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Nudeln mit Tomatensauce
Nudeln mit Tomatensoße
Es war ein Montag, und weil es ein Feiertag war, erlaubte er dem Wochenende noch eine kleine Nachwehe, noch ein zweites mal Ausatmen. Nina war heute stiller als sonst, die meiste Zeit den schweren Kopf in die Hand gelegt, mit einer Decke um die Nieren gegen die fehlende Wärme, die der Körper stattdessen für die Entgiftung all des Ethanols der letzten Nacht zu brauchen schien. Und sie war froh als irgendwann Susann und Holger fragten, ob jemand mit zum See kommen wolle, an diesem vielleicht letzten warmen Spätsommertag. Susann stand einfach plötzlich da, am Tisch, in ihrer gelben langen Herbst-Frauen-Jacke, neben Holger, als würden die beiden heimlich für ein Foto posieren. Und dieses Paar drängte sich in Ninas Gedanken als hätte jemand das Radio lauter gestellt und Nina musste blinzeln, die Ellbogen immer noch auf diesem Tisch, zu dem all die Menschen nach diesem Wochenende langsam aus ihren Wägen und Ateliers und Zimmern kamen um dreizehn Uhr zu frühstücken.
Nina war heute Mutter für zwei Kinder, eines davon war nicht ihres aber sie fühlte sich gut und sinnvoll wenn sie die Kinder anderer hatte und heute war ja Feiertag, also auch keine Kita, und Tillmanns Mutter musste aber arbeiten, also Kinderprogramm.
Und Nina war dankbar für diesen Moduswechsel, diesen Ruf aus der Ferne, dem sie kurzerhand folgte. Sie steckte die zwei Kinder ins Auto und fuhr mit Susann und Holger, inklusive Susanns Kind, mit zum See, nördlich der Stadt neben dem Wald an dem stillgelegten Kiestagebau, drei Erwachsene und drei Kinder. Holger wirkte heute länger und hagerer als sonst, aber auch glücklicher, zumindest lachte er oft. Nina mochte seine tiefen Augenhöhlen und wie er es beherrschte seinem runtergerockten Aussehen immer so einen ziemlich guten Stil zu verleihen. Und es war beruhigend Holger und Susann zu sehen, wie sie gerade im Begriff waren sich kennen zu lernen, ihnen dabei zuzuschauen wie sie sich mochten, wie sie eigentlich nur ungern voneinander weichen wollten, wie interessiert sie aneinander waren, und wie der Rest der Welt daran teilhaben durfte, so er denn wollte. Und Nina fühlte sich wohl mit diesem Paar, was wahrscheinlich noch keines war, und es war da an diesem Montag zu dritt einfach alles so geregelt, so geklärt, ein drittes Rad am Wagen zu sein, das passt mir heute gut, dachte Nina und stieg in den alten Opel Omega, die Kinder auf die Rückbank, immer hinter dem Paar her was wahrscheinlich noch keines war.
Auf dem Weg zum See war die Welt noch so still, weil ja Feiertag war, nur ein paar Bäcker waren geöffnet und die meisten Menschen lagen wahrscheinlich noch im Koma der Vornacht und der Herbst kündigte sich an und das Licht hatte diese Farbe bei der man gleich nochmal Photographie studieren wollte, der Herbst mit all seiner Würde, diese Wandeljahreszeit, so viel Übergang und doch so eine Ruhe. Anfangs schwiegen die Kinder im Auto und saugten die bewegten Bilder hinter den Autofenstern auf. Dann begann Sara ein Lied zu singen und sagte zu Tillmann er solle sich festhalten weil wir gleich ganz schnell fahren, ja ja, halt dich fest Tillmann, festhalten, ja? sie schrie den Satz irgendwann mit ihrer glockenhellen Kinderstimme einfach in das Auto hinein.
Ninas Kopf war schwer und sie fühlte diese Unwachheit noch im Kopf, wie Brei alles und unklar aber sie hatte ja eine Aufgabe jetzt und diese zwei Kinder da hinten auf der Rückbank für die es ja noch keine Ferien gab oder Freizeit, für die ja alles in jedem Moment der pure Ernst ist und das völlig reale Leben, jede Stunde. Und dann von der Autobahn runter, immer hinter Susanns Auto her und da wurde es dann bald so waldig und grün und duftend, selbst bei geschlossenem Fenster duftete schon der Anblick, und dann parken und raus die Kinder und so schön planlos einfach an den See, Holger kannte ja den Weg; durch ein Stückchen Wald, dann an dem Tagebau vorbei mit meterlangen Förderbändern. Wie der Herbst, trägt hunderte von Kieskörnern einfach immer weiter, oder trug mal, wer weiß das schon, er sah zumindest stillgelegt aus, der Tagebau. Und auf jeder Erwachsenenschulter ein Kinderpo und keines der Kinder beschwerte sich über irgendwas. Vielleicht weil es nichts zu beschweren gab und weil die Eltern sich ja auch über nichts beschwerten. Selbst Tillmann mit seinem Tom-Sawyer-Haarschnitt, nur ungekämmt, ließ sich einfach mittragen von Holger, den er ja gar nicht kannte und obwohl Tillmann von der Mutter weg war und zum ersten Mal mit Nina unterwegs und alles wieder neu und anders war, ließ er sich wie ein Cowboy durch die Kieslandschaft tragen als gäbe es keine Mutter und kein Heimweh.
Und dann schon alles ausgepackt kamen die Angler und meinten, daß der See gepachtet sei und sie hier Geld bezahlten und also den ganzen Kladderadatsch wieder rein in den Korb, die Kinder waren schon nackt und am Erkunden aber irgendwie waren alle drei Erwachsenen noch zu müde und zu matt um irgendein Aufheben zu machen und dann war es nicht so weit wie es aussah und beim zweiten Versuch fanden sie noch einen Platz wo die Decken ausgebreitet werden konnten und die Kinder wieder runter von den Schultern und weiter wie schon angefangen die kleinen Füße in das kalte Wasser. Und dort gab es dann sogar Obst und Handtücher und keine Angler und keine Pacht.
Und dann meldete sich Ninas Körper und wollte aufs Klo und Nina hatte noch nie gelernt ihren Körper zu bezwingen und hatte auch nicht vor das zu tun, also nahm sie sich ein Taschentuch, weil das in einem Muttergepäck ja selten fehlt, und ließ ihre zwei Kinder ungefragt bei bei den anderen. Und ihr Kopf fühlte sich immer noch wie verschleiert an und so stieg sie schuhlos durch die Zweige und über den Waldbolden, nur in T-Shirt und Schlüpfer, und fühlte sich ein wenig wie damals, als sie auch barfuß über Waldböden gelaufen ist, vielleicht schon damals nur in T-Shirt und Schlüpfer, und der Duft jetzt direkt in die Nase tat gut und wärmte. Und dann fand sie einen guten Platz und grub dort ein kleines Loch mit einem Ast in den weichen mit Moos und Tannennadeln bedeckten Boden, so tat sie es immer, ein Loch in den Boden, damit kein Hügel liegenblieb. Und sie hockte sich hin in diesem lichtgetränkten Wald voller staubig-glitzernder Spinnweben und kackte in diese friedvolle Herbstnatur hinein, und dann betrachtete sie ihre Wurst wie ein kleines Kind und traf das gegrabene Loch genau in der Mitte und freute sich über die Gleichgültigkeit zu fast allem in diesem Moment. Und dann bedeckte sie den Haufen mit Erde, Moos und Tannennadeln und steckte den Zweig wie eine Sieger-Fahne auf den kleinen Mooshügel und musste schmunzeln einfach über die Situation. Dann ging sie zurück, schuhlos, durch die Zweige und über den Waldboden, in T-Shirt und Schlüpfer, konnte die Kinder schon hören, und dabei dachte sie so könnte das Leben immer mal sein, so ein bisschen gleich und ein bisschen gültig und ein bisschen Frühherbst und ein bisschen rausgestreckte Kinderbäuche und Apfel mit ohne Schale.
Und zurück bei der kleinen Ausflugsgruppe redeten Holger und Susann über Kineosologie und Traumata, weil Holger gerade so einen Kurs machte, und darüber ab wann ein Trauma zu einem Trauma wird und dann redeten Susann und Nina übers Stillen und auch darüber wie die Zeit vergeht und die Kinder plötzlich richtige kleine große Menschen sind und sprechen und streiten und die Welt begreifen. Und dann sprangen die Großen nochmal in den See, erst Holger und Susann, dann auch noch Nina. Und der See war kalt und gut und passte zu dem Herbst und sogar irgendwie zu den Traumata und der Zeit, die vergeht, und die drei Kinder standen wie ein kleines Rudel am Ufer und beobachteten die Großen und staunten, und keines der Kinder fragte warum sie nicht auch ins Wasser gehen könnten, vielleicht weil keiner der Erwachsenen hoffte, daß sie nicht fragen würden.
Und dann zurück über die Kieswege und durch den Wald zum Auto, wieder ein Kinderpo je Erwachsenenschulter und auf der Hälfte der Strecke fing Sara bitterlich zu weinen an, wegen des am See vergessenen Zauberstocks, und sie wollte nicht aufhören, den ganzen Weg bis zum Auto und auch noch bis sie auf der Autobahn waren und Nina sagte sich, daß dies wohl der Schmerz ist wenn man etwas loslassen muß, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben Tschüß zu sagen. Und sie versuchte das Geschrei einfach hindurch zu lassen, durch den heute recht lärmempfindlichen Kopf.
Aber mit der Monotonie der Autobahn wurden auch die Kinder ruhiger und dann trafen sich alle wieder bei den Bänken im Garten wo die Leute immer noch saßen und frühstückten und rauchten und die ersten Biere wurden schon wieder geöffnet und dann gab es noch Nudeln mit Tomatensoße für die Kinder die wieder wie ein kleines Rudel am Tisch saßen und denen die Tischkante bis knapp unter das Kinn reichte. Und Nina übergab das temporär zweite Kind zurück an seine Mutter und blieb mit ihrer Tochter noch dort, bei den immer noch Frühstückenden, und redete hier und da und wusch noch Geschirr ab und fühlte sich etwas heimisch unter all den Heimatlosen und es kostete sie ein wenig Überwindung, aber sie fuhr nach Hause dann, mit dem müden aber glücklichen Kind auf der Rückbank. Und zu Hause angekommen trug sie ihre Tochter aus dem Auto ins Bett, der ganze Körper schlaff und warm und ergeben. Sie zog ihr die Hose aus, deckte sie zu und öffnete das Fenster, und betrachtete ihre Tochter, die so voller Schönheit und Gottvertrauen in bedingungsloser Solidarität mit dem Plüschhamster auf dieser großen Matratze lag und sich mit ihrem gesamten Körper der Ohnmacht des Schlafes hingegeben hatte.
Und dann alle Sachen samt dem feuchten Handtuch und der Windel von Tillmann im Auto gelassen und Nina öffnete sich eine Flasche Wein, stellte sie auf den Tisch, ein Glas daneben. Und bevor sie trank schaltete sie das Radio ein und ging nochmal zum Briefkasten. Dort lagen drei Briefe. Das eine war Werbung von ihrem Telefonanbieter, das zweite war ein Bußgeldbescheid über hundertdrei Euro und fünfzig Cent in einem gelben Briefumschlag für zu schnelles Fahren innerhalb geschlossener Ortschaften und der dritte Brief war ein Zettel in einem unfrankierten orangen Umschlag und auf dem Zettel stand: Liebe Nina, mach Dir keine Sorgen wegen Freitag Nacht, nichts wird so heiß gegessen wie's gekocht wird. Ich wollte fragen ob Du mir vielleicht Deine Bohrmaschine leihen kannst und mit mir morgen ins Theater gehst. Lieben Gruß, P.