Nur ein einziger Sommer
Ein einziger Sommer... Ein Sommer voller Freude, voller Freiheit und Fröhlichkeit... Ein Sommer voller Liebe, voller Leben und Leidenschaft...
Ein einziger Sommer nur...
Ist es schon so lange her, daß wir uns begegneten, auf der Straße, am letzten naßkalten Tag dieses Jahres? Ist es schon so lange her, daß wir uns verliebten, auf der Straße, unter dem großen, schwarzen Regenschirm, der zum letzten Mal vor dem Sommer aufgespannt wurde? Ist es schon so lange her, daß ich glaube, einen schwarzweiß-Film zu sehen, wenn ich daran zurückdenke?
Ein einziger Sommer nur...
Es ist noch nicht so lange her, da saßen wir noch gemeinsam am Strand, sahen den Möwen zu, die ihre Kreise über dem Meer zogen, sahen den Kindern zu, die im Sand ihre Burgen bauten, sahen den Wellen zu, die an die Steine im Wasser schlugen... Es ist noch nicht so lange her, da jagten wir noch über die Felder, jagten uns, das Leben, die Zukunft und die Vergangenheit, jagten das Glück und fingen es, während wir uns ins Gras fallen ließen und den Himmel beobachteten...
Ein einziger Sommer nur...
Manchmal schließe ich die Augen und rieche das salzige Meer, sehe den blauen Himmel, höre die kreischenden Möwen, fühle den warmen Sand und spüre deine Nähe. Manchmal schließe ich die Augen und rieche das frisch gemähte Gras, sehe die grünen Bäume, höre die zirpenden Grillen, fühle die Wärme der Sonne und spüre deine Nähe. Manchmal schließe ich die Augen und rieche etwas ganz anderes... nicht Leben... nicht Glück... sehe etwas ganz anderes... nicht Freude... nicht Liebe... höre etwas ganz anderes... nicht Frieden... nicht Zukunft... fühle etwas ganz anderes... nicht Freiheit... nicht Seligkeit... spüre etwas ganz anderes... nicht Nähe... nicht Wärme... Kälte... Stille... Beklommenheit...
Ein einziger Sommer nur...
Und immer bleibt die Frage nach dem “warum”...
Immer...
Nur ein einziger Sommer
Wenn ich an die Zeit mit dir zurückdenke, erscheint sie mir manchmal wie ein einziger Traum. Ein Traum, der begann, als der Winter ging, und der endete, als der Sommer verschwand. Für mich gibt es keinen Frühling und keinen Herbst mehr; Zwischenstufen existieren nicht. Schwarz oder weiß, Sommer oder Winter...
Es war ein Regentag, als wir uns trafen, der letzte Tag im April. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen, der Regen tropfte dir von dem Hut, den du trugst, liefst du durch die Straßen, als gelte es, dein Leben zu retten. Ich hatte meinen schwarzen Regenschirm aufgespannt und blickte von Zeit zu Zeit auf, um sicher zu gehen, daß ich das Café, in dem ich ab diesem Tag arbeiten sollte, nicht verpassen würde. Ansonsten aber blickte ich immer auf den Boden, auf die Regenpfützen, auf die Kreise, die sich bildeten, wenn die Regentropfen aufschlugen, und die so abrupt verschwanden, wenn mein Schirm die Pfützen abdeckte.
Mein Blick war nach unten gerichtet, und deiner hing in deinem Mantel, um dein Gesicht vor dem Regen zu schützen, als wir zusammenstießen und beide auf den nassen Boden stürzten. Mein grauer Mantel war sofort durchnäßt, und mein erster Gedanke war nur, dich fertig zu machen, dich zu beschimpfen. Auch du fingst an, loszubrüllen, und so saßen wir erst einmal eine Weile auf der Straße und schrieen uns an.
Irgendwann erhobst du dich und hieltest mir die Hand hin. “Stehen Sie erst einmal auf”, sagtest du. “Dann macht das Schreien mehr Spaß.”
Völlig verblüfft ergriff ich deine Hand und ließ mich von dir auf die Füße ziehen. Meine Wut war schlagartig verpufft. Ich konnte nicht mehr schimpfen. Ich murmelte ein Dankeschön und wollte eigentlich an dir vorbei gehen und meinen Weg fortsetzen. Doch in dem Moment nahmst du deinen Hut ab, um ihn auszuschütteln und wieder richtig aufzusetzen, und sahst mich mit deinen klaren, grünen Augen an. Dein schwarzes Haar klebte unordentlich an deinem Kopf, der ein so wunderschönes, scharfes und doch weiches Gesicht besaß, und von deiner Nase hingen mehrere Regentropfen herab. Ich muß dich mit offenem Mund angestarrt haben, denn du lächeltest freundlich, legtest die Hand unter mein Kinn und klapptest meinen Mund wieder zu, mit den Worten: “Es zieht.”
Erst in diesem Moment fiel mir auf, wie warm und liebevoll deine Stimme war, und ich wollte nur noch eines: dich näher kennenlernen.
Du wolltest weitergehen und hattest bereits “Auf Wiedersehen” gesagt, als ich dich am Ärmel festhielt. Du drehtest dich um und sahst mich verwundert an. Dein brauner Ledermantel stand vorne ein wenig offen, so daß ich dein schwarzes Hemd sehen konnte, welches unglaublich gut zu deiner dunkelgrauen, von Wasserflecken übersäten Hose paßte.
“Entschuldigen Sie”, stotterte ich, “dürfte ich Sie wohl auf eine Tasse Kaffee einladen? Ich kenne da ein gutes Café, hier in der Nähe... glaube ich...” Ich hatte doch keine Ahnung, wo ich genau war, war ich doch gerade erst in diese Stadt gezogen!
Du lächeltest wieder. “Wenn es nicht zu lange dauert... wo liegt es denn?” fragtest du, und in deinem Tonfall erkannte ich, daß du sehr genau wußtest, daß es nicht hier war, sondern in einem völlig anderen Stadtteil lag.
Ich nannte dir die Straße, und dein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Du erklärtest mir, daß ich hier falsch sei. Es hätte dich auch sehr gewundert, fügtest du hinzu, wenn hier in dieser Gegend ein Café gewesen wäre. Das Rotlichtmilieu sei nicht sehr bekannt dafür.
Meine Frage, was du dann hier machen würdest, habe ich immer für mich behalten.
Wir gingen gemeinsam zur nächsten U-Bahnhaltestelle. Du fragtest mich nach meinem Namen und sagtest, deiner sei Trevor. Als wir in der U-Bahn saßen, konnte ich dich zum ersten Mal bei einigermaßen guten Lichtverhältnissen sehen. Ich hatte mich nicht getäuscht; deine grünen Augen waren wie die einer Katze, und dein relativ blasses Gesicht ergab einen Kontrast zu deinen wirklich lackschwarzen Haaren, ein Kontrast, den ich nie müde wurde zu ergründen.
Tatsächlich fanden wir das Café, das ich gesucht hatte. Ich meldete mich nicht bei der Chefin; an dem Tag wollte ich dort noch nicht arbeiten. Ich würde ihr erzählen, ich sei krank gewesen, nahm ich mir vor. Erst wollte ich dich kennenlernen.
Bei einer Tasse Cappuccino tauten meine beinahe gefühllosen Finger endlich wieder auf. Dabei entdeckte ich, daß deine Hände unglaublich zart waren, fast zu klein für deinen großen, schlanken und dennoch starken Körper. Ja, ich glaube wirklich, daß es Liebe auf den ersten Blick war, ein Blick, der zunächst ins Leere zu gehen schien, als du dich verabschieden wolltest.
Doch wir blieben beide stehen, vor dem Café, unter meinem Regenschirm und sahen uns einfach an. Du sagtest meinen Namen; noch nie zuvor hatte jemand meinen Namen so ausgesprochen, wie du es tatst, zärtlich und liebevoll, so warm, wie es einem Menschen nur möglich war. Da wußte ich, daß dies der schönste Tag in meinem Leben werden konnte, wenn ich jetzt nur nicht aufgab.
Ein vorbeirauschender Wagen fuhr mitten durch einige riesige Pfütze. Die entstehende Springflutwelle ließ mich erschreckt zurückspringen, direkt in deine offenen Arme. Zunächst lachten wir beide, dann wurdest du sehr ernst und sahst mich an.
“Viola”, sagtest du. “Haben Sie je das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen, wenn Sie nicht sofort dem folgen, was Ihr Herz Ihnen sagt?”
Ich nickte stumm, und meine Hände krampften sich ohne mein Zutun um das Revers deines Mantels, an dem ich mich festgehalten hatte. Du lächeltest und löstest meine Hände vorsichtig.
“Es wäre schade um die zarten Finger”, sagtest du und hieltest meine Hände fest. “Sehr schade sogar.”
Ich sah auf deine Hände, die meine umschlossen, sah auf, in deine wunderschönen Augen, und bevor ich etwas erwidern konnte, begegneten sich unsere Lippen, ohne daß wir hätten später sagen können, von wem es ausgegangen war.
Es war der letzte regnerische Tag in diesem Winter; der nächste Tag war der Beginn eines langen Sommers; eines Sommers, der lang, aber nicht lang genug war.
Es verging wohl kaum ein Tag im Mai und Juni, an dem wir uns nicht getroffen hätten. Zu jung war unsere Liebe, um eine Trennung zu ermöglichen, zu leicht und unbeschwert, um an schlechte Tage, an Winter, an Kälte zu denken. Jeder, der uns sah, mußte uns für glücklich halten; und waren wir das nicht auch?
Anfang Juli konnte ich eine Woche Urlaub von meiner Chefin erbitten; wir fuhren an die Nordsee nach Holland. Ein kleines Strandhaus, Nahrung für ein paar Tage, zwei Hollandräder und unser kleines Glück genügten völlig, um diesen Urlaub zu dem schönsten zu machen, den ich je verbracht hatte. Tag für Tag gingen wir ans Meer, sonnten uns, gingen schwimmen, rannten quer über den Strand, ohne auf andere zu achten, denn für uns gab es ja nur uns, uns beide, mich und dich, vielleicht noch das Meer, den Himmel und das Leben.
Manchmal wanderten wir abends, wenn die Sonne unterging, durch die Dünen und blickten auf das Meer hinaus, das sich langsam im Sonnenuntergang rot färbte, und dann malten wir uns eine gemeinsame Zukunft aus, hier, am Meer, in einem kleinen Haus, nur wir zwei, das Meer, der Himmel und das Leben.
Mitunter kam es vor, daß du mich mit sehr traurigen Augen ansahst, als würdest du nicht an die Zukunft und unser Glück glauben. Doch dieser Eindruck ging schnell vorbei und erschien mir schon Sekunden später wie ein Trugbild meiner Gedanken.
Schweren Herzens nahmen wir damals Abschied vom Meer, aber wir schworen uns, hierhin zurückzukehren, im nächsten Jahr, gemeinsam, und dann barfuß durch den nassen Sand zu wandern, über die Dünen zu hüpfen, geschickt um die Büschel Strandhafer herumzukurven, die einem so ungünstig die Waden aufschnitten, wenn man nicht acht gab. Aber auch zurück in unserer Stadt erwarteten uns schöne Momente. Mitten im Kern des Verkehrslebens lag unser Park, mit unserer Wiese, auf der wir uns viele Nachmittage aufhielten, wenn meine Arbeit es zuließ.
Dort lagen wir dann, sahen hinauf zum Himmel, wo ein paar Wolken die Sonne nur zeitweise verdeckten, hörten abends, wenn es später wurde und die Stadt zur Ruhe kam, die Vögel und die Grillen, und nie, nie dachten wir nur einen Moment an den Winter, der kommen würde.
Immer wieder schworen wir uns unsere Liebe, die uns so unendlich erschien wie das Universum. Nie zuvor hatte ich an Liebe geglaubt, die ewig dauern könnte, nie hätte ich gedacht, daß so etwas existieren könnte.
Wenn es kühler wurde, gingen wir noch lange nicht heim. Wir rückten enger zusammen und dachten zurück an das Meer, an dem wir gesessen hatten und uns Geschichten erzählt, Lieder vorgesungen oder einfach nur geschwiegen hatten, denn wir brauchten keine Worte, um uns unsere Liebe einzugestehen.
Was auch immer geschehen mochte, wir beide waren zusammen und würden uns nie wieder trennen. Kein Winter, kein Unfriede, kein Unglück, Worte wie “Haß” waren uns fremd.
Kein Tag im August, an dem wir nicht zum Baggersee gefahren wären, an dem wir nicht den Enten zugesehen und uns gewünscht hätten, auch frei zu sein vom Streß der Menschheit; und doch waren wir froh, Menschen zu sein, denn nie hätten wir unser Glück so erleben können, wären wir nicht wir selbst gewesen.
Manchmal sahst du mich sehr melancholisch an und fragtest dann, ob ich dich lieben würde. Meine Antwort war immer “ja”. Ich konnte nichts anderes als dich zu lieben, dich, den Mann, der mir wie ein Engel vorkam, der erschienen war, als der Winter endete und der Sommer begann.
Nie fragte ich mich, was mit dem Engel geschehen würde, wenn der Sommer enden und der Winter beginnen würde... vielleicht war ich zu blind und zu dumm, um meine Gedanken weiter auszuführen.
Als der Spätsommer begann und es auf die Zeit zuging, die andere Menschen Herbst nennen, kam es immer öfter vor, daß wir nicht in unseren Park, sondern in das kleine Grüngebiet gingen, das bei dir um die Ecke lag. Zunächst dachte ich mir nichts dabei; wir hatten jeden Monat mit anderen Lieblingsplätzen gestaltet, warum nicht auch den September. Erst viel zu spät erkannte ich, daß du von Tag zu Tag schwächer wurdest, daß sich mit dem schwindenden Sommer auch deine Kraft verlor. Wenn ich es früher bemerkt hätte, wieviel schönes hätten wir noch zusammen erleben können, was uns nun für immer verwehrt bleiben wird!
Dennoch plantest du weiter für unsere Zukunft, obwohl du genau wußtest, daß es diese Zukunft nicht geben würde. Warum du mir nie etwas gesagt hast, wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben; wenn es aus Angst, ich könnte dich deswegen verlassen, geschehen ist, muß ich dich einen Idioten schimpfen, denn nie, nie im Leben hätte ich dich allein gelassen, hätte ich um deine Krankheit gewußt.
Der letzte Tag im Sommer sollte auch dein letzter sein. Wir hatten im kleinen Park gesessen, und nichts war mir anders erschienen als die Tage zuvor. Doch als die Sonne hinter den Bäumen verschwand, nahmst du mich an der Hand und gingst mit mir ein paar Schritte weit, auf einen kleinen Hügel, von dem aus man in alle Himmelsrichtungen blicken konnte, ohne daß der Blick von Häusern eingeschränkt gewesen wäre.
“Weißt du, wo Norden ist?” fragtest du. “Dort, wo die Nordsee liegt, dort liegt unsere Zukunft.” Du deutetest in eine Richtung; damals glaubte ich, es sei Norden. Heute weiß ich, daß es der Westen war, dort, wo die Sonne untergeht. “Wir werden uns dort wiedersehen, wenn ich vorausgehe, und immer werden wir dort zusammen sein.”
Damals sah ich dich an und fragte, ob du eine Geschäftsreise unternehmen müßtest. Du nicktest leicht, sagtest aber kein Wort. Meine Frage, wann du zurückkehren würdest, wolltest du nicht beantworten. Das wäre noch nicht klar, sagtest du.
Du würdest nie wieder zurückkehren, das wußte ich im selben Moment. Doch ich ließ mir nichts anmerken, umarmte dich und sagte, daß du mich doch anrufen würdest. Ja, jeden Abend, sagtest du. Jeden Abend, wenn die Sonne unterginge.
Am nächsten Morgen regnete es in Strömen. Grau war der Himmel, grau war das Gesicht, das mir entgegenblickte, als ich in den Spiegel sah. Als das Telefon klingelte, wußte ich, wer es sein würde, was er mir sagen würde, wußte, was passiert war. Ruhig und gefaßt nahm ich es auf, kleidete mich ohne Hast an und fuhr mit dem Fahrrad zu deiner Wohnung.
Der Krankenwagen stand bereits vor der Tür. Noch immer regnete es; durch den Regen wurde die Bahre mit deinem leblosen Körper getragen. Noch versuchten die Ärzte verzweifelt, dich zu reanimieren, doch ich wußte, daß diese Bemühungen umsonst sein würden.
Ich weinte nicht, keine einzige Träne. Mit unbeweglichem Gesicht sah ich dich an, die schwarzen Haare, die geschlossenen Augen, von denen ich wußte, daß sie katzenhaft grün waren, das Gesicht, scharf und doch weich, die schmalen Lippen, die jetzt so ernst waren, der schlanke Körper, der in den letzten Wochen unmerklich abgemagert war, und die zarten Hände, die Hände, die mich so oft so zärtlich an der Wange berührt hatten, die meine Hände damals so sanft umschlossen hatten, damals, als wir uns unsere Liebe eingestanden im Regen, unter meinem großen, schwarzen Schirm.
Es regnete auch an diesem Tag, an dem du aus deiner Wohnung geholt wurdest, um deine letzte Reise anzutreten, eine Reise in den Westen, wo die Sonne untergeht, und in den Norden, wo das Meer liegt, dessen Schaumkronen dein engelhaftes Gesicht auf ewig krönen werden, wann immer ein Liebender dort steht und seinen Blick über das Wasser schweifen läßt.
Ich fand in deiner Wohnung noch einen Zettel, der keine Anrede oder Unterschrift enthielt. Dennoch erkannte ich deine Handschrift und wußte, daß er für mich bestimmt war. Ich werde ihn nie vergessen, ebensowenig wie ich dich vergessen werde. Ich kann dich nicht vergessen; du bist in meinem Herzen eingebrannt.
Und eines Tages werde auch ich nach Nordwesten reisen.
Zum Meer, über dem die Sonne untergeht.
Frühlingsstürme, Sommerregen,
und der Herbstwind weht und weht.
All mein Bangen, all mein Sehnen,
ach, es ist vom Wind verweht.
Du, mein Glück, gingst mit dem Sommer,
denn nichts ist von Ewigkeit.
-Morgen kann nicht sein wie heute
und ich mach’ mich auf die Suche
nach dem Glück vergang’ner Zeit
(Nina Boos)
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