- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Null Null
Ich mach die Toiletten hier im Hauptbahnhof. Zehn Jahre sind es inzwischen. Zehn Jahre, fast auf den Tag genau, zwei mal zehn Kabinen. Blitzblank sag ich, blitzblank. Kannst von der Brille essen. Ungelogen. Interessanter Standort mein Arbeitsplatz. Gleich gegenüber von den Schließfächern. Früher hat meine Frau hier den Dienst gemacht, aber das Publikum ist oft nicht ganz ohne. Dann haben wir unsere Jobs getauscht. Sie arbeitet jetzt bei Hagenbeck und ich hab ihren Bereich hier übernommen.
Ich erleb` schon Dinger, kann man sich ja vorstellen bei der Menschenmasse, die sich hier täglich drängelt. Im Stress sind sie alle. Immer zu spät dran, das macht sich auch auf den Toiletten bemerkbar, doch dafür bin ja schließlich ich zuständig.
Wenn ich grad mal keine Kundschaft hab, steh ich in der Tür. Wegen der Abwechslung. Dann guck ich meist auf den Hauptgang, wo die Menschenströme sich bewegen. In die eine und in die andere Richtung und abends umgekehrt. Hat sich einiges verändert in der letzten Zeit. Pikobello der Bahnhof, pikobello. Der Dreck wird ständig rausgekehrt, ob es sich nun um Mc Donald-Abfall handelt oder um Penner oder Junkies. Ich persönlich hab ja nichts gegen die. Aber sind ja nichts für` s Auge. Wegen der Besucher und dem ersten Eindruck von der Stadt.
Es war irgendwann im Mai vor ein paar Jahren. Ich machte mal wieder Pause und guckte zum Eingang. Da kam sie herein. Imposante Erscheinung. Rosafarbener Tuchmantel mit so `nem Schal dran. Bei so viel Stoff und in der Farbe fiel sie mir sofort auf. Sie trug einen dunkelblauen Hut Marke Wagenrad. Und eine Gelassenheit strahlte sie aus – lag wohl an ihrer Körperfülle.
Karl ging neben ihr, Karl, der seinen Taxenplatz draußen hat. Er trug einen schweren Koffer. Beide gingen den Hauptgang entlang, bogen dann ab und kamen in meine Richtung. Er stellte ihren Koffer vor den Schließfächern ab. Ich dachte noch, was in dem Koffer wohl drin wäre, so wie sich Karl damit abmühte.
Und ich sag ja, Kleider machen Leute. Da achte ich auch drauf. Schwarze Hose, blank gewichste Schuhe und einen gestärkten weißen Kittel. Die meisten haben ja sowieso eine Hemmschwelle, auf ein öffentliches Klo zu gehen und wenn du da als Aushängeschild sozusagen vor der Tür stehst und dein Kittel aussieht wie, also wenn du auf dem Kittel sehen kannst, was deine Kundschaft in deinen Räumlichkeiten so hinterlassen hat mal ganz krass ausgedrückt, na, dann wär` aber Ebbe in meiner Kasse.
Ich leerte gerade die Untertasse auf dem Tischchen im Vorraum, als sie durch die offene Tür hereinkam, was sage ich: hereinwogte, die Walküre im rosa Mantel.
„Entschuldigen Sie! Könnten Sie mir vielleicht mit Wechselgeld aushelfen?“ Diese Stimme – nie werde ich ihre Stimme vergessen. So weich und gleichzeitig rau und anzüglich. Da soll unsereiner kalt bei bleiben. Wechselgeld. Das kommt bei mir normalerweise gar nicht in die Tüte. Wenn da jeder käme. Ich hab dann immer einen passenden Spruch bereit, doch bei dieser Frau war ich zu allem fähig.
“Aber natürlich, meine Dame!“ antwortete ich und schöpfte klimpernd eine Handvoll Münzen aus meiner Kittelschürze. Ich weiß es noch wie heute. Fünf Euro waren es etwa. Zehner, Zwanziger und Fünfziger Münzen. Das bedeutet so pi mal Daumen acht Kunden. Achtmal die Brille einsprühen, mit dem feuchten Lappen drüber und kurz trockenwischen. Etwa dreimal mit der Bürste schruppen, Raumspray benutzen.
Natürlich dachte ich, sie würde mir einen Schein dafür geben, aber nix da.
„Das ist unerhört freundlich von Ihnen. Ich bringe Ihnen das Geld gleich morgen.“
Nun gut, das Geld hatte ich abgeschrieben, nie hatte ich geglaubt, dass sie ihr Versprechen einlösen würde.
Die Anordnung der Schließfächer ist ne Wissenschaft für sich. Das hat sich mit Sicherheit ein Studierter ausgedacht. Doch wenn du zehn Jahre am Stück immer diesen Ausblick hast, wirst auch du zum Experten für Schließfachaufteilung. In der unteren Reihe sind die großen Fächer, halber Meter mal halber Meter und die Reihe drüber auch. Für Koffer und schwere Sachen. Allein zwanzig Fächer hintereinander.
Ich wollte schon mal so einen Spezialisten anrufen, der dafür zuständig ist und ihm von meinen Beobachtungen berichten, aber woher soll ich die Telefonnummer …?
Denn wenn du da hinguckst, wie sich die älteren Herrschaften mit ihren Koffern abmühen. Wenn sie sich dann krümmen und ans Rückrat fassen, also für die Bandscheibe ist das nicht gerade ideal. Ich hätte da eine Idee. Aber wie gesagt, ich hab ja nicht die Telefonnummer. Der wär` bestimmt froh, wenn ich ihm aus meinem Erfahrungsschatz berichten würde. Ja und über diesen Fächern halb so große, so etwa das Format wie ne halbe Bildzeitung, auch zwei übereinander. Und dann stecken da die Schlüssel drin. Silber und überall die Nummer drauf. Ich kann dir mit geschlossenen Augen zeigen, welche Nummer welches Fach hat, ungelogen.
Ich sah ihr noch hinterher, wie sie zu den Schießfächern ging und ein Fach öffnete. Nummer 382, unterste Etage. Nun, sie schob den Koffer hinein, steckte die Münzen in den Schlitz, schloss die Tür ab und ging den Weg zurück zum Haupteingang. Als sie an mir vorbeikam, hob sie grüßend den Arm:
„Bis morgen!“
Bis morgen. Nichts war bis morgen. Tagelang beschäftigte mich diese Frau. Entweder war sie Opernsängerin, diese Körperfülle, diese Stimme und irgendwie hatte sie was Weltmännisches. Oder sie kam aus dem Milieu. Da kann man ja nie wissen.
Und dann passierte etwas das mich total vom Hocker gehauen hat. Wie ich mich nur so täuschen konnte. Also, es fing damit an, dass sich in meinem Gang ein Gestank ausbreitete, der von Stunde zu Stunde unerträglicher wurde. Die Leute dachten, es käme von den Toiletten. Und die Kundschaft blieb aus. Ich ging rüber zu den Schließfächern. Meine Nase ortete das Übel genau vor der Nummer 382. Was ging mir nicht alles durch den Kopf. Ich dachte an Mord und Totschlag. Hier passiert ja einiges. Diese elegante Dame. Nach außen vom Feinsten, doch hinter der verschlossenen Tür? Inzwischen hatte schon der Öberste vom Bahnhof Wind davon bekommen und kam zusammen mit einem Wartungsmechaniker angerauscht.
„Also ich weiß, wer hier in der 382 seinen Koffer reingestellt hat. So´ne Dame mit rosa Mantel, ist knapp ne Woche her. Ich hab genau geseh´n, wie sie hier einen Riesenkoffer reingeschoben hat.“ klärte ich die beiden auf.
Der Mechaniker schloss das Fach mit einem Universalschlüssel auf. Nun strömte der strenge Geruch ungehindert hinaus. Ich hatte auf eine Leiche oder wenigstens auf eine tote Katze getippt. Zum Vorschein kam ein Koffer, in dem Karstadts halbe Lebensmittelabteilung vor sich hinwaberte. Fleischsalat, Camembert, Beefhack, Aufschnitt. Wie da nur die Maden reingekommen sind? Sind doch pottdicht diese Türen.
Als ich mich wieder auf den Weg zu meinen Toiletten machte, sehe ich die rosa Walküre wie eine Welle in der Brandung auf mich zuwanken. Komisch, nun war mir gar nicht mehr schwummerig ums Herz. Erst prellt sie mich um fünf Euro und dann das. Nee, wie man sich doch nur so täuschen kann. Sie verzog ihr Gesicht. Ob´s das schlechte Gewissen war? Weshalb auch immer sie dieses Sammelsurium ausgerechnet in ein Schließfach gestellt hatte. Dann lachte sie mich an, so als wäre nichts gewesen und hielt mir einen Geldschein hin.
„Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie. Ich konnte…“
Inzwischen stürzten sich die beiden Herren auf diese Person. „Kommen Sie doch einmal mit. So geht das nicht. Sie haben hier in Fach Nummer 382 verderbliche Lebensmittel gelagert. Das verstößt eindeutig gegen die Aufbewahrungsvorschriften für öffentliche Schließfächer. Nun nehmen Sie Ihren Koffer samt Inhalt und verschwinden Sie!“
Die Dame hielt sich die Nase zu.
„Was? Verderbliche Lebensmittel?“ schrie sie aufgebracht. „ Sie sind wohl nicht bei Trost? Wer hat Ihnen denn diesen Schwachsinn erzählt?“ „Wieso Nummer 382? Hier, mein Schlüssel! Er hat die Nummer 383“.
„Sehen Sie! Ich bin Anwältin und in meinem ganzen Leben noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.“ Die Frau öffnete ihren Koffer.
Bücher, nichts als dicke Bücher und ein paar Akten kamen zum Vorschein. Wer kann um Gottes Willen in einem Leben so viele Bücher lesen?
„Rechtsgutachten, Protokolle, Gesetzestexte, Kommentare, Urteile…“ und was sie nicht noch alles von sich gab.
„Ich bin gerade nach Hamburg gezogen. Meinen Koffer hatte ich hier zwischenzeitlich deponiert, weil mein Auto unterwegs liegen geblieben ist und ich in der Nähe einen Termin hatte.“
Alle Anwesenden starrten mich an. Was sollte ich darauf antworten? Man kann sich ja schließlich auch mal irren. Ich zuckte mit den Schultern und ging zurück an meinen Einsatzort.
Den Typen, der seinen madigen Käse ins Schließfach gestellt hatte, kenn ich übrigens. Es war Matten, ein Penner, der sich die Fressalien irgendwo in den Supermärkten zusammengeschnorrt hatte. Das hat mir Kurt später erzählt. Ist mir auch egal. Ich hab schließlich was Besseres zu tun als mich auch noch um diese dämlichen Schließfächer zu kümmern.