Nscho-tschi
| Nscho-tschi
„Willst du mich küssen?“, fragt sie. Die einzige in dem Schuppen, die sich zu 70- und 80-er Musik bewegen kann.
„Nein.“
„Warum nicht? Bist du schwul?“
„Keine Sorge.“
„Ich bin nicht dein Typ?“
„Doch.“
„Wo liegt dann das Problem?“
„Dein Freund da hinten.“
„Der ist nicht eifersüchtig. Macht doch auch mit anderen rum.“
„Habe ich gesehen.“
„Also: was ist jetzt?“
Mein Gegenüber trägt eine gebatikte Schlaghose, Bikinioberteil, hat ihre brünetten Locken mit einem Nscho-tschi-Stirnband gezähmt. Hatte mich auf der Tanzfläche erst neugierig gemustert, dann mit einem entwaffnenden Lächeln verzaubert und fünf Minuten später bei einem George-McCrae-Song seitlich mit der Hüfte angestoßen. Sie hat das Motto der Party „Flower Power“ ernstgenommen. Ich hatte auf die Schnelle keine passenden Klamotten mehr auftreiben können. Bin hier im schwarzen Anzug und wildgemusterten Hemd. Sehe, dass sich viele – vor allem die männlichen – Teilnehmer noch weniger Mühe als ich mit ihren Outfits gegeben haben. Nach einer Viertelstunde ist klar, dass Nscho-Tschi und ich vom Tanzstil her optimal zusammenpassen. Ihr Kerl hat sich als Gladiator verkleidet. Lederrock mit bis zu den Knien gebundenen Legionärssandalen. Seit Mitternacht mit freigelegtem, ölglänzendem Oberkörper. Kein Sixpack. Das war mir als Erstes aufgefallen. „Ob er sich auch den Arsch rasiert?“, hatte sich eben ein junger Kerl an der Theke bei mir erkundigt. „Keine Ahnung. Musst du ihn selbst fragen.“ Solche Gespräche führen erfahrungsgemäß zu nichts.
„Du willst tatsächlich nicht mit mir flirten?“
„Wozu? In zwei Stunden bist du mit dem Gladiator durch die Tür, und ich sehe dich nie wieder.“
„In zwei Stunden kann viel passieren.“ Sie setzt erneut ihr Lächeln auf, legt den Arm um meine Schulter. Ich spüre einen Stich an der Stelle, wo früher mein Herz geschlagen hat.
Ich schiebe sie sanft weg; sage: „Mit einer Frau wie dir kann ich nicht so ohne weiteres knutschen.“
„Verstehe ich nicht. Erklär’s mir“ Ihre Miene verwandelt sich in ein großes Fragezeichen.
„Okay.“ Eigentlich habe ich bei der lauten Musik und dem Trubel um mich herum wenig Lust auf lange Unterhaltungen. Ich will ein bisschen tanzen und um 3h nach Hause fahren.
„Die meisten Frauen hier interessieren mich Null. Ich nehme sie gar nicht wahr. Mit einigen könnte ich spontan Sex haben, ohne mir einen Kopf darüber zu machen.“ Ich stoppe, rühre mit dem Strohhalm im vor mir stehenden Glas und betrachte die Karussellbewegung der Eiswürfel.
„Und? … lass dir nicht jeden einzelnen Satz mühsam aus der Nase ziehen.“ Sie umwickelt mein linkes Knie mit ihrem rechten Bein.
„Bei dir besteht die Gefahr, dass ich mich verliebe.“
Sie bleibt eine Minute stumm, analysiert aufmerksam jede Falte meines Gesichts. Dann sagt sie: „Du hast tatsächlich Angst davor, dich in mich zu verlieben? Du kennst mich doch überhaupt nicht.“
„So lange ich dich nicht anpacke, bleibt mein Puls im Normalbereich. Mehr will ich nicht ausprobieren.“
„Du scheinst ein Träumer zu sein.“
„Schon möglich.“
Sie klettert vom Barhocker, kehrt zum Gladiator zurück, zerrt den von einer drallen Rothaarigen weg und tanzt mit ihm. Aus den Boxen dröhnt „Ain’t nobody“ von Chaka Khan. Ich liebe ihren Hüftschwung, würde sie in diesem Moment mitten in der Disco fragen, ob sie mich heiraten möchte. Verscheuche den Gedanken sofort. Der Schwertkämpfer ohne Schwert taumelt, hat zu viel getrunken; sie stützt ihn, eskortiert den Kerl zur Feuerlocke und liefert ihn dort ab. Er versinkt augenblicklich mit der Nase in deren enormen Dekolleté. Dann schlendert sie zu einer hübschen Vierzigjährigen mit Bubikopf, die ein kurzes schwarzes Paillettenkleid trägt und quatscht angeregt mit der. Hin und wieder blicken beide kichernd in meine Richtung. Vermutlich steckt sie ihrer Freundin, dass ich ein Spinner bin. Ich schaue auf die Uhr: halb drei. Gehe ins Bad: alles blitzblank und sehr hygienisch. Über dem Waschbecken drei Packungen mit Kondomen. Viagra gibt’s bei der netten Barkeeperin, überlege ich, schnappe mein Jackett und marschiere zum Ausgang. Ich habe genug getanzt, der Höhepunkt des Abends ist – zumindest für mich – überschritten. Was hätte ich Nscho-tschi erzählen sollen? Dass ich mich früher in Frauen wie sie versehentlich verknallt habe. Wenn sie mir dann antworteten, ich solle nicht kindisch und blöde sein, es sei schließlich nur eine winzige Affäre gewesen, ich meine Gefühlswelt verwünschte und den Kummer so lange mit Wodka betäubte, bis ich nach einigen Tagen aus dem Koma erwachte und alles vergessen hatte. Mein im Abstand von drei Monaten stattfindender Exorzismus. Vor ein paar Jahren habe ich mit dem Saufen aufgehört, halte meine Emotionen im Zaum, verliebe mich nicht mehr. Ob das besser ist als der vorherige Zustand, weiß ich nicht. Auf jeden Fall gesünder für meine Organe. Nach zweihundert Psychostunden komme ich mir aber manchmal vor wie ein seelenloser Zombie.
„Du schreibst schöne Gedichte.“ Nscho-tschi lehnt an der Wand neben der Tür, scheint auf mich gewartet zu haben.
„Du kennst meine Gedichte?“
„Alle“, sagt sie, dreht sich um und verschwindet in der konturlosen Menge.
Draußen das übliche Scheißwetter: Nieselregen und kalt. Ich fluche, denn ich habe das Auto weit weg geparkt.