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Novemberregen
Valentine hörte die Äste wie Knochen unter ihren Füßen knacken, als sie an diesem regnerischen Nachmittag ihren Weg über den alten Friedhof abkürzte. Die Luft war feucht und faulig vom Laub, dem Sturm und dem Gewitter der letzten Nacht.
Ihr Gesicht war kaum zu sehen, versteckt hinter einem dicken Schal und einer ausgeleierten Mütze. Tiefe Falten verschwanden unter der immer noch wohligen Wärme des mit den Jahren kratzig gewordenen Kaschmirs. Einige graue Haarsträhnen klebten verräterisch an Stirn und Ohren. Früher war sie den Weg mit Brauni gegangen. Mit ihm hatte dieser Spaziergang Stunden gedauert, musste er doch jeden Baum und Stein beschnüffeln. Doch Brauni gab es schon lange nicht mehr. Seine Knochen lagen nun auch irgendwo, wo auch immer.
Ihr Leben hatte schon vor Braunis Tod angefangen, belanglos zu werden. Die Erinnerungen waren unwichtig geworden. Geister der Vergangenheit, die sie manchmal verfolgten und auf ihr lasteten wie einer dieser marmornen Grabsteine.
Valentine spürte die Nässe durch ihre Schuhe ziehen. Irgendwo an den Sohlen waren kleine Risse. Sie konnte sie kaum mehr sehen. Ihr Blick verschwamm langsam wie die späten Werke des Malers Turner. Der Regen wurde stärker und aus dem Nieseln wurde ein dichter Schleier. Valentine stand nun an der Kreuzung. Links führte der Weg zum kleinen Friedhofstor und rechts …
Ja, nach rechts war sie schon lange nicht abgebogen. Tiefer in den Friedhof hinein unter den dicht gewachsenen Tannen entlang. Valentine zögerte. Der Regen durchnässte nun auch ihren filzigen Poncho. Doch da waren sie wieder. Die Geister der Vergangenheit. Valentine verdrückte eine Träne und bog wie magisch angezogen nach rechts ab. Unter den Tannen schien der Regen nachzulassen und Valentine merkte auf einmal, wie kalt es war.
Auf diesem Teil des Friedhofs verirrte sich kaum noch jemand. Die Wege waren im Sommer bewachsen und nun im November klebten die Gräser und Wildpflanzen als rutschige Schicht am Boden. Valentines Schritt wurde langsamer und vorsichtig. Sie starrte auf den Weg und wusste doch genau, an welchem der Gräber sie stehen bleiben musste. Sie hob den Blick. Auf dem grauen Grabstein wucherte Moos und Efeuranken umrahmten ihn. Einst hatte eine kleine Figur an ihm gelehnt. Doch von dieser waren nur noch der Rumpf und ein verwitterter Kopf übrig, während Arme, Beine und Flügel zerbrochen waren. Früher war es das vornehmste Grab auf diesem Friedhof, doch nun löste es sich langsam auf. So ist es, dachte Valentine, alles vergeht, um Neuem Platz zu machen. Sie hatte an ihrem letzten Arbeitstag gehofft, dass auch sie verschwinden würde, aber das Leben klebte an ihr wie das alte Efeu an des Professors Grabstein. Valentine setzte sich auf eine morsche Bank unter den Tannen und schloss die Augen.
»Tine«, rief jemand in ihrem Kopf. Es war die Stimme der Bibliothekarin, Frau Martens. Eine gestrenge Dame mit schlohweißem Haarknoten und einem zugeknüpften, schwarzen Witwenkleid. Der alte Drache, dachte Valentine. Und dennoch war diese Arbeit eine der wenigen glücklichen Fügungen in ihrem Leben gewesen. Die Bibliothek in der Universität sollte für Jahrzehnte ihr zu Hause werden und irgendwann war sie selbst der alte Drache geworden. Valentine lachte verbittert auf, bevor sie völlig in der Vergangenheit verschwand.
»Tine, die Bücher da müssen hinten in das Regal zur antiken Geschichte«, befahl die Martens mit einer rauchigen Stimme. Jeder wusste, dass sie heimlich dem Likör zusprach und gerne Zigarillos rauchte. In dem kleinen Hinterzimmer roch es nach Kneipe. Tine rümpfte die Nase und schnappte sich die dicken Bücher. Dabei konnte sie von Glück sagen, dass sie in dieser Bibliothek untergekommenen war und keine Trümmer forträumen musste wie die anderen jungen Frauen. Bereits bei der Kinderlandverschickung hatte sich herausgestellt, dass Tine körperlicher Arbeit nicht gewachsen war. Sie war blass und schmal, die Knochen zeigten sich deutlich an Gesicht und Hüften. Ihre Nase war gebogen wie die eines Greifvogels. Die Schlüsselbeine standen vor und waren nur von einer dünnen Schicht Haut überzogen, sodass jede Kette schief hing. Nein, hübsch war Tine nicht und auch nicht aus gutem Hause. Ihre Mutter meinte, sie könne sich glücklich schätzen, wenn ein Mann wie der Josef sie heiraten würde. Josef war der Cousin ihres Cousins. Maurer von Beruf und gerade aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Eine Landmine hatte seine rechte Wange entstellt und sein rechtes Ohr zerfetzt. Das fand Tine nicht schlimm, doch irgendwie war ihr Josefs Nähe nicht angenehm. Er roch nach Zigaretten und Schmierseife. Anders konnte Tine ihre Abneigung gegen Vetters Vetter nicht beschreiben. Ihre Mutter meinte, die Liebe könne wachsen. Tine wusste nicht, was Liebe ist. Aber etwas sagte ihr, dass es mehr war, als das was ihre Mutter ihr einzureden versuchte.
Tine war an den hinteren Regalen angekommen und brachte die Bücher an die richtige Stelle. Das letzte gehörte zwischen zwei andere. Sie schob die beiden auseinander und blickte durch das Regal in ein paar dunkle, gütige Augen. Das war ihre erste Begegnung mit dem Professor.
Der Professor war ein Mann mittleren Alters, der antike Geschichte dozierte und, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise, seine Heimat ebenfalls in der Universitätsbibliothek gefunden hatte. Seit diesem Tag am Bücherregal konnte Tine es nicht erwarten, zur Arbeit zu gehen. Während sie die Bücher ein- und ausräumte, die Regale wischte, beobachtete sie den Professor an seinem Lieblingstisch. Er saß beständig vor geöffneten Büchern und schrieb sich eifrig Notizen auf. Über Nacht ließ er diese samt den dicken Schmökern liegen, um am nächsten Tag weiterzuarbeiten. Tine konnte es sich nicht verkneifen, sich nach Schließung der Bibliothek an seinen Platz zu setzen und in seinen Niederschriften zu lesen. Sie klangen so intelligent und sie musste zugeben, dass sie nur die Hälfte verstand, aber sie mochte seine Schrift und um seinen Platz hing ein angenehm erdiger Duft. Sie traute sich jedoch nicht, ihn anzusprechen. Der Professor löste warme Gefühle in ihr aus, die sie bis dahin nicht gekannt hatte.
Irgendwann kam der Professor nur noch selten. Er hatte ein Haus gebaut, eine Tochter aus gehobenem Haus geheiratet und mit dieser Kinder bekommen. So erzählte man es sich an der Universität. Für Valentine begann mit dem Verschwinden des Professors eine schwierige Zeit. Die Arbeit in der Bibliothek hatte ihren Zauber verloren, die Martens war längst verstorben und Valentine hatte ihren Platz eingenommen. Jeden Tag vermisste Valentine den Professor, wenn sie in der Hinterkammer saß und die Verwaltungsaufgaben erledigte, die eine solche Bibliothek mit sich brachte. Auf der Fensterbank standen nun Zimmerpflanzen, die einen erdigen Duft verbreiteten. Die ersten grauen Haare zeigten sich an ihren Schläfen und manchmal, da schaute der Hausmeister zu ihr rein. Er plauschte gerne mit ihr, doch seinen ungeschickten Anstalten, sie zum Tanzen einzuladen, verwehrte sich Valentine. Sie mochte seine freundlichen Worte, doch ihre Einfachheit zog sie nicht an. Abends griff sie manchmal in die Schublade. Dort lagen die letzten Notizen des Professors, die er einst in der Bibliothek hatte liegen lassen. Sie hatte sie aufbewahrt und gehofft, er würde sie eines Tages abholen, doch bei seinen wenigen Besuchen blieb er stumm.
Valentine begann ihr Haar zu einem Knoten zu binden und trug schwarze Hosen und graue Pullover. Sie scheuchte die Mädchen durch die Bücherregale, galt als streng und verschroben. Sie wusste, dass die jungen Dinger über sie tuschelten und sie ihrer Nase wegen Geierwally nannten.
Den Professor hatte Valentine aus den Augen verloren. Seine Notizen vergilbten und mit ihnen die Hoffnung, er würde eines Tages nach ihnen fragen. Irgendwann beim Gassigehen mit Brauni fand sie sein Grab. Anfangs war es hübsch hergerichtet, der weiße Engel blitzte im Sonnenschein und es standen stets frische Blumen in einer Vase. Bald jedoch kümmerte sich niemand mehr um seine Ruhestätte. Warum, das wusste Valentine nicht, und es war ihr auch gleichgültig. Die Gedanken an den Professor bereiteten ihr längst keine Wärme mehr, sondern ein Gefühl der Verbitterung. Sie hatten nicht ein Wort in all den Jahren gewechselt. Valentine mied das Grab …
… bis zu diesem regnerischen Tag im November. Valentine atmete schwer. Vielleicht hatte sie sich niemals wirklich von dem Professor verabschiedet, diesem Geist aus ihrer Vergangenheit. Sie erhob sich schwerfällig von der knarrenden Bank und ging auf das Grab zu. Sie wischte den Stein ab und entzifferte die eingemeißelten Buchstaben. Sie flüsterte leise: »Leben Sie wohl, Herr Professor.« Mit diesen Worten drehte Valentine sich um und schlich Richtung Friedhofstor. Daheim angekommen hängte sie die nassen Sachen auf eine Leine und kramte in der alten Schublade. Sie zog die vergilbten Notizblätter hervor, faltete sie zusammen und öffnete die Klappe ihres Kachelofens. So würden sie ihr ein letztes Mal Wärme schenken.
Am nächsten Tag wollte sie ins Tierheim gehen. Vielleicht würde sie dort einen Kameraden finden, der ihr Gesellschaft leisten könnte. Wenn dieses Leben schon an ihr hing wie eine Klette, dann könnte sie zumindest einem verlassenen Tier ein Zuhause schenken, dachte Valentine und setzte sich zufrieden in den Sessel neben dem Kachelofen. Schön warm war es auf einmal hier drinnen.