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Nur der Kleingeist hält Ordnung...

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10.09.2002
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Nur der Kleingeist hält Ordnung...

Henrys Wohnung hat 4 Zimmer –eine Küche, ein Bad mit WC, Badetuch und Shampoo, ein Wohnzimer und ein Schlafzimmer. Es ist eine kleine Küche. Im Kühlschrank liegen 4 Äpfel, 2 Birnen und Butter. In den Schränken 4 Dosen Ravioli, 4 Dosen weisse Bohnen und ein Pfund Brot. Die Boullion füllt den leeren Platz im Gewürzkästchen und seine einzige Pfanne steht leer auf dem Herd.
Im kleinen Wohnzimmer ist eine moderne Stereoanlage aufgebaut, das teuerste Gut, dass sich Henry je geleistet hat, ein grosser Polstersessel und in einem kleinen Gestell an der Wand 4 Bücher und 4 Schallplatten, auf dem kleinen Tisch steht ein sauberer, leerer Teller bereit, sowie eine Gabel ein Messer, ein Löffel und ein Glas.
Das Schlafzimmer ist noch kleiner und beherbergt eine Matratze mit Decke und Kopfkissen ohne Bettbezug. Weder Bilder noch Pflanzen oder sonstige optische Eindrücke sind in seiner Wohnung zu finden, einzig 4 Postkarten liegen auf dem Sessel. Seine Kleider ( 4 weisse Hemden, 12 paar Socken, 12 paar Unterhosen und 4 Hosen) liegen fein säuberlich zusammengelegt unter seinem Bett, neben seinen Schuhen und dem nie angeschlossenen Telefon. Eine Jacke ist er über seinen Sessel im Wohnzimmer gehängt und ein Schirm liegt neben seinem Tagebuch und dem dazugehörigen rot-grünen Kugelschreiber der Wand entlang auf dem Boden neben der Haustüre.
In der Küche an der Wand ist ein Zettel aufgehängt mit Tages- und Menuplan, den Henry jeden Sonntag von neuem aufsetzt.

Henry ist 28 Jahre alt und lebt alleine. Er arbeitet Werktags über in einer Textilfirma als Hauswart, wo er putzt und Lampen ein und ausschraubt. Und mit diesen paar Sätzen ist sein Leben so gut wie auf den Punkt genau beschrieben und in Worte gefasst –so gut wie..

28. April 2000 5.00 Uhr, als Henry, wie jeden Werktag aufwacht. Er liegt Kerzengerade auf dem Bett mit Blick an die weisse Decke gerichtet, als er seine Augen plötzlich öffnet. Einige Sekunden bleibt sein Blick einfach an dieser Stelle heften, dann dreht er seinen Kopf nach links zur linksseitigen, leeren, weissen Wand, daraufhin nach rechts zur rechtsseitigen, leeren, weissen Wand. Nun hebt er seinen Oberkörper an und fährt seine Beine vom Bett auf den Boden, so dass er jetzt gerade auf dem Bett sitzt. Er zieht das Hemd, die Hosen, Socke und Unterhosen aus und wirft sie in eine Ecke, geht nackt ins Badezimmer unter die Dusche und trocknet sich danach ab. Zurück im Schlafzimmer zieht er sich frisch an.
Dann geht er ins Wohnzimmer holt Teller und Glas, geht in die Küche und kommt mit einem Stück Butterbrot und einem Glas Wasser zurück und stellt es auf den kleinen Tisch. Nun legt er die Schallplatte „Peter und der Wolf“ in den Plattenspieler und lässt sie leise laufen. Von dieser Stimmung begleitet macht er sich nun daran zu frühstücken. Als er fertig gegessen hat, bringt er alles in die Küche wäscht es ab, und bringt es dann wieder ins Wohnzimmer und legt alles fein säuberlich auf den kleinen Tisch an seinen Platz. Bis sieben Uhr hört sich Henry in aller Ruhe weiter die Platte an. Danach legt er die Platte wieder zurück ins Regal, holt Schuhe und Jacke, zieht sie an, holt die dreckige Wäsche, die im Schlafzimmer am Boden liegt und geht mit ihr aus dem Haus. Er wirft sie in die im Keller befindliche Abwaschmaschine und lässt sie laufen. Jetzt kann er sich auf den Weg zur Arbeit machen, die Wohnung lässt er wie immer, wenn er das Haus verlässt offen, er schliesst sie nur dann ab ( 4mal), wenn er sich in der Wohnung befindet.
Er läuft den ganzen Weg zur Arbeit zu Fuss und hatt knapp 50 Minuten, um die Arbeit zu erreichen, so dass er um acht Uhr in der Firma ist.
Der Morgen verläuft ohne besondere Vorkommnisse, drei Maschinen in der Werkstatt streiken, die Henry aber mit 2-3 präzisen Handgriffen wieder in Gang setzt und den Rest des Morgens braucht Henry um die Fenster im Haus zu reinigen.
Um 12.00 Uhr ist Mittagspause und alle gehen in die Kantine. Henry nimmt wie immer das Gleiche an der Theke. Erbsen mit Kartoffelstock und ein Stück Braten, einen kleinen grünen (ausschliesslich grünen) Salat und Caramelpudding als Dessert.
Er setzt sich wie jeden Tag an einen der leeren, hinteren Tische.
Henry pflegt keinen Kontakt zu den anderen Mitarbeitern und geht ihnen so gut als möglich aus dem Weg. Nur die etwas ältere Sarah verirrt sich hin und wieder irrtümlich an seinen Tisch Nur manchmal beginnt sie ein kleines Gespräch mit Henry zu führen, wie „Wie geht es ihnen“ oder „Gut geschlafen?“.
Meist hat Henry Sarahs Namen bereits wieder vergessen, wenn sie sich von neuem an seinen Tisch setzt und manchmal erkennt er sie auch erst gar nicht.
An diesem beschriebenen Tag sitzt Sarah bei zwei Männern und drei etwa gleichaltrigen Damen. Für Henry sind diese Leute kaum voneinander auseinander zu halten.
Auch der Nachmittag verläuft weiter ohne jegliche Probleme. Es gibt einen kurzen Stromausfall, aber auch dieses Problem löst Henry sofort und ansonsten beschäftigt er sich an diesem Nachmittag mit dem Reparieren von einem Wasserhahn, einer Toilette und dem Entsorgen eines alten Computers. Um 17.00 Uhr ist dann auch schon Feierabend und er geht wieder zu Fuss nach Hause. Er geht meistens etwa fünf Minuten vor den anderen und erspart sich so jegliches Gedränge.
So steht er um 18.00 Uhr wieder in seiner Wohnung mit den gewaschenen Kleidern im Arm, die er im Keller holte und hängt sie im Wohnzimmer über die Heizung. Nachdem er die Jacke und seine Schuhe wieder ordnungsgemäss weggeräumt hat, schliesst er noch die vier Schlösser der Haustür. Dann holt er sich ein Glas Wasser und einen Apfel und setzt sich damit begleitet von Mozarts 5. Symphonie in seinen Sessel. Auch wenn er keinen besonderen Hunger verspürt, kocht er sich um 19.00 Uhr die auf dem Menuplan aufgeschriebenen Ravioli zum Abendessen. Bis 20 Uhr geniesst er zufrieden sein einfaches Abendessen. Nachdem alles wieder abgewaschen und am richtigen Ort plaziert ist, holt er das Tagebuch vom Boden und setzt sich wieder an den Tisch und schlägt es auf der nächsten leeren Seite auf. Sein Finger tastet nach dem rot-grünen Kugelschreiber, greift aber ins Leere!!!!
Ins Leere????
Wie ins Leere???
Das kann nicht sein!!!!
Wo ist der Kugelschreiber????
Weiterer Versuch –er ist nicht da!!
Nicht an seinem Platz!!!!

Verwirrt steht Henry auf und geht zur Haustüre und sucht nun den Boden nach dem Kuli ab –vergebens. Völlig verzweifelt startet er nun eine Suche im ganzen Haus. Um 22.00 Uhr gibt er sich geschlagen und geht erschöpft zu Bett. Um 23.00 Uhr öffnet er verschwitzt wieder seine Augen und starrt zur Decke hoch. „Wo ist der Kugelschreiber?“.

Der Kugelschreiber war rot-grün und hatte einen kleinen Klebstoffleck, der Länge nach und am Ende einen kleinen, unscheinbaren Riss und er geisterte die ganze Nacht über unentwegt in Henrys Kopf umher. Um sieben Uhr war er noch immer daran seine Wohnung immer wieder von Neuem nach diesem Kugelschreiber zu durchforsten.
Die Arbeit brachte ihm an diesem Tag die nötige und ersehnte Abwechslung und er schaffte es für kurze Zeit nicht an die Frage zu denken, wo er sei, doch kurz vor der Mittagspause, als er gerade nichts zu tun hatte, war die Frage wieder vor seinem geistigen Auge unübersehbar wie festgeheftet.
Er ging zum Münztelefon und rief die Polizei an um einen Diebstahl zu melden, wie er stotternd dem Polizisten angab, der das Gespräch auf der Polizeistelle entgegennahm. Als dieser jedoch hörte, worum es ging, lachte er laut und begann Henry zu beruhigen und meinte, er habe wahrscheinlich den Kuli nur verlegt. Er sprach in einem Ton mit Henry, den Henry an die Grossmütter im Park erinnerte, die er manchmal am Wochenende dort beobachtete, wie sie mit ihren 3jährigen Enkeln sprachen. Doch er hakte nicht nach, beendete anstelle dessen einsichtig und enttäuscht das Gespräch.
Erst als er in der Kantine bereits mit dem vollen Tablett an einem Tisch Platz genommen hatte, bemerkte er, dass er darauf Karotten, Reis und Hühnchen, wie Tomaten-Gurkensalat und aber zumindest Caramelpudding hatte. In diesem Moment erkannte er auch noch zu allem Überfluss die anderen leicht irritierten Gesichter der Leute, zu denen er sich an den Tisch gesetzt hatte, gerade als sich Sarah ihm gegenüber setzte. Sie strahlte ihm mit breitem Lachen ins Gesicht, während Henry deprimiert in dem Essen vor sich herumstocherte.
„Wie geht es ihnen“? Fragte ihn Sarah unbekümmert. „Nicht gut.“ antwortete Henry auf den Teller vor sich starrend.
Hatte er eben „nicht gut“ gesagt? Jedesmal wenn Sarah in nach seinem Wohlbefinden fragte, antwortete er ihr nur in beinahe angeödetem, tristen Ton „Gut“, doch dieses „Nicht gut“ hörte sich wirklich niedergeschlagen an und schockierte Sarah. „Was ist denn los.“ stocherte sie nach. „Mein Kugelschreiber ist verschwunden.“ Und er begann ihr in kurzen Sätzen seine verzweifelte Lage zu schildern ,auf das hin sie zu kichern begann. „Aber das ist doch nicht so schlimm. Sie haben ihn bestimmt nur verlegt, das geschieht mir dauernd, kaufen sie sich einen Neuen.“ Henry sah sie auf einmal mit einem durchdringenden Blick an, der Blick schoss ihr direkt in die Augen und liess einen schrecklich frostigen Schauer über ihren Rücken laufen. „Ich habe noch nie etwas verlegt, in meinem Leben noch nie!“ platzte er verzweifelt heraus. Sarah wusste nicht recht, ob sie nun lachen sollte oder nicht und blieb einfach einen Moment stumm, staunend über Henrys plötzlichen Ausdrücke von Emotion, die ihr bisher fremd geblieben waren, sitzen.
„Und sonst fehlt nichts in ihrer Wohnung?“ meinte sie etwas später in einem neuen Anflug von Interesse. Irgendwie beruhigte Henry diese Frage, denn sie klang ernsthaft anteilnehmend und Henry erklärte ihr, dass ansonsten alles wie immer an seinem alten Platz gewesen sei und entschied sich im selben Moment, da die Lage aussichtslos war, einen neuen Kugelschreiber zu kaufen.

Mit diesem Vorsatz betrat er kurz nach der Arbeit ein kleines Schreibwarengeschäft und sah sich um. Henry betrat nur selten Geschäfte, nur wenn notwendig mal einen Kleiderladen und einmal wöchentlich das kleine Lebensmittelgeschäft um die Ecke, wo er wohnte. Doch nun blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er sein Tagebuch weiterführen wollte. Und er führte schon seit Kindheit an Tagebuch. Es diente ihm vor allem als Kontrolle seines Tages und Wochenablaufs. Jeden Sonntag pflegte er die vergangene Woche mit Hilfe der Tagebucheinträge zu analysieren und wenn nötig Verbesserungen an seinem Tagesaublauf vorzunehmen.
In diesem Geschäft hatte es Bleistifte, Farbstifte, Filzstifte und auch Kugelschreiber in Hülle und Fülle. Henry wusste von Anfang an, dass nur Kugelschreiber in Frage kämen und er hatte entschlossen, dass der Preis keine Rolle spielen würde. Es gab sogar welche in rot-grün, doch es waren trotzdem nicht die Selben wie dieser, den Henry zuvor besass. Manche nahm er in die Hand, um zu sehen wie sie sich in der anfühlten, andere sah er aus den verschiedensten Blickwinkel an und wieder andere schien er kaum zu beachten. Er war so in seine Auswahl vertieft, dass ihm nicht auffiel, wie ihn die Verkäuferin von der Kasse aus misstrauisch beäugte.
Es dauerte einige Zeit bis er sich für einen entschieden hatte. Es war ein schlicht weisser Kuli, mit einem blauen Bügel, mit dem man ihn ans Hemd klemmen konnte.
Henry kam 45 Minuten zu spät, aber doch einigermassen erleichtert und zufrieden an diesem Abend nach Hause, um nach dem Abendessen seine Tagebucheinträge nach zu führen.

30. April 17.15 Uhr und Henry wusste, dass er wieder einmal zu spät nach Hause käme, dass sein ganzer Tagesablauf durcheinander geriete. Doch er musste etwas auf der Post einzahlen, da er sonst Ärger bekäme. Es war eine vielbesuchte Poststelle direkt in der Stadt und Henry war gezwungen lange zu warten, bis er an die Reihe käme. In seiner Hand lag der zerknitterte Einzahlungsschein. Sein Blick fuhr durch den Raum und durch die Menge wartender Menschen.
Es war ein dicht behaarter, muskulöser Arm, an dem Henrys Blick urplötzlich haften blieb. Die Finger der ebenso behaarten Hand waren ziemlich lang und die Fingernägel angekaut. Doch das was Henrys Aufmerksamkeit wirklich auf sich zog, war der Kugelschreiber, mit dem der Mann im kurzen Hawaiihemd und alten Malerhosen irgend einen Zettel unterschrieb. Henry hatte einen glasklaren, ungetrübten Blick, der Messerscharf war und er glaubte, nein er war sich sicher in diesem einen Moment seinen alten, verschwunden geglaubten rot-grünen Kugelschreiber mit dem kleinen Riss am Ende und dem leichten Klebstoffleck der Länge nach wiederzuerkennen.
So trat Henry vorsichtig und unsicher näher an den fremden Mann heran. Um so näher Henry ihm kam, um so mehr erkannte er, wie gross der Fremde, mit den kurzen, schwarzen Haaren und dem schlecht rasierten Gesicht war –bestimmt 1.87. Schlussendlich stand er direkt neben ihm und starrte auf seine Hände und den Kugelschreiber zwischen seinen grossen Fingern.
Der Fremde selbst, sah ihn aus den Augenwinkeln an, ohne seinen Kopf zu drehen. Henry verharrte dort nur einen kurzen Augenblick und trat gleich darauf wieder zurück an seinen alten Platz und war nun absolut davon überzeugt, dass dies jener Kuli war, der aus seiner Wohnung verschwunden ist. Doch wie kam er in Besitz diesen Mannes?
Nachdem der Fremde den ausgefüllten Zettel an Schalter C abgegeben hatte, verliess er mit schnellen Schritten das Postgebäude, Henry vergass seine Einzahlung und folgte ihm auf der Stelle.
Der Mann lief den ganzen Weg über in sehr zügigem Tempo und Henry musste sich sehr ranhalten um ihn in dem Mengengewirr der Strassen nicht aus den Augen zu verlieren.
Ihr Weg endete bei einer Billiardekneipe, in die der Fremde verschwand.
Henry stand auf der gegenüberliegenden Strassenseite vor einem kleinen, doch sehr modernen Kleidergeschäft und dachte darüber nach dem Mann in die Kneipe zu folgen.
Er nahm den Grund, dass es bereits 18 Uhr geworden war als Vorwand, um sich selbst zu überzeugen, dass es nun Zeit wäre nach Hause zu gehen und die Sache auf sich ruhen zu lassen.
Aber auch diese Nacht lag Henry mit offenen Augen und den Blick auf die leere Decke gerichtet wach in seinem Bett. Seine Besessenheit galt nun weniger dem wiedergefundenen Kugelschreiber, als vielmehr dem neuen Besitzer.
Am nächsten Morgen meldete sich Henry zum ersten Mal seiner beruflichen Karriere in der Firma krank und fuhr mit dem Bus wieder zu der Kneipe, von der aus er gestern den Fremden aus den Augen verlor oder verschwinden liess. Und tatsächlich tauchte nach drei Stunden der Fremde wieder dort auf. Er kam von der Strasse hinunter gelaufen und verschwand sofort wieder in der Kneipe.
Mit offenen Augen lag er wieder im Bett und versuchte krampfhaft seine Gedanken von dem Fremden abzulenken, doch sein Neugier entwickelte sich immer weiter zu einer wahren Obsession. Er lief in der Wohnung auf und ab, den Wochenplan hatte er längst vergessen. Er dachte an die Kneipe, haderte mit sich wieder hinzugehen und sie zu betreten, mußte sich aber ein ums ander Mal von seiner Angst vor fremden Orten wie dieser Kneipe geschlagen geben.
Am nächsten Tag stand er wieder vor der Kneipe, in seiner Hand hielt er eine hochmoderne Kamera, durch deren Objektiv er durch die Fenster der Kneipe in den Raum linste.
Sein sonst so kontrollierender Verstand hatte sich längst ausgeklinkt. Zum ersten Mal liess sich Henry von seinem Instinkt leiten.
In den nächsten Tagen mengten sich in seiner Wohnung die Fotos von dem Fremden in der vermeintlichen Kneipe ins Grenzenlose, wie er die Strassen entlang schlendert, sich mit anderen Leuten trifft, wie er eine Tankstelle besucht, wie er aus einem Automaten eine Cola nimmt, wie er in ein Auto einsteigt und davonfährt, oder in der Kneipe sitzt –trinkt und sich unterhält.
Die Fotos hingen von der Decke, klebten an den Wänden und Fenstern, lagen am Boden, in den Waschtrögen und selbst in der WC –Schüssel war schon ein Schnappschuss verschwunden.
Er folgte dem Fremden tagtäglich soweit er konnte, versuchte unbemerkt zu bleiben und fotografierte auf Schritt und Tritt.
Seine Arbeit hatte er längst vergessen, seine Tagebucheinträge und alle anderen sonst so lebenswichtigen Rituale liess er links liegen. Es gab nur noch diesen fremden Mann und sein Geheimnis in Henrys Leben.
Es war der zehnte Tag seiner obsessiven Verfolgungsjagd, als er das erste Mal die vermeintliche Kneipe mit unsicheren Schritten und gesenktem Kopf betreten hatte. Sie war so stickig und laut, wie sich Henry solche Kneipen immer vorgestellt hatte.
Trat der Fall auf, dass Henry den Fremden aus den Augen verlor, das natürlich des öfteren vorkam, pflegte er in die Kneipe zu gehen, da er wusste, dass hier der Fremde früher oder später wieder auftauchen würde. Er versteckte sich immer im hintersten Ecken an einem kleinen Tisch, weit in den Schatten gedrängt, von wo aus er die meisten eher finsteren Gestalten aus sicherer Entfernung beobachten konnte.
Genau am diesen Tisch sass er auch im 14. Tag seiner obsessiven Reise. Er beobachtete wie der Fremde an der Bar sass und sich mit dem von Kopf bis Fuss tätowierten Barmann unterhielt. Als er nach 40Minuten der Observation ihres Gespräches nach hinten zu den Toiletten ging, bemerkte Henry nicht, wie ihm die Schritte des Fremden plötzlich zu folgen begannen. Im selben Augenblick als er sich gerade erleichterte, tauchte neben ihm der Fremde auf. Henrys Blick schweifte nur kurz erschrocken an ihm vorbei und starrte dann wieder gebannt auf sein Glied. Er wagte es nicht seinen Blick zu heben und blieb bewegungslos stehen, wartend dass der Fremde wieder ginge. Er hörte wie dieser sich erleichterte und roch seinen verrauchten Atem, sein Griff wurde so panisch-verkrampft, dass es ihn schmerzte. Endlich hörte er wie der Fremde den Reisverschluss seiner Hosen hochzog und zum Waschbecken ging und als Henry das Wasser laufen hörte, wagte er einen kurzen Blick hinüber und kreuzte damit die ernsten Augen des Fremden im Spiegel, wieder drückte er seine Hände erschrocken so sehr zusammen, dass er plötzlich das Gefühl hatte sich das Glied gebrochen zu haben, mit dem er immer noch ins Pissoir zielte. Erst als die Tür zuknallte liess Henry laut schnaubend los.
Er kühlte sich mit ein paar Spritzern Wasser ab und ging mit zitternden Beinen zurück an seinen Tisch, der Fremde war inzwischen verschwunden.

„Hey, ich bin Richie“ Henry wartete darauf aufzuwachen, als er auf die abgekauten Fingernägel blickte und den rauchigen Atem wiedererkannte. Er hob langsam seinen Kopf zum Gesicht des riesigen Fremden hoch, den er seit 17 Tagen ununterbrochen verfolgte und beobachtete.
„Und du bist?“ der Fremde lächelte ihn mit grossen Augen an, dessen Blick seinem rauhen stämmigen Körper so etwas unpassend kindliches verlieh.
Henry war nicht in der Lage seine Stimme zu finden, er starrte dem Fremden nur erschrocken ins Gesicht.
„Ich hab dich hier schon öfters gesehen und kenne sonst alle die hier ein und ausgehen..“ Nun wartete er geduldig auf eine Antwort, doch Henry blieb erstarrt.
„Ok, ich wollte dich nicht stören.“
Er kehrte Henry gerade wieder den Rücken zu, als dieser losrief: „Henry!“ Der Fremde war nun der Erschrockene und blickte sich wieder zu ihm um. „Ich heisse Henry!... Tut mir leid.“ Meinte er dann nach Luft röchelnd. Richie konnte sich sein folgendes Lachen nicht verkneifen und setzte sich mit einem Bier in der Hand zu Henry an den Tisch. Immer mehr zu seiner Obsession zurückfindend begann Henry im Verlaufe des Gesprächs zwischen ihm und dem einstig noch fremden Mann, Richie über sein Leben auszufragen, ohne dabei auf den Kugelschreiber zu sprechen zu kommen. Richie antwortete geduldig, wobei er bei den intimeren Fragen Henrys nur mit einem leisen grinsen zu antworten pflegte.

Es war ein gutes, angenehmes Gefühl, das Henry genoss, als er an diesem Abend nach Hause ging. Alles ging wie von alleine und er schien das erste Mal in seinem Leben eine Art von Freundschaft zu erleben, so dachte Henry. Und dabei war alles ganz einfach, eines kam zum Anderen, wie von alleine. Er ging glücklich zu Bett, zufrieden wie ein glückliches Kind.

„Hey Henry!“ Richie stand vor der Tür.-
Henry war arbeiten gegangen, hatte am Abend zuvor sein Tagebuch nachgetragen und war nun daran gewesen unter den Klängen von Mozarts Fünften zu dinieren, als jemand an der Tür klingelte und nun stand Richie vor ihm.
„Ich brauche deine Hilfe Henry.“ Richie sah merkwürdig aus, ebenso wie seine Stimme klang, wobei Henry die Art der Merkwürdigkeit nicht genau einzuordnen wusste.
„Du kennst dich doch mit Maschinen und ähnlichem gut aus, darum bräuchte ich deine Hilfe, hast du Zeit?“
Henry suchte nach einer passenden Antwort, knallte stattdessen aber nur die Tür vor Richies Augen zu, öffnete sie kurz darauf wieder mit einer Jacke über die Schulter gehängt unter Richies verdutztem Gesicht.
Draussen stand ein schwarzer Ford, an dessen Steuer sich Richie setzte. Henry erkannte ihn sofort von den Fotos her wieder. „Steig ein!“ Rief ihm Richie zu und ohne lange nachzudenken folgte Henry Richies Weisung und stieg in den Wagen, worauf Richie den Motor anliess und losfuhr.
Auf dem Armaturenbrett erkannte Henry seinen rot-grünen Kugelschreiber wieder, wie er dalag, den plötzlich Richie aus Henrys Blickfeld nahm und damit nervös auf s Lennkrad klopfte.
„Woher hast du den Kugelschreiber?“ Henrys Augen funkelten, als er die lang erdrückte Frage stellte.
Doch es folgte keine Antwort. Richie fuhr stumm auf die dunklen Strassen starrend weiter.
Er sah nur noch auf den Kugelschreiber in Richies linker Hand.
„Es ist mein Kugelschreiber, Richie, woher hast du ihn?“
„Du meinst es ist dein Kugelschreiber?“ erwiderte Richie in genervtem Ton „Na gut –Hier!“ Er warf Henry den rot-grünen Kugelschreiber in den Schoss. „Und jetzt ist alles ok?“ er kicherte. „Woher hast du ihn?“ –„Denkst du, ich weiss nicht, dass du mir nachspioniert bist?“ Richies Stimme war nun fern jeglicher Emotion. „Zuerst dachte ich nichts dabei, als ich dich ein paar mal dastehen sah. Aber dann warst du plötzlich immer hinter mir mit deiner scheisslächerlichen Kamera!“ Nun klang seine Stimme definitiv wütend. Doch Henry blieb ruhig, machte keine Anstalten sich zu entschuldigen oder sein definitiv merkwürdiges Verhalten zu erklären, sondern wiederholte nur seine Frage: „Woher hast du meinen Kugelschreiber?“ Einige Meter darauf stoppte Richie an einem Waldrand den Wagen.
„Woher...“ Wollte Henry bereits wieder beginnen, als Richie stumm aus dem Wagen stieg und Henry einen Wink gab ihm zu folgen. Als sie ein paar Schritte in den Wald liefen, sah erkannte Henry zwei weitere Männer im Dunkeln, wie sie auf sie zu warten schienen. Desto näher er kam, desto klarer wurden die Gestalten vor ihm.
Er kannte sie von den Fotos. Der eine ein kleiner Kerl mit langen feuerroten Haaren, die er zu einem Schopf gebunden trägt. Den Zweiten erkannte er als den Barmann aus der Kneipe, den von Kopf bis Fuss tätowierten Kahlschädel. Hinter ihnen befand sich eine Grube, auf die Henry nun neugierig an den Beiden vorbei zuging. Er trat an das tiefe Loch heran und starrte hinunter, mit der Begierde irgendein Geheimnis, dass all seine Fragen beantworten würde zu entdecken, doch das Loch war leer.
Er hörte ein leises Klicken hinter sich und als er sich zu den Dreien umdrehte, sah er in die Mündung einer Pistole in der Hand des Rotschopfes. „Was geht hier vor?“ stammelte Henry mit dem Wunsch nach irgendeiner Erklärung. „Erschiess ihn endlich.“ Rief der Tätowierte ungeduldig, doch der Rotschopf starrte Henry nur entsetzt an. Er schien nicht einmal mehr zu atmen. „Schiess!“ Rief nun Richie laut hinterher und wollte gerade einen Schritt auf den Rotschopf hin machen, als Henry hinter die Büsche sprang und in den Wald hinein begann zu laufen. „Schiess!!“ hörte er sie rufen und dann, als er schon hinter dem Gestrüpp verschwunden war, hörte er, wie ihm Schritte folgten. Er überlegte sich, ob wohl der Rotschopf immer noch bewegungslos dort stehen würde, oder ob er nun auch hinter ihm her renne. Henry wusste nicht, wo er hinlief, vielleicht würde er jeden Moment wieder vor dem Lauf des Rotschopfes hervorkommen oder direkt in die wahrscheinlich für ihn gebuddelte Grube fallen. Es war so dunkel, dass er nichts erkennen konnte. Er konnte nur fühlen, wie die Äste und Dornen seine Haut aufkratzten und hören wie die Schritte hinter, neben und vor ihm mal lauter, dann wieder leiser, näher und dann wieder weiter fort klangen und er konnte nur laufen. Wer weiss, wie lange er schon lief, als er plötzlich stürzte und sich mit letzter Kraft hinter ein Gebüsch zog. Mit aller Gründlichkeit begann er sich nun von diesem Gebüsch zu zu decken und Gründlichkeit war seine vielleicht stärkste Eigenschaft. Dort blieb er nun stumm und bewegungslos sitzen. Selbst das Atmen versuchte er zu unterdrücken. Es war eine Situation, wie in seiner Kindheit. Als er auf dem Pausenplatz stand inmitten all dieser Kinder stand und sich sagte „Ich bin unsichtbar.“ und für alle Ewigkeit verschwand.
Es dauerte lange, bis die Schritte verstummten und noch länger bis Henry einschlief.

Zumindest glaubte er einzuschlafen. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, denn als er die Augen wieder öffnete war es noch immer dunkel und in seinen Händen hielt er den
rot-grünen Kugelschreiber fest umklammert.

Da waren sie nun wieder. Die Wohnung Henry s war bereits wieder geöffnet. Der Tätowierte stand am Fenster und starrte auf die Strasse hinunter. Richie sass am Boden und starrte auf den Blutfleck auf dem Polstersessel, den Henry nie entdeckt hatte und der Rotschopf sass auf dem Sessel zitternd und meinte immer wieder: „Es tut mir leid.“ Die Pistole hielt nun der Tätowierte in der Hand. Er hielt sie fest umschlungen. Er würde wieder der sein, der es erledigt, dachte er, während Richie an Toni dachte, dessen Blut vor ihm am Polstersessel klebte. Hin und wieder mal ein Bruch war doch nicht so schlimm. Erst recht bei Leuten die ihre Haustüre offen lassen. Toni gehörte zu ihnen Dreien und war sogar der professionellste von ihnen allen. Er machte nicht nur so kleine Einbrüche. Der Mann hatte ganz dicke Dinger auf dem Kerbholz, erinnerte sich Richie.
Doch Toni war wütend, hatte Streit mit ihnen. Er, der Tätowierte und der Rotschopf wollten bei seinem neuesten ganz grossen Coup nicht mitmachten. Er schrie sie an, fing an den Rotschopf rum zustossen und dieser stiess ihn zurück, so muss Toni irgendwie irgendwo angeschlagen sein, am Kopf und so entstand wohl der Blutfleck am Sessel. Doch dann drehte Toni völlig durch, nahm die Waffe und bedrohte den Rotschopf.
Der Tätowierte öffnete seinen Gürtel, riss ihn aus seiner Hose und legte ihn Toni von hinten unbemerkt um den Hals und zog zu. Der schrie aber noch immer und kämpfte und wehrte sich. Richie ermahnte ihn ruhig zu sein. Doch Toni hörte nicht und kämpfte weiter und der Tätowierte hielt den Gurt noch fester und kämpfte und rang mit Toni. Bis dieser nach einem ekelhaft klingenden Knacken ruhig war. Alle Drei erschraken und der Tätowierte meinte damals panisch: „Ich kann ihn doch nicht erwürgt haben?!“ Er hatte ihn nicht erwürgt, er hatte ihm mit seiner ganzen Kraft das Genick gebrochen. Und irgendwie musste Richie an diesem Morgen diesen Kugelschreiber mitgenommen haben. Doch er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern.
Die Polizei suchte zu der Zeit noch immer nach dem Mörder und suchte das ganze Umfeld ab. Dieser kleine Patzer mit dem Kugelschreiber könnte ihnen allen zum Verhängnis werden dachte Richie. Und wünschte sich nun, obwohl er in der Kneipe noch anderer Meinung war, er hätte Henry sofort umgebracht –irgendwie. Und auch den Rotschopf plagte das selbe schlechte Gewissen gegenüber seinen beiden Freunden, dass er im Wald nicht geschossen hatte, vielleicht hatte Henry die Polizei schon längst verständigt und selbst wenn nicht und er zuerst in seine Wohnung kommen würde, wäre hier das Risiko von Zeugen gross.
Doch Henry kam nicht, auch die Polizei nicht. Neben der Tür der Länge nach an der Wand lag nun auch kein Regenschirm mehr und kein Tagebuch.

Henry war bereits hier gewesen, kurz bevor die Drei eintrafen, nachdem sie zuerst einige Stunden vor der Polizeistelle warteten. Henry sass bereits im Flugzeug nach Hawaii. Er war noch nie in Hawaii, überhaupt war er noch nie in den Ferien. Obwohl das wohl auch keine Ferien wurden, denn er würde nicht mehr zurückkommen. Er starrte aus dem kleinen Fenster auf die Rollbahn, als das Flugzeug losfuhr. Und seine Augen wurden riesengross, als die Maschine abhob. Er bedankte sich immer überschwenglich, wenn die Bordmahlzeiten verteilt wurden und war auf alles neugierig wie ein Kind. Irgendwo, dachte er, würde er bestimmt ein ruhiges Plätzchen finden, wo er leben könnte. Geld hatte er genug, er hatte selten viel ausgegeben –eigentlich immer gespart. Und es gäbe bestimmt auch niemand, der ihn vermissen würde.

Falsch! Jemand vermisste ihn und machte sich sogar Sorgen um den verschwundenen sonst doch so pflichtbewussten Hausmeister. Sarah sass jeden Mittag in der Kantine auf der Suche nach dem Mann, der jeden Tag Erbsen mit Kartoffelstock und ein Stück Braten, einen kleinen grünen (ausschliesslich grünen) Salat und Caramelpudding zum Dessert ass. Doch er tauchte nicht mehr auf. Sie brachte sogar die Polizei ins Spiel, machte eine Vermisstmeldung und alle Angestellten wurden von der Polizei befragt. Doch Henry war Weg und ist bis heute nie mehr zurückgekehrt.

 

Danke fürs Feedback ProgMan.
Aber den ersten Teil komplett kürzen? ne!
Ich habe es immer wieder durchgelesen und kann ohne diesen langen zugegebener Massen stinklangweiligen Anfang mir diese Story nicht vorstellen. Das ist Henrys Leben auf jedes Detail durchgedacht und langweilig, wie kann ich dem Leser sonst seine Hysterie wegen einem verschwundenem Kugelschreiber nahe bringe?
Gruss Pascal

 

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