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Novemberregen
Ich bewegte mich in völliger Dunkelheit. Um mich herum war Rauschen, das mir durch den Gehörgang direkt ins Hirn donnerte. Mit der linken Hand ertastete ich den Ziegelstein, mit der rechten verteilte ich schleimigen Mörtel auf der rauen Oberfläche. Hatte ich zu viel Wasser hineingemischt? Würde sie trotzdem halten? Dann hievte ich einen weiteren Stein auf die Mauer, die sich direkt vor der Wand meiner ehemaligen Speisekammer befand. Plötzlich schwoll das Rauschen an, erhob sich zu einem Tosen. Ich zuckte zusammen. Der Ziegelstein entglitt mir, zerbarst auf dem Boden. Zitternd ging ich in die Hocke und brach in Tränen aus.
Zum ersten Mal war er im Oktober gefallen, an einem düsteren Herbsttag. Damals quälte sich ein kühler Wind durch die Straßen und schleppte ihn in jeden Winkel der Stadt. Noch am selben Abend warnten sie im Fernsehen vor ihm. Der Regen sei stark ätzend, sagten die Nachrichtensprecher, schon nach kurzem Kontakt tödlich. Eine saure Flüssigkeit, die Fleisch in Sekunden zersetzte und kaum Überlebenschancen ließ. Zunächst waren ihre Mienen ernst, danach routiniert, am Ende betont zuversichtlich. Es würde wohl bald aufhören und man würde alles wiederaufbauen, genauso wie es einmal gewesen war. Ein aufgesetztes Lächeln. Dann fiel das Bild aus, der Kontakt brach ab. Inzwischen war es November und der Regen fiel noch immer.
Mein Rücken schmerzte vor Anstrengung, doch die Mauer war fertig. Ich saß auf dem kalten Fliesenboden und starrte in die Finsternis, dahin, wo ich meine Konstruktion vermutete. Einst hatte sich dieser winzige Raum in der Mitte meines Hauses befunden, doch nun war nur er geblieben. Zuerst hatte sich der Regen das Dach geholt, dann die Obergeschosse und die äußeren Räume des Erdgeschosses. Alle Versuche die Decken zu verstärken waren gescheitert. Auch das Auftürmen sämtlicher Möbel über der Speisekammer würde nur kurzzeitig helfen. Letzten Endes war mir nur der Rückzug in jene fensterlose Kammer geblieben, in der ich mich täglich fragte, ob der Regen von oben oder von der Seite einbrechen würde. Ich lauschte, wie er auf die Außenwelt prasselte. Manchmal klang es schwächer, dann wieder stärker, doch es hörte niemals auf. Mir schien, als sammelte er sich in den ruhigeren Momenten nur, um sich im nächsten Augenblick noch heftiger auf mich niederzustürzen.
Ich öffnete eine Konserve und schüttete den Inhalt nach und nach in meinen Mund. Die Dunkelheit machte es unmöglich zu lesen, was sie enthielt, doch als ihr Inhalt meine Lippen berührte, musste ich lächeln. Linseneintopf. Damals, vor dem Regen, als Anne und ich frisch in dieses Haus gezogen waren, hatten wir uns wochenlang von solchem Dosenessen ernährt. Der Eintopf hatte schon damals furchtbar geschmeckt, doch wir hatten das Beste daraus gemacht. Ihr Lachen kam mir in den Sinn, bei dem ihr ganzes Gesicht strahlte, bei dem sich Falten unter ihren Augen bildeten. Ich knallte die leere Konserve auf den Boden, um die Gedanken durch den lauten Aufschlag zu vertreiben. Dann legte ich mich auf die modrige Matratze, die sich auf meinen Steinvorräten befand. Die Erinnerungen an meine Frau kämpften sich immer wieder hoch, doch ich versuchte mich gegen sie zu wehren, mich auf andere Dinge zu konzentrieren.
„Wenn die Niederschlagsmenge pro Stunde 15 bis 25 Millimeter beträgt, dann fallen pro Minute 0,25 bis 0,42 Millimeter, also 0,0042 bis 0,007 Millimeter pro Sekunde.“
„0,007, 0,014, 0,021, 0,028, …“
In solchen Situationen blieb mir nur das Rechnen. Ein Akt gefühlskalter Konzentration, eine Hoffnung auf etwas Schlaf.
Ich wählte die Nummer ihres Handys. Die Nachrichtensprecher hatten gerade das erste Mal vor ihm gewarnt. Ein vergeblicher Versuch, denn der Anruf kam nicht durch. Waren die Netze überlastet? Plötzlich sah ich ihren silbernen Toyota auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhalten. Wusste sie schon von dem Regen? Ich hämmerte gegen die Scheibe, doch sie hörte es nicht, also riss ich das Fenster auf und schrie. Doch es war schon zu spät, denn sie öffnete die Fahrertür und stieg aus dem Wagen. Für eine Sekunde stand sie da und sah mich verdutzt an. Wie ich brüllte mit einer Kraft, die sich aus Verzweiflung speiste.
„Zurück ins Auto!“
Ihre Augen weiteten sich zu unnatürlicher Größe, ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. Die blonden Haare fielen auf den Boden. Begriff sie, was passierte? Jedenfalls begann sie in Richtung Haus zu rennen. Ihr Gesicht war eine glatte Fläche aus dunklem Rot. Ich stand nur da, unfähig mich zu bewegen, sah zu, wie sie mit jedem Schritt weniger wurde. Auf der anderen Straßenseite befand sich die rettende Haustür. Sie hatte sie niemals erreicht.
Als ich erwachte, hörte ich den Regen. Das unaufhörliche Prasseln, das den kurzen Moment der Hoffnung, in dem ich dachte, dies alles könnte nur ein Traum gewesen sein, vernichtete. Unter den unbarmherzigen Einschlägen der Regentropfen wurde jedes Aufwachen zur Enttäuschung. Ich lag noch eine Weile auf der Matratze und presste das Gesicht in das schweißnasse Kopfkissen, doch mein Körper ließ mich nicht mehr schlafen. Also richtete ich mich auf und betrachtete die frisch errichtete Mauer. Sie war schief und voller Lücken, durch die der Regen einfallen konnte. Der Anblick war wie ein Schlag in den Magen. Erst dann begriff ich, dass ich etwas sehen konnte. Durch kleine Löcher in der Zimmerwand drang schwaches Licht. Dünne Strahlen. Kaum sichtbar. Und doch blendeten sie meine Augen, die nur noch Finsternis kannten. Ein chemischer Gestank brannte mir in der Nase. Wie er mir bis dahin entgangen war, blieb mir unerklärlich. Ich sprang auf und warf die Matratze beiseite, um meine Steinvorräte freizulegen. Ein Energieschub durchflutete meinen Körper. Der Regen würde mich nicht bekommen. Niemals! Er prasselte so laut wie noch nie. Ich hörte jeden einzelnen Tropfen in der Wand einschlagen, spürte, wie er sich weiter zu mir durchfraß. Unaufhörlich. Er wurde nicht müde, brauchte keine Pause, sondern existierte einzig und allein, um mich zu vernichten. Und doch würde ich mich ihm nicht ergeben. Vielleicht war ich der letzte Mensch auf Erden, vielleicht war ich der Letzte, der ihm noch entgegentreten konnte. Ich rührte hektisch den Mörtel an. Dann setzte ich Stein an Stein, mauerte so lange, bis keine Materialien mehr übrig waren.
Schweiß stand mir im Gesicht und ich atmete schwer, als ich die letzte Wand hochzog. Meine Matratze lehnte nun aufrecht hinter mir. Der Raum endete nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Ich hatte eine Barriere erschaffen, doch der Preis dafür war hoch, denn mir blieb kaum noch Platz für mich selbst. Es war mir nicht einmal mehr möglich, mich zu setzen. Natürlich war mir klar gewesen, dass ich meine Bewegungsfreiheit einschränkte, aber zu welchem Ausmaß, hatte die Dunkelheit, die nach der ersten Steinschicht eingebrochen war, vor mir verborgen. Schon bald schmerzten meine Beine vom Stehen und ich versuchte mich von meinen Knien tragen zu lassen, die ich dafür gegen die Wand presste. Für einen kurzen Moment verschaffte dies eine Linderung, doch nur so lange, bis auch sie nicht mehr konnten. Der Kraftakt des Mauerbaus hatte mich völlig energielos zurückgelassen. Immer wieder nickte ich kurz ein, nur um vom Schmerz in meinen Beinen aufgeweckt zu werden. Sie schrien nach einer Pause, nach der Erlösung vom Gewicht des restlichen Körpers. Die Luft in meiner Kammer schien die Lunge nicht mehr auszufüllen, fühlte sich an wie ein Vakuum. Ich sog sie ein. Mehr und mehr, bis die Leere den Brustkorb fast zum Platzen brachte. Ich war gefangen hinter meinem eigenen Schutzwall, um mich herum Tonnen von Stein. So sehr ich mich auch hin und her wand, es war unmöglich eine andere Haltung zu finden. Meine Knie drohten einzuknicken.
„Ruhig bleiben, ruhig, ruhig, ruhig.“
Ich brauchte klare Gedanken. Das Bild von der lückenhaften Wand vom heutigen Morgen kam mir in den Sinn. Löcher! In völliger Dunkelheit tastete ich die Mauer ab, doch fand nichts. Schwachstellen? Ich tastete weiter. Meine Bewegungen wurden hektischer.
„Nein, nein, nein.“
Da war nichts. Keine Lücke, kein Loch, keine Schwachstelle. Diese Mauer war mein Meisterstück. Tränen sammelten sich zu Tropfen und fielen auf den Boden. Nun blieb nur noch die Verzweiflung. Sie packte mich mit eiskalten Fingern. Schieben. Schieben. Es blieb nur die Mauer wegzuschieben. Für eine Sekunde vergaß ich alles, legte meine letzte Energie in die Arme und drückte. Sie zitterten vor Anstrengung, doch versagten. Ich war verloren. Begraben. Am Ende.
„Verdammt!“
Ein letztes Aufbäumen meines Willens, ein letzter Schrei, den die Schwärze verschluckte. Nichts. Nichts um mich herum reagierte darauf. Nur er antwortete mit jenem unnachgiebigen Rauschen. Der Regen. Hoffnung flammte in mir auf. Vielleicht würde er die Mauer zersetzen. Vielleicht würde er mich retten.
„Komm! Komm her! Befreie mich!“, schrie ich ihm entgegen.
Das Rauschen wurde leiser. Ein Schleier totaler Ruhe legte sich um mich. Die Luft fühlte sich in meinen Lungen an wie warmes Wasser. Meine Augenlider wurden schwer, ein Kampf gegen ihr Gewicht war aussichtslos. Sie fielen zu, umschlossen mich vollständig. Das gemächliche Prasseln draußen lud mich zum Ausruhen ein. Ich war so müde.