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Nur der Wind
Ich stehe am Startplatz. Er hat meine Nachricht bekommen. Ich sehe wie er zum Startplatz hochrennt.
Ich werde hier und heute allem ein Ende machen.
Gibt es eine schönere Art zu sterben? Wohl kaum!
Im freien Flug ein oder zwei Stunden sich vom Wind einfach treiben lassen, dann…eine schnelle Steilspirale und voll gegen die Wand! Vielleicht noch mitten in den Bergen, so dass niemand es bemerkt und sie erst nach vielen Wochen – wenn überhaupt – was finden.
Nur für Dich sein. Die Augen schließen und sehen was passiert. Sich einfach dem Rhythmus der Natur hingeben. Nur noch fühlen. Den Wind auf der Haut spüren, den Geräuschen lauschen, die kalte Luft atmen. Leben pur – und in der nächsten Sekunde – aus! Das hab ich ihm geschrieben. Und ein schönes Leben gewünscht.
Jetzt steht er hinter mir am Startplatz inmitten der anderen Gleitschirmflieger. Ich bin bereit, muss nur wenige Schritte machen. Er weiß das, bleibt stehen. Er ruft mich.
Ich sehe nur sein Gesicht, höre nicht was er sagt. Ich hatte nicht vor ihm nochmals gegenüberzustehen. Es schmerzt ihn so leidvoll zu sehen.
Wage ich trotzdem den Schritt? Ich sehe ihn einfach nur lange an, ohne jede Regung.
Als er dann aber einen Schritt auf mich zugeht, laufe ich los. Er versucht mich zu erreichen – zu spät. Der große Schirm kommt schnell hinter mir hoch und mit nur drei großen Schritten bin ich über die Kante und in der Luft!
Ich kann spüren, wie mich mein Schirm sofort trägt und das Gurtzeug am Körper spannt.
Ich sehe immer noch sein Gesicht deutlich vor mir und schließe die Augen, lass mich eine Weile vom Wind treiben, ohne zu wissen wohin.
Ich will ihm und mir das nicht antun. Krankheit, Siechtum, viele quälende Momente wahrscheinlich ohne Aussicht auf eine Zukunft.
Ich höre hinter mir immer wieder meinen Namen und wirres Rufen. „Bitte komm zurück - bitte lande - bitte tu das nicht.“ Aber erst als ich ihn mit den Worten „Bitte tu MIR das nicht an – BITTE“ klar aus dem Gewirr vernehmen kann, trifft er mich mit seiner flehenden Stimme mitten ins Herz. Es tut verdammt weh. Plötzlich kann ich nicht mehr denken, fühle nur Schmerz. Und wanke in meinem Entschluss.
Aber die Angst vor dem Fortgang der Krankheit lähmt mich. Ich KANN nicht zurück. Will ich denn?
Ich drehe unwillkürlich in Richtung Startplatz. Ich sehe ihn. Er ist in die Hocke gegangen und vergräbt sein Gesicht verzweifelt in seinen Händen. Um ihn herum stehen die anderen Flieger stumm in meine Richtung blickend.
Ich möchte ihn so gerne in den Arm nehmen. Ihm sagen, dass alles gut wird. Für ihn. Für mich. Es endet eben nur anders, als wir uns das gewünscht hätten. So ist das Leben. Oft ungerecht und gemein.
Doch dann fühle ich mich auf einmal so leicht wie noch nie. Befreit. Atme tief durch.
Ich drehe in Richtung Berge. Schöne Thermik! Perfekt für einen besonderen Moment.
Will es noch ein wenig genießen. Gleite wie ein Vogel fast lautlos durch die Lüfte. Und so wie die Bergdohlen, die mich begleiten, mit kleinsten Bewegungen ihrer Schwanzfedern die Flugrichtung bestimmen während sie mit gespreizten Flügeln in der Thermik des späten Nachmittag immer weiter nach oben kreisen, so kann ich mit einem leichten Zug an den Steuerleinen meines Schirms eine andere Richtung einschlagen.
Eine andere Richtung einschlagen - wenn das im Leben auch so einfach wäre, dann wäre das Leben einfach.
Aber wenn mir die Natur so ein schönes Geschenk zum Abschied macht, sollte ich es auch annehmen und genießen. Ich kreise wie die Bergdohlen immer höher, bin weit über den Gipfeln. Der gigantische Blick in die weite Landschaft treibt mir dann doch die Tränen in die Augen.
Plötzlich fühle ich Sehnsucht. Die Sehnsucht, den Moment noch Auskosten zu wollen, noch eine Weile sich in diesem Gefühl der unendlichen Freiheit zu verlieren.
Ich spüre wie ein Zweifel hochkommt, ob ich wirklich bereit bin für diesen Schritt. Kann ich die Leinen tief ziehen und dann einfach nur festhalten bis ich angekommen bin? Am Berg. An der Felswand. Auf der anderen Seite. Oder würde ich im letzten Moment doch abbrechen?
Ich lasse meinen Blick wieder in die endlose Weite der Bergkette schweifen, verdränge diesen Gedanken und atme die kalte Luft ein.
Beim Blick in die untergehende Sonne am Horizont, die ihre orangefarbenen Strahlen wie eine Decke über die Landschaft legt, fühle ich, wie mich ein wohliger Schauer durchströmt. Eben so, als ob ich endlich angekommen bin. Und ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit überkommt mich während ich so dahingleite.
Ich muss lächeln und an meinen ersten Höhenflug denken. Soviel Angst alles richtig zu machen, dass ich den Flug nicht genießen konnte. Und als ob ich in einem Buch blättern würde, hab ich plötzlich jeden einzelnen meiner Flüge vor Augen.
Die Gespräche unter den Fliegern vor und nach dem Flug, den ersten Langstreckenflug, der mir bei der Landung mitten in der Prärie minutenlang die Beine zittern ließ, den Beinahe-Absturz nach dem der Adrenalinspiegel tagelang nicht abklingen wollte, die vielen aufregenden Momente am Startplatz, wenn der Schirm nicht so wollte wie ich.
Und dann...am Landeplatz. Wenn man nochmals gen Himmel blickt und noch immer in dem Gefühl der Schwerelosigkeit und grenzenloser Freiheit des Fluges gefangen ist. Wenn die Gewissheit noch lange anhält, dass all die Dingen, die einem am Boden so wichtig erscheinen, dort oben plötzlich absolut bedeutungslos sind.
Und ich denke an jeden gemeinsamen Flug mit ihm. Diese innige Verbundenheit, das Gefühl sich auszutauschen, obwohl man zu weit weg ist, um miteinander sprechen zu können. Er war immer in meiner Nähe - egal wie weit er tatsächlich weg war. Er ist sicher beim Starten, leicht wie ein Vogel in der Luft, perfekt in der Landung. Abenteurer und doch erfahrener und umsichtiger Pilot. Das Bild, wenn er nach einem schönen Flug lächelnd und versonnen am Boden sitzt und seine Augen immer noch glänzen, bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf.
Ich bin sicher schon über eine Stunde in der Luft. Und obwohl es mir nicht bewusst war, bin ich immer höher gestiegen. Irgendetwas hält mich in der Luft, ja treibt mich nach oben anstatt nach unten. Mehr als sonst!? Diese Erkenntnis löst ein seltsames Gefühl in mir aus, dass ich nicht so recht einordnen kann.
Ich drehe wieder in Richtung Berge, die nun fast mahnend vor mir liegen. Die gewaltige Größe und ihr mächtiges Alter wirken auf einmal tadelnd auf mich. Ich komme mir dagegen mit meinen wenigen Lebensjahren so schäbig vor. So unwichtig. Nebensächlich und – undankbar!
Abertausende Jahre alt haben Wind und Wasser tiefe Furchen in jeden dieser majestätischen Berge gezogen. Eiszeit und Hitze zerrten an ihnen und doch – sie sind noch da. Ich bin noch da. Noch. Ich suche an den Felswänden eine geeignete Stelle. Ich muss sicher sein, dass es sofort vorbei ist. Aber die Wahl fällt mir schwer, denn bei dem Gedanken, dass die Medien diesen Berg dann nur noch als den „Selbstmörder-Berg“ bezeichnen werden, wird mir übel.
Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich nichts gegessen, nichts getrunken habe. Ich spüre, wie mich Schwindel erfasst. Bin nicht mehr klar im Kopf, bin müde. Der Wind wird stärker, er treibt mich weg von den Bergen in Richtung Tal. Ich ziehe wieder an den Steuerleinen und versuche eine Kurve. Und wieder treibt mich der Wind so weit, dass ich von den Bergen weggleite. Ich kann kaum noch die Augen offen halten, so sehr peitscht mir jetzt der Wind ins Gesicht.
Ein letztes Mal versuche ich wieder näher an die Felswände zu kommen, aber ich bin zu schwach und der Wind lässt mir keine Chance. Er wird immer stärker und ich sehe dunkle Wolken über den Bergen. Bin zu erschöpft um diesen Kampf gewinnen zu können. Oder will ich ihn am Ende gar nicht mehr gewinnen?
Und als ob mir der Wind antworten will, fährt eine Böe in meinen Schirm und reißt mich ein Stück in die Tiefe und damit ein weiteres Mal in Richtung Tal. Mein Schirm klappt mehrmals komplett zusammen um sich im nächsten Moment wieder zu öffnen, als wäre nichts gewesen. Ich pendle stark hin- und her, hab ihn nicht mehr unter Kontrolle. Es wirkt, als wolle er mich wachrüttelt.
Jetzt bin ich plötzlich hellwach. Mein Herz schlägt bis zum Hals, der Puls rast. Ich treibe schnell weiter Richtung Tal ohne bewusst einzugreifen. Spüre auf einmal in jeder Faser wie das Leben in mir pulsiert. Das intensive Kribbeln auf der Haut lässt mich erzittern. Ich atme zwei, drei Mal tief durch.
Ich verliere sehr schnell an Höhe und habe keine Chance gegen den immer heftiger werdenden Wind. Davon stand nichts im Wetterbericht! Woher kommt diese Wettererscheinung so schnell? Ich habe Mühe, den Schirm bei der Geschwindigkeit unter Kontrolle zu halten.
Es ist, als ob er es eiliger hat von hier wegzukommen, als ich.
Ich blicke ein letztes Mal zurück in die Berge. Sie sind nun hinter mir in einer beruhigenden und sehr friedlichen Art und Weise. Trotz der dunklen Wolken. So als ob sie mir den Rücken stärken wollten. Als ob sie mir bestätigen wollten, dass ich jetzt in die richtige Richtung fliege. Auch der Wind lässt nach und mein Schirm fliegt plötzlich ruhiger.
Mich erfasst ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit – auch wenn ich in diesem Moment nicht sagen kann wofür.
Ich habe wieder sein Gesicht vor mir – wie er lächelt...und dann wie er vorhin beim Start aussah. Wie er verzweifelt am Boden saß. Ich spüre einen heftigen Stich im Herzen und eine fast schmerzhafte Sehnsucht - ich will zu ihm! Jetzt! Mit ihm jeden Moment genießen, der uns bleibt!
Ohne mir wirklich darüber bewusst zu sein, führe ich völlig automatisch die richtigen Handgriffe aus, um die Landung vorzubereiten. Als ich in die Nähe des Landeplatzes komme, sehe ich dort bereits die Bergwacht, Polizei und Rettungswagen umringt von einer großen Menschenmenge.
Als Sie mich bemerken, höre ich, wie sie anfangen zu rufen. Mir wird mulmig. Ich drehe lieber etwas ab, damit ich auf einem Feld weit hinter dem Landeplatz runterkomme.
Mir ist klar, was folgen wird. Unangenehme Fragen nach dem Warum, Vorwürfe, Mitleid. Trotzdem durchströmt mich ein warmes Gefühl der Geborgenheit bei der Menge an Menschen, die offenbar in Sorge um mich sind.
Als ich in einer letzten Drehung zu Boden gleite, sehe ich wie er auf mich zuläuft. Hinter ihm zwei Männer der Bergwacht. Die Polizei verhindert, dass die anderen in unsere Richtung kommen.
Meine Knie zittern als ich den Boden berühre. Ich kann mich nicht auf den Beinen halten und lass mich einfach fallen. Und dennoch fühlt es sich unglaublich gut an, unten zu sein. Noch bevor der Schirm in sich zusammen sinken kann, ist er bei mir. Er schlingt seine Arme so fest um mich, dass mir die Luft wegbleibt. Er küsst mein ganzes Gesicht und flüstert immer wieder „Ich liebe dich doch! Egal was kommt. Ich liebe Dich“.
Ich kann nur lächeln und mich fest an ihn klammern. Ich bin unfähig zu reden. Genieße nur den Moment ohne einen Gedanken an später. Alles was dann kommt, nehme ich nur wie durch einen Wolkenschleier war. Und lasse für viele Stunden seine Hand nicht mehr los.
Wenn ich jetzt – später – danach gefragt werde, was mich davor bewahrt hat, gegen eine Felswand zu fliegen, dann antworte ich:
Nur der Wind !