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Novembergeschichte
Oh, ich sehe, sie schauen in meine Tasse. Doch, der Kaffee ist noch da, ich trinke ihn nicht. Tatsächlich trinke ich ihn nie. Dennoch mag ich Kaffee, auf meine eigene Art und Weise. Das Beste am Kaffee ist, morgens durch seinen Klang geweckt zu werden. Das leise Zischen des Siedens, das stetige Crescendo, schließlich das Abfallen in lautes Blubbern, wenn der Klang des Wassers bereit ist für den Klang der Kaffeebohnen, die in einer richtigen, altmodischen Mühle gemahlen werden. Wer seinen Kaffee so zubereitet, klingt für mich nach jemandem, dem die einfachen Dinge noch wichtig sind.
Aber trotzdem trinke ich den Kaffee nicht. Sein Geschmack spricht mich nicht an. Ich sitze einfach gerne da, fühle die Wärme der Tasse in meinen Händen, so wie jetzt, und lasse den Dampf meine Nase wärmen, die vom kühlen Morgen mit einem frischen Rot überzogen wurde. Ab und zu berühren meine Lippen den Kaffee für einen kurzen Moment. Aber nur wegen der Wärme. Trinken tue ich nie.
Kaffee ist für mich wie manche Geschichten; man fühlt sie, hört sie, riecht sie – aber man schmeckt sie nicht. Die nächste Geschichte ist eigentlich eine Novembergeschichte. Sie fühlt sich an wie eine, klingt und riecht so. Eigentlich passierte sie im August. Aber in ihr steckt November. Deshalb werde ich so tun, als fände sie im November statt.
In jenem November ging ich mit meinem Vater auf Fasanenjagd. Wir waren den ganzen Tag lang durch den Wald gewandert, als plötzlich ein Fasan vor uns aus dem Gebüsch brach. Automatisch hob ich mein Gewehr und verfolgte das Tier, verfolgte seine Bewegungen, als wären wir eins. Flügel hoch und wieder runter, den Körper nach oben und vorne gestreckt, Flügel hoch und runter. Ich schlug mit meinen starken Flügeln, versuchte, so weit wie möglich von mir und meinem Vater fort zu kommen. Heute war der Tag gekommen, an dem ich sterben musste, damit sie leben konnten. Ich nahm all meine Kraft zusammen, gab alles, um zu entkommen. Dann traf mich die Schockwelle. Der Fasan war getroffen und fiel vom Himmel.
Obwohl wie den Boden stundenlang absuchten, fanden wir den getroffenen Fasan nicht. Als wir bei Anbruch der Nacht zu unserem Zelt zurückkehrten, machte mir mein Vater das, was meine erste Tasse Kaffee werden sollte. Ich hielt sie in meinen Händen, roch daran und nahm die Wärme in mir auf. So, wie ich es jetzt auch mache.
„Vater“, sagte ich, „ich habe den Fasan getroffen.“
„Ja, das hast du. Es war dein erster.“ Seine Augen blickten mich stolz an.
Ich versuchte seinen Blick zu erwidern, als ich erklärte: „Dennoch traf ich ihn nicht. Ich war derjenige, der getroffen wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, den Abzug gedrückt zu haben. Ich erinnere mich nur, dass ich flog und...“ Ich senkte den Blick, bevor ich weitersprach, „und starb.“
Die Lippen meines Vaters bewegten sich nicht, aber der Löffel in seiner Hand rührte schneller. Bis heute weiß ich nicht warum, aber als mein Vater aus seiner Tasse trank, rannte ich davon.