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Nur ein Mensch
Wie jeden Morgen klingelte der Wecker um sechs Uhr dreißig. Wie jeden Morgen schlug Jim mit all seiner Kraft auf den viel zu großen Knopf des digitalen Störenfrieds, um das penetrante Piepsen möglichst für immer zu unterbinden. Wie jeden Morgen überlebte das verdammte Ding den Ausbruch seiner Aggressionen und fing gefühlte 10 Millisekunden danach wieder an zu versuchen, Jims Kopf mit hohen, lang gezogenen Tönen zum zerbersten zu bringen. Wie jeden Morgen gab das Teil erst nach dem sechsten Wiederholungsalarm endlich Ruhe und Jim war mal wieder viel zu spät dran. Ihm selbst war das scheiß egal. Er war ja schließlich der gottverdammte Sheriff dieser beschissenen kleinen Stadt am Arsch der Welt, oder, wie er zu sagen pflegte, im Arsch der Welt und die Leute würden wahrscheinlich eher anfangen zu reden, wenn er mal vor zehn Uhr auf der Straße zu sehen war.
Sein Kopf fühlte sich an, als ob er die Nacht zusammen mit einer Bowlingkugel in einer Waschmaschine verbracht hätte, die im Schleudergang an einen fahrenden Zug gekettet worden war. Den Rest hatte der beschissene Wecker besorgt. So ging es ihm immer, wenn er bis spät in die Nacht in der einzigen Kneipe der Stadt das Gesöff getrunken hatte, das sie hier Bier nannten und den beiden Tittenschwingerinnen einen großen Teil seines Monatsgehalts in den fast nicht vorhandenen Slip gesteckt hatte. Ihn konnten heute alle Am Arsch lecken. Er würde den ganzen beschissenen Tag hier in seinem Bett verbringen. Punkt… Arschlöcher…
Na das war ja jetzt wieder klar. Ich hab wieder den Jackpot geknackt...
Als Jim die Augen öffnete war es draußen dunkel. Der Wecker zeigte stumm die Zeit an: 23:31. Mitten in der Nacht. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag verpennt. Was für ein riesen Haufen Scheiße. Er richtete sich abrupt auf und merkte sofort, dass das ein großer Fehler gewesen war. Sein Kreislauf war der Meinung, dass er für die Sünden, die er letzte Nacht begangen hatte, bezahlen musste und so wurde es ihm augenblicklich schwarz vor Augen. Sein Bett begann zu wanken und ihm stieg ein dicker Klumpen Kotze mit Bier-Erdnuss-Geschmack die Speiseröhre hoch, dem er sich auch prompt direkt neben seinem Bett entledigte. Nachdem er ein paar Minuten einfach so da gesessen und sein Bett endlich aufgehört hatte, sich zu bewegen, ging es ihm schon etwas besser. Er wagte es, den linken Fuß über die Bettkante zu schwingen und landete prompt in den halb verdauten Überresten seines Mageninhalts. Lauthals seine Lieblingswörter »gottverdammt« und »Scheiße« ausspuckend, schwang er auch den rechten Fuß über die Bettkante, achtete darauf, ihn neben der stinkenden Lache aufzusetzen und stand langsam auf. Immer noch wankend schlug er den kürzesten Weg ins Bad ein und nahm dort eine kalte, erfrischende Dusche, ohne sich vorher seiner Kleider entledigt zu haben. Das holte er dann unter der Dusche nach. Er trocknete sich ab und vertrieb den pelzigen Geschmack auf seiner Zunge, indem er geschlagene fünf Minuten mit Mundspülung gurgelte. Jetzt ging es ihm wirklich viel besser. Ihm fehlte nur noch was zu Essen und zu Trinken. Im Kühlschrank fand er nur fünf Dosen Bier, drei Packungen seit zwei Monaten abgelaufene Sandwiches und eine Tube Ketchup. Jim fand schnell heraus, dass die Sandwiches nicht mehr essbar waren und dass Ketchup nicht besonders sättigend ist. Das Bier würde er wahrscheinlich ein paar Stunden nicht anrühren. Er beschloss, an die Tankstelle zu fahren. Daneben gab es ein schäbiges Restaurant, in dem man bis zwei Uhr nachts fettige Pommes Frites und lauwarme Burger bekam. Genau das Richtige für den Moment. Um die Kotze würde er sich später kümmern.
Aha, aha... Oh ja, da tut sich ja doch was. So sieht das also aus.
Ui, das ist jetzt wohl nicht so gut. –
Ah, besser.
Nachdem Jim sich angezogen hatte – Jeans, Pullover und eine versiffte New York Yankees Baseball Cap – trat er aus seinem Haus in die angenehm kühle Nacht hinaus. Sein Streifenwagen stand direkt vor dem Haus. Er stieg ein, startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer an und fuhr langsam die einzige Straße des kleinen Kaffs entlang, an deren Ende sich der American Burger befand, sein augenblickliches Paradies. Sein Magen meldete sich des Öfteren und schien das Motorengeräusch seines Ford zu übertönen. Ansonsten war alles ruhig. Etwas zu ruhig nach Jims Geschmack. Normalerweise sah man zu dieser Zeit mindestens ein betrunkenes Arschloch, Arm in Arm mit einer Nutte, die in dieser Nacht ein gutes Geschäft machen würde, ohne dafür auch nur einmal die Beine breit machen zu müssen, bestenfalls auf dem Bürgersteig und ansonsten mitten auf der Straße, herumtorkeln. Am nächsten Morgen stand dieses Arschloch dann bei Jim im Büro und würde die Nutte anzeigen wollen, die ihn um sein sauer verdientes Geld gebracht hat. Kein Arschloch war zu sehen und auch sonst niemand. In vereinzelten Fenstern brannte noch Licht, aber in den Räumen dahinter ließen sich keine Bewegungen ausmachen. Sogar in der Kneipe, in der er sich noch gestern den Rausch seines Lebens angesoffen hatte, schien nichts los zu sein, sofern er das im Vorbeifahren beurteilen konnte. Wahrscheinlich einfach ein ruhiger Tag. Warum dachte er darüber überhaupt nach? Sein einziges Ziel für heute Nacht war ein lauwarmer Burger, fettige Pommes und eine große Pepsi on the rocks. Darauf kam es an. Der gottverdammte Rest war doch scheiß egal.
Was jetzt? Ach so, kenn ich schon.
Wenige Minuten später passierte er die Einfahrt der Tankstelle. Der einzige Weg den American Burger zu erreichen, führte an der Tankstelle vorbei. Auch hier war alles ruhig. In der Tankstelle brannte Licht, aber es war weder eine Verkäuferin an der Kasse noch ein Kunde im Raum davor zu sehen. An einer Zapfsäule stand ein Truck, der Zapfhahn steckte noch im Tank. Wahrscheinlich vögelte der Trucker gerade irgendwo im Hinterzimmer die junge Verkäuferin, die sich mit dem Job in der Tankstelle ihren Kontostand aufbessern wollte. Im Normalfall geschah dies mit Einverständnis der jungen Frau. Jim vermutete, dass dieses Einverständnis in den meisten Fällen entweder erkauft oder erzwungen war. Das kümmerte ihn aber nicht besonders. Einverständnis war Einverständnis und Ärger mit den Truckern wollte und konnte er sich nicht leisten. Trotzdem könnte der alte Bob in seiner Tankstelle endlich mal eins dieser modernen Sicherheitssysteme installieren. Hier gab es ja noch nicht mal Kameras.
Jim parkte die alte Rostlaube auf einem der Parkplätze vor dem Fastfood-Restaurant und stellte den Motor ab. Die Glasfront des American Burger erstrahlte in gelblichem Licht aber dahinter war wiederum nichts los. Kein Mensch genehmigte sich noch einen kleinen Mitternachtssnack, kein Zigarettenrauch stieg aus randvollen Aschenbechern auf und die beiden Spielautomaten blinkten traurig vor sich hin, in Erwartung, dass sie jemand mit Geld fütterte. Das kam Jim dann doch langsam alles verdammt komisch vor. Er schnappte sich seine doppelläufige Schrotflinte, öffnete die Fahrertür und trat hinaus in die angenehm kühle Nachtluft. Die Waffe locker in der rechten Hand, drehte er sich langsam einmal um die eigene Achse und schaute sich um. Nichts, nur der Wind, der sanft um seine Ohren strich! Die gottverdammten Hurensöhne hatten ihn alle alleine gelassen, sind irgendwohin abgehauen, ohne ihm auch nur ein Wörtchen davon zu sagen. Dann machte sich auch noch sein Magen lautstark bemerkbar. In der Stille klang es wie Donnergrollen. Fluchend nahm er die Schrotflinte in beide Hände und stapfte die drei Stufen zur Eingangstür des American Burger hinauf.
Wo sind denn alle? Bin ich so spät dran? –
Und wenn ich hier... Aha.
Drinnen war es heiß und es roch nach verbranntem Fett. In der Küche stieg über den Bratflächen und den darauf brutzelnden Burgern dichter Qualm auf, den die Abzugshauben gierig einsaugten. Alles war hell erleuchtet und auf einigen Tischen lagen Essensreste und Verpackungen auf Plastiktabletts. Es schien, als ob die Leute plötzlich alles stehen und liegen gelassen und die Stadt verlassen hatten. Auf dem Boden zwischen den beiden Tischreihen lagen ein Bestellzettelblock und ein Kugelschreiber, die die Bedienung an dieser Stelle einfach fallen lassen haben musste. Auf dem Tresen, der sich fast über die gesamte Breite des Fastfood-Restaurants erstreckte, standen einige Kaffeetassen und halb leere Biergläser.
Jim schnappte sich einen Donut aus dem Plexiglaskasten auf der Bar, stopfte ihn ganz in den Mund und ging kauend in die Küche. Nachdem er seine Schrotflinte auf einer Arbeitsfläche abgelegt hatte, bemächtigte er sich zweier roher Burger aus dem Kühlschrank und zweier pappiger, bereits aufgeschnittener Brötchen aus einer Kiste, die daneben stand. Alles zusammen legte er auf eine noch saubere Bratfläche und schaltete dann alle anderen elektrischen Geräte ab.
Oha, da kommt was. Igitt, wie eklig.
Ein paar Minuten später waren die Burger fertig. Er schob sie zwischen die Brötchenhälften, packte sie auf einen Teller, zapfte sich eine Pepsi mit Eis und setzte sich an einen mehr oder weniger sauberen Tisch, um sich im nächsten Moment über sein Mahl herzumachen. Als er die letzten Bissen mit einem großen Schluck Pepsi hinuntergespült hatte, fühlte er sich deutlich besser. Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen und sein Magen war fürs erste besänftigt. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, fuhr sich mit beiden Händen über den beachtlichen Bauch und ließ einen Furz, der die Glasfront des American Burger erbeben ließ. Wie zur Bestätigung einer soeben getroffenen Aussage folgte darauf der Rülpser des Jahrhunderts. Zufrieden machte er es sich bequem – so gut das auf dem harten Plastikstuhl möglich war – und schloss für ein paar Sekunden die Augen.
Und noch mehr. Das ist wirklich nicht schön. –
Oh ja, sehr interessant. Das kann ich aber sicher besser. Einmal hier und einmal da… Hehe. –
Und wenn ich...
Sein linkes Augenlied fing plötzlich an zu zucken. Das hatte er manchmal. Nichts Außergewöhnliches. Hörte auch immer schnell wieder auf.
Und jetzt?
Ein Pfeifen im Ohr.
Was ist das denn da überhaupt?
Seine Hand fiel von seinem Bauch. Er musste eingedöst sein.
Aufwachen! Wie spät war es? Mist, Uhr zu Hause vergessen. Immer noch dunkel draußen. Wo sind denn alle... Ach so ja, da war ja was. Na dann… Aufstehen, ächz – Aua! Verdammter Tisch! Mein Knie! Ups, bloß nicht noch auf die Fresse legen. Schmeiß weg, lass liegen, leg dich dazu. Hehe. Olé olé. Mal die Knarre... Hey, was‘n jetzt? Bein eingeschlafen oder was? Tut aber verdammt weh, scheiße weh... Umpf, na toll, da liegt er dann doch. Arrrgh, tut das weh!
»Na los Kleiner, du bist spät dran.«
Was war das? Jetzt hör‘ ich auch noch Stimmen oder was? Komische Sprache. Noch nie gehört. Na wenigstens tut’s nich‘ mehr weh.
»Hallo? Is‘ da jemand?«
»Jaja, hat sich ne Zeit lang fast nichts geregt.«
»Hast du wenigstens ein bisschen experimentiert?«
»Na klar, war echt sehr aufschlussreich.«
»Komm schon, bring ihn mit hoch. Dann kannst du ihn noch sezieren und das war‘s dann für heute. Die anderen sind schon lange fertig.«
»Was zum...«
Das Letzte, das ein Beobachter von Jim gesehen hätte, war ein greller Lichtblitz.