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Nur ein Bienenstich
Benedikt sitzt mit seinem besten Freund Elias am Holztisch auf der Veranda. Sie schlürfen selbstgemachte Zitronenlimonade und reden über Benedikts Geburtstag. Die kleine Oma jätet ganz in der Nähe Unkraut. Sie hört gerne zu, was ihr Enkel so von sich gibt. Aber neugierig ist sie gar nicht. Kein bisschen, eher um ihn besorgt. Der Junge ist so ein Sensibelchen.
„Wow, und die kommen alle zu deinem Geburtstag?“
Benni hat gerade aufgezählt, wer alles zur Familie gehört. Zwei Omas und zwei Opas, etliche Tanten und Onkel, ihre Kinder und einige Menschen, von denen Benni nicht so genau weiß, wo sie hingehören.
„Na ja, wahrscheinlich nicht alle. Die kleine Oma kennst du ja, die wohnt hier im Haus. Die große Oma, bei der Mathilde und ich immer in den Sommerferien sind, kommt vom Bodensee. Wenn die aufs Gas drückt, schafft sie es mit ihrem BMW in einer Stunde zu uns. Manchmal fährt Opa Ralf auch mit, wenn er Zeit hat. Der ist aber viel auf Reisen. Meistens bleiben sie über Nacht. Opa Heinz fährt abends nach Hause, er hat nicht so weit.“
„Ich hab nur noch einen Opa, den sehe ich ganz selten. Er wohnt in einem Heim in Hannover. Deswegen fahren wir immer an die Nordsee, damit wir ihn besuchen können. Du hast's gut …, zwei Opas und zwei Omas.“
Benedikt pufft seinen Freund in die Seite und zieht geschwind die Einladung zum Kindergeburtstag aus dem Schulranzen.
„He, Digga, eigentlich wollte ich die erst morgen in der Schule verteilen.“
Auf der Vorderseite des blauen Faltblatts ist ein Foto von Benni zu sehen, wie er eine große Kugel nach oben stemmt. Schräg über der Kugel steht in roter Schreibschrift 'Bowling'. Das war seine Idee. Zusammen mit der Mutter hat er dafür einen ganzen Nachmittag am Computer gesessen. Sie ist Expertin für die Fotokalender, die es jedes Jahr zu Weihnachten gibt.
„Denk dran, Eli, am nächsten Samstag. Hier, nimm.“
Elias schaut das Foto an, schluckt ein- oder zweimal, dann liest er den Text innendrin.
„Cooles Programm. Bowling im Fitness-Center. Wie viel hast du denn eingeladen?“
„Acht. Eigentlich sollten es zehn sein. So viel Lebensjahre, so viel Kinder. Aber Papa hat gesagt, mehr als acht halten sie nicht aus. Pech für die Mädchen. Mann, das wird richtig geil! Mama und Papa fahren uns zum Center. Steht alles drin, Zeiten und so. Ach so, kannst du noch aufschreiben, was du nicht essen darfst? Mama will's wissen.“
Elias nickt. Das ist jetzt üblich, dass die Eltern vorsichtshalber nach Allergien und sonstigen gesundheitlichen Einschränkungen fragen. Auch bei Klassenausflügen ist es so. Benedikt hat immer seine Notfallmedizin dabei, sowohl im Schulranzen, als auch in der Sporttasche. Das ist eine kleine Dose mit verschiedenen Tabletten. Bei der kleinen Oma ist auch eine deponiert. Bennis Mutter hat genau aufgeschrieben, in welcher Reihenfolge das Kind sie einnehmen muss und was sonst noch zu tun ist. Benedikt hat eine Erdnussallergie, eine von der gefährlichen Sorte. Kann zu schlimmer Atemnot führen bis hin zu einem anaphylaktischen Schock und muss sofort behandelt werden. Einmal, als er fünf war, wurde er mit Blaulicht in die Kinderklinik gebracht und dort eine ganze Nacht beobachtet. Benedikt macht einen großen Bogen um alles, was mit Nüssen zu tun hat, vor allem unterwegs. Bloß keine Schokoriegel oder unbekannte Süßigkeiten. Da ist er sehr zuverlässig.
Freitags kocht die kleine Oma für die beiden Enkelkinder, weil da die Schule schon um eins aus ist. Sie hebt alle Verpackungen auf, damit der Junge selbst nachlesen kann, ob dieser Satz 'Kann Spuren von … enthalten' irgendwo versteckt ist, auch wenn Benni schon zum zehnten Mal den leckeren Pudding gegessen hat. Deshalb bereitet die kleine Oma fast immer alles frisch zu, da weiß Benni, dass er reinhauen darf. Die kleine Oma ist sehr froh, dass Benni so gewissenhaft ist. Wenn sie einkaufen geht, braucht sie viel mehr Zeit als früher und sie darf ihre Brille nicht vergessen. Es gibt immer viel zu lesen. Und das ist meistens ziemlich kleingedruckt.
Am Sonntag, zum Kaffee um halb vier, sind alle Gäste eingetroffen. Es hat ein großes Hallo, herzliche Umarmungen, Küsschen und Auf-die-Schulterklopfen gegeben. Benedikt strahlt. Die Großeltern vom Bodensee haben ihm das so sehnlichst gewünschte Longboard mitgebracht. Patenonkel Matze hat sich, wie sie mehrmals erklären, auch an dem Geschenk beteiligt. Benni verspricht, sich ordentlich zu bedanken.
„Soll ich gleich anrufen?“
„Nee, lass mal. Den erreichst du jetzt ohnehin nicht. Schreib ihm doch ein Briefchen, da kannst du ihn mal richtig überraschen, wenn er von dir Post im Briefkasten hat.“
Benni schaut ungläubig, meint Opa Ralf das ernst mit dem Schreiben?
Die Geschenke der Eltern hat Benedikt schon ganz früh am Morgen ausgepackt. Es ist wie immer alles zu üppig, denkt die kleine Oma, als sie zum Gratulieren kommt. Sie legt nur einen Briefumschlag auf den Geburtstagstisch. Darin ist ein Gutschein für den Besuch des Planetariums, von dem Benni in der Schule gehört hat. Selbstverständlich gehört dazu noch eine Zugfahrt und die Einkehr in einer Eisdiele. Oma kennt ihren Enkel. Sie erwartet keinen Freudenschrei. Heute steht natürlich das Longboard im Vordergrund, aber demnächst sind Osterferien und sie hört die Kinder schon jetzt über Langeweile klagen. Da kommt ein solcher Ausflug gerade recht.
Opa Franz hat auch einen Brief mit einem Gutschein. Vielleicht mit einem Geldschein? Nein, das lehnt Opa aus Prinzip ab. Benni findet einen Prospekt über Kurse für Kinder in einem Bouldercenter. Opa hat einen angekreuzt.
„Bo...ulder...center ...Opa, was ist das? Ist das so wie kegeln?“
Opa lacht. „Benni, du weißt doch, dass ich gerne in den Alpen klettern gehe. Und Klettern kann man üben, an einer Kletterwand, wie auf deinem Spielplatz, nur in einer großen Halle mit riesigen Wänden und angeseilt. Genau das Richtige für Sportsfreunde wie du und ich."
Opa redet sich in Begeisterung, er möchte, sagt er, zu gerne noch erleben, mit seinem Enkel in den Alpen zu klettern.
„Ist das in dem Center gefährlich?“, will Benni wissen. Seine Augen glitzern. Er hat was übrig für Gefährliches, zum Beispiel schwarze Abfahrten oder Saltos auf dem Trampolin neben der Garage. Ja, das wüssten die Eltern auch gerne. Und ein Kurs, eine ganze Woche lang? Der könnte ja höchstens in den Ferien stattfinden, und die sind meistens ziemlich verplant.
Dieses Geschenk war offensichtlich vorher nicht abgesprochen. Die kleine Oma sieht es an der Miene von Bennis Vater, ihrem Sohn. Sie kennt diesen Gesichtsausdruck. Also, darüber muss unbedingt noch mal in Ruhe geredet werden, aber nicht heute.
Mathilde stellt stolz die Rüblitorte auf den Kaffeetisch. Sie hat beim Backen mitgeholfen und die Torte mit Marzipanrübli verziert. Ihre Mutter schneidet den Gugelhupf an und bittet alle, Platz zu nehmen. Als letzter kommt Opa Heinz an den Tisch. Er hat noch eine Überraschung. Es ist eine Kuchenplatte mit Bienenstich. Er hat sie in der besten Konditorei der Stadt besorgt, weil Vera, seine jetzige Freundin, sie empfohlen hat.
„Ich bin ja nicht so ein Fan von Kuchen“, sagt er und schaufelt sich ein Stück davon auf den Teller, „aber dieser Bienenstich ist sensationell. Benni, den musst du unbedingt probieren.“
Benni will aber lieber Rübchentorte. Zwar sieht der Bienenstich verführerisch aus mit seiner üppigen Füllung aus Vanillepudding und der goldgelb glänzenden Mandelkruste. Aber Benni hält sich an das Gewohnte.
„Das sind Mandelplättchen, die tun dir nichts. Deine Marzipanrübchen sind auch aus Mandeln, und die hast du ja auch gegessen.“ Opa ist ein wenig beleidigt, weil seine beiden Überraschungen nicht so gut angekommen sind. Benni bleibt störrisch. Er will keinen Bienenstich, auch nicht probieren. Dem Blick vom Opa weicht er aus. So kennt Opa Heinz seinen Enkel gar nicht, meistens sind sie prima Kameraden, spielen Tischtennis zusammen und messen ihre Kräfte beim Fingerhakeln. Benni bewundert Opa Heinz.
Inzwischen sind unter den Gästen hitzige Diskussionen ausgebrochen über Allergien im Allgemeinen und Besonderen. Sechs Meinungen prallen aufeinander, von sechs höchst kompetenten Leuten, die sich alle hervorragend auskennen. Sie stecken mittendrin in einer Grundsatzdebatte über das Gesundheitswesen, Wirtschaftsinteressen und Politik. Den Gugelhupf nehmen sie samt einer Flasche Gutedel mit auf die Terrasse, um die Nachmittagssonne zu genießen und um die Gemüter abzukühlen. Die kleine Oma ist heute eher zurückhaltend. Sie findet es nicht gut, dass ihr Exmann den Jungen so bedrängt hat. Bei Gelegenheit wird sie ihn darauf ansprechen.
Benni hat zwei Stück von der Rüblitorte gegessen. Jetzt schaut er sich den Bienenstich genauer an, kratzt mit einer Kuchengabel ein wenig am Pudding herum. Er will den Opa ja nicht kränken. Und es stimmt, mit Mandeln hat er noch nie Schwierigkeiten gehabt. Schließlich sticht er sich eine Ecke ab. Schmeckt wirklich lecker, besonders die Kruste aus Mandelblättchen. Nur noch ein winziges Stückchen, obwohl er ziemlich satt ist. Müde ist er auch. Er legt sich auf die Couch, weil ihm die Dispute der Erwachsenen in den Ohren dröhnen. Warum hören sie nicht auf zu streiten? Er hat ja probiert, dem Opa zuliebe.
Seine Mutter merkt zuerst, dass etwas nicht stimmt. Benni atmet schwer, auf seiner Stirn glitzern kleine Perlen. Er will etwas sagen, aber er bringt keinen Ton heraus. Sie reagiert blitzschnell: eine Tablette Cetirizin zum Lutschen, dann zwei Tabletten Decortin, dann heißt es warten. Die kleine Oma ist froh, dass ihre Schwiegertochter ganz ruhig bleibt. Sie ist ja auch vom Fach als Apothekerin.
Nach einer halben Stunde kann Benni wieder leichter atmen, aber er bleibt ungewöhnlich apathisch auf der Couch liegen, möchte mit niemandem reden, schon gar nicht irgendetwas spielen.
Schließlich packen die Eltern Benni doch ins Auto und fahren zur Notfallklinik. Eigentlich ist ja alles überstanden, aber man kann nicht wissen.
Zurück bleiben die betretenen Großeltern und Mathilda. Die sucht abwechselnd Trost bei den beiden Omis, braucht ganz viel Kuscheleinheiten. Alle sind ratlos, niemand hat eine plausible Erklärung.
„Die Rüblitorte kann es auf keinen Fall gewesen sein. Die gibt es jedes Jahr an den Geburtstagen.“
„Vielleicht ist eine Erkältung im Anzug, gestern kam er ziemlich verschwitzt vom Fußballplatz.“
„Wahrscheinlich hat er sich den Magen verdorben. Soll ja vorkommen an Geburtstagen.“
„Und wenn es doch der Bienenstich war?“
„Blödsinn. Er hat ja gar nichts davon gegessen.“
Da meldet sich Mathilda. „Doch, Omi, ich hab's gesehen. Nur ein ganz kleines Stückchen. Ihr wart draußen im Garten.“
„Was, und das sagst du erst jetzt? Verdammter Bienenstich!“ Opa Heinz ist ganz außer sich. „Ich ruf in der Konditorei an. Die sollen mir das erklären.“ Er rennt mit seinem Handy vor die Tür. Als er wieder hereinkommt, kann die kleine Oma, die ihren Ex gut kennt, sehen, dass er schwer angeschlagen ist.
„Die verarbeiten dort Erdnussplättchen. Sehen genau so aus und kosten viel weniger. Das sei in der Branche üblich. Eine Kennzeichnungspflicht gäbe es nur bei abgepackter Ware.“ Er knallt sein Handy auf den Tisch. "Eiskalt und scheißfreundlich waren die. Noch nie hätten sie Beanstandungen gehabt.“
Niemand hat mehr Lust zu diskutieren. Die beiden Omas räumen die Küche auf. Opa Ralf beschäftigt sich mit seinem Smartphone. Mathilda will Opa Heinz trösten und schleppt ein paar Bücher an zum Vorlesen. Er geht darauf ein, aber öfter bleibt ihm die Stimme weg.
Gott sei Dank sehen sie eine Stunde später Benni aus dem Auto steigen. Alles gut, signalisiert der Vater. Benni winkt kurz und verschwindet sofort in seinem Zimmer. An diesem Abend lässt er sich nicht mehr blicken. Und auch die Gäste machen sich früh auf den Heimweg.
Eine knappe Woche später, am Samstag, feiert Benni seinen Kindergeburtstag. Es wird ein voller Erfolg. Die Buben können sich beim Bowlen austoben, Benni ist ganz in seinem Element. Fast ein wenig überdreht.
Am Sonntagabend kommt Opa Heinz vorbei, um sich nach Benni zu erkundigen. Er will wissen, ob Benni wieder ein Stück gewachsen ist. Es ist ein Ritual, das mindestens zweimal im Monat stattfindet. Dazu stellen sie sich ganz eng Rücken an Rücken. Benni hofft jedesmal, dass er den Opa bald überholt.
„Du musst die Schuhe ausziehen, Opa,“ sagt Benni, „ sonst bist du im Vorteil.“
Der Opa bückt sich und Benni tänzelt um ihn herum, boxt ihn auf den Rücken, drei-, viermal. „Lass das, Benedikt, ich kann auch zurückboxen.“
„Ich bin aber stärker als du, schau doch“, sagt Benni und trifft den Opa, der sich gerade umdreht, auf die Nase.
Opa Heinz lacht zwar, aber dann packt er den strampelnden Jungen an den Oberarmen, stemmt ihn in die Höhe und lässt ihn zappeln.
„Wer ist jetzt stärker, du Angeber, aber hallo!“
Benni tritt den Opa in den Magen und in den Unterleib, so dass dieser das Kind fallen lassen muss.
"Du bist gemein“, schreit Benni in den höchsten Tönen, „du bist ein Scheißopa. Du hast mir weh getan und gelogen hast du auch. Du hast gesagt, es wären keine Erdnüsse. Du lügst immer und ich geh nicht mit dir zum Klettern. Nie mehr, in meinem ganzen Leben!“ Und rast die Treppe hoch in sein Zimmer. Von dort hört man Poltergeräusche und Schluchzen.
Opa steht wie gelähmt im Zimmer, kreidebleich. Bennis Vater wirft seiner Frau einen fragenden Blick zu. Sie nickt und überlässt ihm die Aufgabe, das Kind zu beruhigen und zu trösten.
„Es ist gut, dass Benni alles aus sich rausgelassen hat“, sagt sie zu ihrem Schwiegervater, „wir haben uns schon gedacht, dass da noch was in ihm rumort. Du darfst es nicht persönlich nehmen.“
„Wie soll ich das nicht persönlich nehmen! Es war ja mein Fehler. Ich hätte ihn vielleicht nicht so unter Druck setzen sollen.“
„Ja, vielleicht, aber mit solchen Situationen müssen wir halt rechnen. Man muss einfach akzeptieren, wenn er was nicht essen will. Er hat ein ganz gutes Gefühl dafür.“
Die kleine Oma glaubt fest, dass sich alles wieder einrenken wird. Es ist durchaus möglich, dass Benni irgendwann von allein auf das Thema zu sprechen kommt, zum Beispiel, wenn sie wieder einmal den Lieblingspudding gekocht hat. Und wenn nicht, findet sie eine ruhige Stunde. Sie hat einen sehr guten Draht zu ihm. Es wäre nicht das erste Mal. Die kleine Oma ist eine unverbesserliche Optimistin.