte sie dieses freche Grinsen aufgesetzt, mit dem sie ihn immer anschaute. Guido musste leider zugeben, dass Sylvia nicht übel aussah. Er stellte sich vor, wie ihr höhnisches Grinsen erstarren, wie es langsam aus ihrem Gesicht weichen würde, wenn er seine Hände um ihren Hals legte und langsam, ganz langsam zudrückte, wie ihre Augen hervorquollen, ihre schwarze Zunge sich hervorschob ...
"Guido, lesen Sie!" Die barsche Stimme war wie ein Schwall eisiges Wasser. Er hasste den Lehrer, diese Kakerlake. Er hasste sie alle, das ganze Ungeziefer um ihn herum.
Leise begann er zu lesen. Da war es wieder, dieses unterdrückte Kichern. Er las stockend und hasste sich selbst dafür. Aber er konnte sich auch kaum auf den Text konzentrieren. Immer musste er daran denken. Im Toilettenraum würde es geschehen. Bald.
"Danke! Wer liest weiter?", unterbrach ihn die Stimme des Lehrers.
Im Geiste sah er, wie er den Revolver hob oder wie er sich mit einem Messer auf sie stürzte oder sich Vaters Gewehr an die Stirn setzte, oder nein! Wie er sich den Lauf in den Mund steckte. Er sah die entsetzten Gesichter, die aufgerissenen Münder, hörte ihre Schreie: "Hilfe! Hilfe!" Hörte, wie sie ihn baten, winselten, ihn anflehten. Er sah Waschbecken, in denen gurgelnd Blut ablief, blutverschmierte Fliesen, tote Körper überall und sich selbst mittendrin.
Heute würde er wahrscheinlich früher nach Hause gehen können. Die Lehrerin, diese Ratte, fehlte ja. Man würde sicher glauben, sie wäre krank. Aber er wusste es besser. Sie war bei ihm, in einem abgeschlossenen Kellerraum ohne Fenster. Als seine Eltern ihm gesagt hatten, dass sie für ein paar Tage zur Jagd fahren wollten, war ihm schlagartig der Gedanke gekommen.
Und es war alles so leicht gewesen. Als sie in ihr Auto steigen wollte, hatte er ihr einfach Vaters Revolver in die Rippen gestoßen und ihr befohlen, mit ihm zu seinem Haus zu fahren. Er hatte sie im Keller eingesperrt und sich erst einmal überhaupt nicht um sie gekümmert. Sie sollte glauben, sie müsste in dem stockfinsteren, übelriechenden Loch verhungern, verdursten, verfaulen wie eine kranke Ratte. Und schließlich war sie ja auch nichts anderes: eine widerwärtige, ekelerregende Ratte.
Sie hatte auch schnell gemerkt, dass ihr Rufen und Schreien zu nichts führten. Spät in der Nacht war er dann zu ihr zurückgegangen. Sie hatte ihn angefleht, sich vor ihm erniedrigt und sogar eingewilligt, Dinge zu tun, die nur ein Mann von einer Frau verlangen konnte.
Als sie danach weinend auf der Campingliege lag, quälte er sie weiter, mit Worten. Er beschrieb ihr genüsslich, wie er ihren kleinen Hund fangen und zu Tode foltern würde. Er sprach auch ausführlich darüber, wie er ihre Tochter vergewaltigen und anschließend töten würde. Und er kündigte ihr an, dass sie am Ende ebenfalls sterben würde. Aber er hatte ihr nicht gesagt, wie.
Die Klasse lachte laut auf. Guido schrak hoch. Er hatte fast vergessen, wo er war. Er wusste nicht, worum es ging, aber bleckte automatisch seine gesunden, kräftigen Zähne.
Er dachte daran, wie sie zunächst versucht hatte, mit ihm zu sprechen, ihn zu überreden, zu überzeugen. Sie hatte ihm auch ihre Hilfe angeboten, ihm sogar eine gute Note versprochen, aber er war hart geblieben und hatte sie nur ausgelacht. Als er sie schließlich wieder in der Dunkelheit allein zurückließ, war es endgültig um ihre Fassung geschehen. "Du bist ein Scheusal!", hatte sie ihm hysterisch hinterhergeschrieen. "Ein Nichts und ein Niemand! Eine Null! Das bist du!"
"Ein Nichts und ein Niemand!" So klang es ihm immer noch in den Ohren.
Beinahe hätte er es da schon getan. Aber er konnte sich im letzten Augenblick noch beherrschen.
Er ließ sie noch ein paar Stunden länger schmoren. Dann ging er zu ihr zurück mit dem langen, scharf blitzenden Messer. Endlich hatte sie nichts mehr sagen können. Mit fahrigen Bewegungen hatte er die Luft durchschnitten und sich geweidet an den verängstigten Blicken, mit denen sie die Klinge verfolgte. Nach endlos langer Zeit hatte er schließlich mit voller Wucht zugestoßen, ihr das Messer in den Leib gerammt, so dass ihr Leben wie ein leiser Lufthauch daraus entwich. Das war's. Die Ratte war tot. Sie hatte es nicht anders verdient.
Wie durch eine Wattewand hörte er das Schellen. Sollte er erst noch einmal nach Hause gehen, um sein Werk zu bestaunen?
Langsam packte er seine Sachen ein. Der Klassenraum hatte sich schon geleert. Nur der Lehrer stand noch am Pult. "Guido", sagte er plötzlich in seine Gedanken hinein. "Langsam wird es eng für Sie."
Guido merkte, wie sich in geradezu unheimlicher Geschwindigkeit Wut in ihm aufstaute. Er räusperte sich heiser.
"Ich sehe im Augenblick kaum eine andere Möglichkeit als Ihnen eine Fünf zu geben", brannte sich die Stimme des Lehrers in ihn hinein. Sofort sah Guido wieder die feurigen konzentrischen Kreise, die sich so rasend schnell vor seinen Augen drehten. Mit einer heftigen Bewegung warf er dem Lehrer seine schwere Schultasche auf die Füße. "Dann tun Sie's doch!", schrie er mit sich überschlagender Stimme. "Geben Sie mir doch eine Fünf! Ich werfe mein Zeugnis sowieso immer sofort in den Mülleimer!"
"Sind Sie verrückt geworden?", fuhr der Lehrer ihn an. "Heben Sie augenblicklich Ihre Tasche auf und verschwinden Sie!"
Aus Guidos Augen quollen Hasstränen, als er sich vor ihm bückte. Die Tür warf er so heftig hinter sich zu, dass sie erzitterte. Undeutlich sah er wieder das blutgetränkte weiße Hemd vor sich, den zuckenden Herzmuskel. Aber das lange Messer lag ja noch zu Hause in dem Kellerraum.
Im Gang überholte ihn der Lehrer, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Guido bohrte seinen Hass wie einen Speer in seinen Rücken. Wie gerne hätte er jetzt das große Gewehr bei sich! Aber das hatten die Eltern zur Jagd mitgenommen.
Aber da war ja noch der Revolver tief unten in seinem Rucksack - zu spät! Die Tür des Lehrerzimmers hatte sich bereits hinter dem Lehrer, dieser Kakerlake, geschlossen.
Wie von selbst lenkten sich Guidos Schritte in den Toilettenraum. Vor den entsetzten Augen aller zog er seinen Revolver und zielte. Hin und her rannte das Ungeziefer. Angstschreie hallten wider. Zunächst schoss Guido in alle Spiegel. Die bleichen Gesichter seiner Mitschüler zersplitterten. Der ganze Boden war mit scharfen Scherben übersät.
Dann schob sich Guido den Lauf des Revolvers in den Mund und drückte ab.
In einem Kellerraum im Haus seiner Eltern fand die Polizei später eine aufblasbare Plastikpuppe in Lebensgröße. Die Luft war daraus entwichen. Das Messer, mit dem ihr Leib zerschnitten wurde, lag neben ihr auf dem Boden.

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Der andere Schüler war auch nur ein Nichts und ein Niemand. Eine Null unter vielen Nullen. Er fühlte sich von solch einer Geschichte unmittelbar angesprochen und beschloss, seine Wutträume endlich in die Tat umzusetzen. Aber er würde es vollenden. Wirklich zu Ende bringen. Fehler würde er dabei nicht machen. Ganz sicher nicht!

 

Liebe Kristin!
Schön, wieder eine Kritik von dir zu lesen!
Eine Sache hast du anders verstanden als ich sie gemeint habe: in der Toilette schießt Guido nicht wirklich auf seine Mitschüler, sondern nur auf ihre Spiegelbilder. Das passt meines Erachtens besser, weil er ja auch die Lehrerin nicht wirklich umgebracht hat.
Was Guido betrifft, so wollte ich eine zwiespältige Figur zeigen. Er ist schwach und stark, ist hässlich und auch wieder nicht. Man weiß nicht, wie man zu ihm stehen soll.
Ich war mir auch nicht sicher, ob ich den letzten Absatz weglassen sollte oder nicht. Ich wollte damit noch zusätzlich ausdrücken, dass die vielen Texte dieser Art (die du ja auch angesprochen hast) auch Gefahren in sich bergen. Aber ich habe mich auch gefragt, ob dieser Nachtrag nicht eher störend wirkt. Aber das ist ja das Schöne an Kurzgeschichten.de: wenn man Glück hat, erfährt man, was andere denken.
Noch viel Spaß an den letzten beiden Schultagen und eine schöne Abifeier wünscht dir
Eva (Jakobe)

 

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